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„Verdammt in alle Ewigkeit?“

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Wie sich die Bilder gleichen! Wer wird jemals jene Abendstunde des 12. September 1938 vergessen, da aus dem Radio die schrille Stimme Hitlers gellte: „Ich spreche von der Tschechoslowakei.“ Mit diesem Augenblick begann der Untergang der Moldaurepublik. Sie hatte eine Riesenarmee und ein großes Befestigungsnetz, sie hatte Frankreich und Rußland als Verbündete und noch Rumänien und Jugoslawien dazu. Aber alles erwies sich als vergeblich. Hitler verfügte in der CSR über eine Fünfte Kolonne, den Großteil der fanatischen Sudetendeutschen. Er nützte das schlechte Gewissen der Entente aus, die im ersten Weltkrieg den Slogan vom Selbstbestimmungsrecht der Völker erfunden und dann nicht erfüllt hatten. Er schreckte Europa mit dem Hinweis, die Tschechoslowakei sei ein Flugplatz des Kommunismus, von dem aus Europa unterminiert werden solle. Und er schreckte Europa mit dem Hinweis auf die Greuel eines Krieges, den er selbst nicht scheute. Was kommen mußte, kam: Eine Kapitulation, die am 29. September in München die Großmächte über den Kopf der Tschechoslowakei vereinbarten und die ihr ein Riesengebiet raubten und Hitler praktisch die Chance gab, auch die restliche Tschechoslowakei zu liquidieren. Zwar erklärte Hitler Anfang Oktober in Krumau, daß er keine Tschechen im „Reich“ haben wolle. Wer Hitler kannte, wußte, das dies eine glatte Lüge war, und so kam denn im März 1939 die zweite Kapitulation, die nur noch die Rudimente eines tschechischen Staates unter dem Titel eines Protektorates, das kaum eine nationale Mindestexi- etenz ermöglichte, überließ.

Wie sich die Bilder gleichen! SO Jahre nach diesem München marschiert wieder ein großes Reich gegen die Moldaurepublik. Nur ist es diesmal nicht Deutschland, sondern Rußland, in dessen Gefolge sich, wie damals vor 30 Jahren, Ungarn und Polen befinden. Wie 1938 Hitler behauptete, die CSR sei ein Flugplatz des Kommunismus, so behauptet heute Rußland, die CSSR sei Flugplatz des Westens. Ähnlich wie Hitler 1938 behauptete, daß die CSR ein Waffenlager Rußlands sei, so wird heute behauptet, daß in der CSSR westeuropäische Waffen gefunden wurden. Ähnlich wie Hitler eine Fünfte Kolonne in der CSR besaß, so besitzt dies auch heute Rußland, es sind dies die Anhänger Novotnys, und deren Zahl ist nicht so gering, wie viele meinen. Fallen doch alle Funktionäre darunter, die in der vergangenen Ära an den Hebelarmen der Macht saßen und di Felle des „süßen Lebens“ davonschwimmen sahen und außerdem wissen mußten, daß sie ihr Leben nicht mehr meistern werden können, da sie außer einer politischen Überzeugung kein Wissen besitzen.

1938 hatte die Tschechoslowakei Verbündete, die sie im Stich ließen, heute hat sie Verbündete, die sich gegen sie stellen. 1938 schrieben britische Parlamentarier besorgte Briefe an den deutschen Botschafter, 1968 schrieben wieder britische Parlamentarier besorgte Briefe an den russischen Botschafter. Die Wirkung dieser Briefe vom Jahr 1968 dürfte ähnlich sein wie jene vom Jahr 1938, nämlich gleich Null. 1938 versicherte die ganze Welt der Tschechoslowakei ihre Sympathie. Es wurden großartige Reden geschwungen und die Presse brannte in gewohnter Weise ihre Feuerwerke ab. Auch jetzt werden glänzende Rede gehalten und herrliche Leitartikel geschrieben. Die Bilder gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Und man erstarrt fast, wenn man sich ausrechnet, was geschehen muß, im Vergleich zu dem, was 1938 geschah.

