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Verbrechen als Massenkonsum

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„Wenn erst einmal die sozialen Ursachen der Prostitution beseitigt sind, werden die Prostituierten schon andere Ursachen finden“, mokiert sich der tschechische Aphoristiker Gabriel Laub. Setzen wir statt Prostitution Verbrechen, so präsentiert sich uns die gesamte Problematik der Wohlstandskriminalität. Zu den fundamentalen Prinzipien der modernen Sozialpsychologie gehört das Dogma, daß die Kriminalität soziale Ursachen habe, daß sie also in erster Linie materiell (Armut) oder pädagogisch bedingt sei (durch drakonische, wenn nicht gar brutale Erziehungsmethoden, die den Menschen für sein ganzes Leben verwunden). Demnach müßte bei steigendem Lebensstandard und sinkender Autorität der Erzieher die Kriminalität rapid zurückgehen.

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„Wenn erst einmal die sozialen Ursachen der Prostitution beseitigt sind, werden die Prostituierten schon andere Ursachen finden“, mokiert sich der tschechische Aphoristiker Gabriel Laub. Setzen wir statt Prostitution Verbrechen, so präsentiert sich uns die gesamte Problematik der Wohlstandskriminalität. Zu den fundamentalen Prinzipien der modernen Sozialpsychologie gehört das Dogma, daß die Kriminalität soziale Ursachen habe, daß sie also in erster Linie materiell (Armut) oder pädagogisch bedingt sei (durch drakonische, wenn nicht gar brutale Erziehungsmethoden, die den Menschen für sein ganzes Leben verwunden). Demnach müßte bei steigendem Lebensstandard und sinkender Autorität der Erzieher die Kriminalität rapid zurückgehen.

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Wenn wir uns auch von der blanken Chromfassade des modernen Wohlfahrtsstaates nicht täuschen lassen und uns über seine Unzulänglichkeiten auch durchaus im klaren sind, kann doch der rasante Anstieg des Lebensstandards auf sehr breiter, gerade die sogenannten unteren Schichten erfassender Grundlage nicht geleugnet werden. Der Prozentsatz der Notleidenden ist zweifellos in sämtlichen westlichen Industriestaaten während der letzten zwanzig Jahre erheblich geringer geworden, und die Dichte des verbleibenden Elends hat abgenommen. Desgleichen kann man gegen die moderne Erziehung vieles einwenden, jedoch der Abbau der Autoritäten und die Humanisierung der disziplinaren Methoden, ja der weitgehende Verzicht auf jede Art von Strafe kann ihr nicht abgesprochen werden. Die Voraussetzungen für eine Verminderung der Kriminalität sind also — zumindest nach den Regeln der „klassischen“ Sozialpsychologie — durchaus gegeben. In den fünfziger Jahren und — in Europa — auch noch im ersten Teil der sechziger Jahre-hat es auch tatsächlich so ausgesehen, als würden die Psychologen recht behalten.

. Der Rückschlag

Aber schon zu Beginn der letzten Dekade setzte — von Amerika ausr gehend und später auf andere Teile der Erde übergreifend — ein Rückschlag ein, der sich. gegen Ende der sechziger Jahre in besorgniserregender Weise beschleunigte und in den USA bereits ein Ausmaß erreicht hat, das fast schon einem nationalen Notstand gleichkommt. Trotzdem sind „progressive“ Psychologen nach wie vor bemüht, die „Vorurteile“ gegenüber der Kriminalität abzubauen.

Daß unter diesen Umständen die Befürchtung laut wjrd, der sexuellen Revolution der sechziger Jahre könnte in den siebziger Jahren die kriminelle folgen, durch die das Verbrechen genauso zum Massenkonsum würde wie das im abgelaufenen Jahrzehnt mit der Sexualität der Fall war, ist nicht weiter erstaunlich. Hatte es doch mit der „Blüte“ der

Sexualität ebenso begonnen: Unter einem Trommelfeuer von „Aufklärung“ trat eine Vorhut von Sexual-„Amateuren“ zum Angriff an, indem sie aus freien Stücken jene Exzesse pflegten, die früher nur „Professionals“ der Erotik — und die nur gegen bare Bezahlung — ausübten. Das Ergebnis ist bekannt. Wird in den siebziger Jahren das gleiche mit der Kriminalität geschehen? Das Überhandnehmen von „Hobby-Verbrechen“ läßt Schlimmes ahnen. Daß diese Prognose nicht unbedingt übertrieben sein muß, lassen schon heute die Zustände in den USA erkennen.