In diesen Tagen besuchte mich der Sohn eines Prager Freundes, nennen wir ihn Jan. Er kam von Italien mit seiner Frau zurück, wo sie an irgendeinem technischen Kongreß teilnehmen konnten. Jan war 1939 in Prag geboren, zu einer Zeit, als Hitler schon die Rest-Tschechoslowakei besetzt hatte. 1945, als Benes zurückkehrte, war er sechs Jahre, als die Kommunisten die Macht ergriffen, neun Jahre. Sein Vater, ein Arzt, aus einer alten Bourgeois-Familie, mit einem hochkapitalistischen Denken, wurde in der Protektoratszeit aus Haß gegen Hitler Kommunist. Das ermöglichte Jan das Hochschulstudium, denn nur Kinder von kommunistischen Parteimitgliedern und jene, die den Prolet-Arier-Nachweis erbringen konnten, durften durch lange Zeit hindurch als einzige an Hochschulen studieren. Seine Frau kam aus kleinen Verhältnissen und konnte diesen Nachweis erbringen. Er studierte Elektrotechnik, sie Chemie. In der Mittelschule hatte er als einzige Fremdsprache Russisch gelernt, bei einer alten Tante etwas Deutsch. In seinem Elternhaus wurde nie von Religion gesprochen. Als er mich besuchte, schoben sich schon die Schatten über seine Heimat und wir sprachen natürlich von den Möglichkeiten, die sich ergeben könnten. „Ja“, sagte Jan, „wir sind wohl verdammt in alle Ewigkeit, dieses Spiel weiterzuspielen. Einmal werden uns die Deutschen schluk- ken und einmal die Russen. Der alte Palacky hat es uns vorausgesagt, was eintreten wird, wenn das Donaureich zerstört werden wird.“

Ich mußte an die vielen Österreicher denken, die hysterisch werden, wenn man das Wort „Donaumonarchie“ oder gar „Habsburg“ ausspricht, und die so tun, als ob Österreich keine Vergangenheit hätte. Eine Vergangenheit, aus der man für die Zukunft lernen kann, denn die

Weltgeschichte ist noch immer das große Weltgericht.

Während des ersten Weltkrieges sagte einmal Smeral, der Führer der tschechischen Sozialdemokraten (er ging nach 1918 nach Moskau und wurde Kommunist): „Die Politik Masaryks — die auf die Zerstörung Österreichs abzielt — wird uns einen neuen Weißen Berg bescheren.“ Er ahnte nicht, wie bald seine Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte.

1618, vor genau 350 Jahren, war der berühmte Prager Fenstersturz erfolgt, und mit dem Hinauswurf der kaiserlichen Statthalter aus der Prager Burg sollte die ganze Verbindung mit Österreich zerstört werden. Die Folge war die schauerliche Niederlage der böhmischen Stände am

Weißen Berg, am 8. November 1621. Im Jahre 1918 war wieder ein Prager Fenstersturz erfolgt. Wieder wurde die Verbindung der Länder des alten Donaureiches untereinander gelöst. Kleinliche nationaldeutsche Schikanen hatten den Tschechen immer wieder die nationale Gleichberechtigung verweigert, engstirnige magyarische Gentrypolitik hatte das Werden eines böhmischen Staates innerhalb der Donaumonarchie verhindert. So kam dieser „Fenstersturz“ nicht von ungefähr. Aber auf ihn folgte doch wieder ein „Weißer Berg“, die Kapitulation der Tschechoslowakei in München. Palackys Weissagung hatte sich zum erstenmal erfüllt.