Drei Morde täglich

Allein in New York City zum Beispiel ereigneten sich im abgelaufenen Jahr rund 1000 Morde, ein „Erfolg“, den die Bundeshauptstadt Washington mit ihren ganzen 700.000 Einwohnern bei weitem überbietet. Sie hatte 1969 mit fast 300 Morden und

über 7000 Raubüberfällen — um fast 50 Prozent mehr als 1968 — aufzuwarten. Die vor gar nicht langer Zeit eher verschlafene Beamten- und Pensionistenstadt ist heute zur „Kapitale des Verbrechens“ geworden.

Um die Situation plastischer zu machen: Allein in Washington wurde im Vorjahr im Durchschnitt alle 30 Stunden ein Mord begangen, 20mal täglich ein Raubüberfall ausgeführt und jeden Tag eine Frau vergewaltigt. In ganz USA mit den 200 Millionen Einwohnern wurden im abgelaufenen Jahr sieben Verbrechen pro Minute begangen, und die Hälfte der Amerikaner wagt sich bei Nacht nicht mehr auf die Straße. Die Kriminalität im eigenen Land fordert von den Amerikanern schon einen höheren Blutzoll als der Krieg in Vietnam — was kein Argument für den Krieg, wohl aber eines gegen die Kriminalität ist. Was immer wir gegen den Durchschnittsamerikaner einwenden mögen, wir können der „schweigenden Majorität“, die sich in letzter Zeit kräftig zu rühren beginnt, angesichts dieser Sachlage ihre Unruhe wohl kaum verargen. Seit ungefähr zwei Jahren fährt auf allen New Yorker U-Bahn-Zügen nach Büroschluß ein Polizist mit. Dennoch riskieren in der Nacht nur wenige Leute eine Fahrt mit der „Met“. Niemand wagt sich mehr mit Schmuck oder größeren Geldbeträgen auf die Straße. Es gibt kaum noch einen Menschen in der Riesenstadt, der nicht selbst das Opfer eines Raubüberfalles, Einbruchs oder Diebstahls geworden wäre

oder ein solches Opfer in seiner nächsten Verwandtschaft oder Bekanntschaft hat. Die meist beschäftigten Handwerker in New York sind heute die Installateure von Alarmanlagen in Wohnungen. Diese gehören dort beinahe schon zur Selbstverständlichkeit. Soweit die heutige Situation. Wer den Amerikanern zu Beginn der sechziger Jahre, als sie zuversichtlich zu „Neuen Grenzen“ und zur „Großen Gesellschaft“ aufbrachen, ein solches Finale der Dekade prophezeit hätte, würde wohl kaum eine Chance gehabt haben, für normal zu gelten.

Wohnhäuser werden Festungen

Gegenüber dem, was angeblich in den siebziger Jahren zu erwarten sein wird, nimmt sich der heutige Zustand noch wie eine Idylle aus. Fände sich die folgende Voraussage in irgendeinem Sensationsblatt, man könnte darüber hinweggehen. So aber ist sie dem jüngsten Report der Nationalen Kommission zur Erforschung von Gewalttätigkeit entnommen, der auf Erhebungen in den siebzehn größten Städten des Landes fußt:

Demnach werden bald die Wohnhäuser der Innenstadt zu befestigten Bastionen ausgebaut werden müssen, während die Slums komplett dem Terror der Kriminellen anheimfallen und vielleicht überhaupt der Kontrolle der Polizei entzogen werden. Bewaffnete Milizen werden alle öffentlichen Einrichtungen — wie Schulen, Bibliotheken und Spielplätze — sichern müssen. In den Vorstädten wird der Waffenbesitz allgemein sein, bewaffnete Bürgerpatrouillen werden für ausreichenden Schutz sorgen müssen. Nur schnelle, von Streifen dauernd kontrollierte Autobahnen — und dort speziell Autobusse — sowie Züge mit schußfestem Glas und Panzerplatten werden — von Bewaffneten- gesichert — die Verbindung mit den Stadtzentren aufrechterhalten. Ist es unter solchen Umständen erstaunlich, wenn heute die Polizei

in den USA da und dort „hart durch, greift“? So verständlich — wenn auch nicht zu billigen — das hart Durchgreifen in manchen Fällen sein mag, so ist es letzten Endes doch nur ein Beruhigungsmittel, das den Krisenherd nicht zu beseitigen, die soziale Krankheit nicht zu kurieren vermag.

Und in Europa?

Wenn auch die antisozialen Kräfte in Amerika stärker sein mögen als in Europa, so kann die Kriminalität hier gleichfalls „schöne“ Erfolge verbuchen. Auch vor Österreich, das sich gern seiner Windschattenstellung gegenüber außerordentlichen Zeiterscheinungen rühmt, hat die Entwicklung nicht haltgemacht. Wenn sich allein in Wien die Zahl der Diebstähle, Einbrüche und Raubüberfälle von 3000 im Jahre 1958 auf 20.000 Fälle 1968 gesteigert — also in zehn Jahren fast versiebenfacht — hat, wenn hier im Durchschnitt ein Verbrechen alle zwölf Minuten und jeden Tag ein Raubüberfall stattfindet, so bleibt Wien damit zwar noch merklich hinter dem amerikanischen Durchschnitt zurück, hat aber darin durchaus schon Weltstadtniveau erreicht. Die Gesamtzahl der Verbrechen in Österreich stieg von 37.000 im Jahr 1958 auf 93.000 zehn Jahre später an. Sie hat sich also in der kritischen Dekade verdreifacht.

Die Situation in den Oststaaten

Sie ist mangels brauchbarer Statistiken nicht durchschaubar. Die Zeitungen veröffentlichen kaum Kriminalberichte über die eigenen Länder — dafür um so eifriger Berichte über Verbrechen im Westen. Nur hie und da wird sehr gezielt der Schleier ein wenig gelüftet — sei es, um die Unfähigkeit irgendwelcher Persönlichkeiten oder Organisationen anzuprangern, sei es, um an Hand eine schon aufgeklärten Falles dem Publikum „Verbrechen lohnt sich nicht“ einzureden — zumindest was die sozialistischen Staaten betrifft... Vermutlich hat der Osten die Kriminalität tatsächlich etwas besser im Griff — einfach weil mehr Polizei mit größeren Befugnissen vorhanden ist und weil das bei weitem höhere Strafausmaß doch die im Westen gern geleugnete abschreckende Wirkung nicht ganz verfehlen dürfte. Es wird freilich auch dem Westen — besonders den USA — auf die Dauer nichts anderes übrig bleiben, als für die Verbrechensbekämpfung mehr Bewegungsspielraum zu gewähren, gerade um die Persönlichkeitsrechte der Staatsbürger zu schützen, die seitens der Kriminellen vielfach schon am akutesten gefährdet sind. Daß hier sehr vorsichtig vorgegangen werden muß, um Mißbrauch zu verhindern, steht außer Frage. Mit dem „Durchgreifen“ allein ist es freilich nicht getan. Es werden auch jene ideellen Voraussetzungen, die heute der Kriminalität moralischen Vorschub leisten, neu durchdacht werden müssen. Von der schönen Illusion, daß durch Beseitigung der sozialen Ursachen auch die Kriminalität beseitigt werde und daß die Hebung des Lebensstandards, so dringend notwendig sie aus humanitären Gründen ist, allein schon genügt, um dem Verbrechertum zuzusteuern, werden wir allerdiings Abschied nehmen müssen.

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