„Jetzt wird sich dieses Spiel immer wiederholen“, sagte mein kleiner Freund, „und wir werden verdammt sein in alle Ewigkeit.“

Im Februar 1948, als sich die Umwandlung der Tschechslowakei in eine Volksdemokratie vollzog, schrieb die „Furche“: „Jetzt, da das tschechische Volk versucht, sich dem Osten anzuschließen, wird es ganz in dessen Totalität gezwungen. Bedeutet dies ein endgültiges Abschiednehmen vom Abendland? Aber es gibt kein Abschiednehmen von jenen Gesetzen des Abendl&ndes, die ewiges Gut aller Menschen sind. Böhmen ist durchtränkt vom Abendland. Das tschechische Volk wird es nie mehr ablegen können. Nur mitnehmen kann es und hinübertragen, um damit andere zu erfassen. Wird dies vielleicht jetzt seine Aufgabe sein, der Sinn kommender Geschichte?“

Diese Prophezeiung war jetzt tatsächlich in Erfüllung gegangen. Der Virus der Freiheit hatte den Ostblock von Prag aus ergriffen. Und hier setzte nun der erbitterte Widerstand Rußlands ein, vor allem wahrscheinlich der russischen Militärs.

1789 und 1848, als ganz Europa brannte, waren nur zwei Länder völlig ruhig: England und Rußland. Im Zeitalter der Französischen Revolution konnten in England die Ideen der Freiheit und Gleichheit nicht zünden, denn dank seiner Verfassung war es auf dem besten Weg, sie legal zu verwirklichen. Und Rußland sperrte sich nicht nur hermetisch gegen diese Ideen ab, sondern bekämpfte ununterbrochen die Französische Revolution und deren Handlanger Napoleon. 1848 hatte England bereits weitgehend die Ideen

Photo: Vofava der Gleichheit und Freiheit verwirklicht, Rußland aber sperrte sich wieder hermetisch ab und bekämpfte einen der größten Helden der 48er- Revolution, den Magyaren Ludwig Kossuth. 1968, als ganz Europa wieder in Bewegung geriet, waren es wiederum England und Rußland, die völlig unberührt von diesen Strömungen, die Europa erschütterten, schienen.

Rußland hat die Französische Revolution bekämpft und hat Kossuth bekämpft, es bekämpft jetzt die Ideen, die von der Tschechoslowakei beginnen, in den Ostblock auszustrahlen. Und dieser Virus ist gefährlich. Er kann den ganzen Ostblock erschüttern. Rußland braucht Ruhe und kein auseinanderfallendes Imperium. Um diese Ruhe zu bewahren, war Rußland bereit, viele Konzessionen zu machen. Es ließ den Sieg de Gaulles zu, weil ihm de Gaulle ein viel sicherer Bauer im Schachspiel ist als ein kommunistisches Frankreich. Es läßt die Rumänen die Extravaganzen einer außenpolitischen Kavalierstour durchexerzieren, vorausgesetzt, daß sie im Innern stramm in der alten Richtung marschieren. Aber was in der Tschechslowakei geschieht, das rührte an die Grundlagen und konnte den ganzen Ostblock in die Luft sprengen. Denn wenn diese Ideen der Freiheit auch Ostdeutschland ergriffen, dann müßte das Ulbricht-Regime zusammenbrechen und die Einigung Deutschlands könnte nicht mehr verhindert werden. Und ein solches geeintes Deutschland wird nach den russischen Phantasien wieder ein furchtbares Werkzeug in den Händen eines neuen Hitler. Und dies fürchtet Rußland wie die Pest. Denn es hat genug Sorgen mit dem Reich des anderen Hitler an der Ostgrenze Rußlands, mit Mao, der kein Kommunist, sondern ein reiner Nationalsozialist Ist und der in diesem Frühjahr und Sommer zeigte, wie weit seine Fäden nach Europa reichen.

Hitler sprach 1938 von der Befreiung der unterdrückten Sudetendeutschen und von der kommunistischen Gefahr für Europa. In Wirklichkeit war ihm das Schicksal der Sudetendeutschen völlig gleichgültig. Er brauchte diie tschechischen Waffen, die böhmische Industrie und die Rekruten aus den Reihen der Sudetendeutschen. Und er brauchte den Besitz Böhmens, denn er kannte nur zu genau das Wort Bismarcks, „Wer Böhmen besitzt, ist der Herr Mitteleuropas“. Hitler wußte auch zu genau, daß der Weg nach Polen und nach Osteuropa leichter sein werde, sobald er einmal Böhmen in den Händen hätte.

Heute sagt Rußland, es könne nicht zulassen, daß der Sozialismus in der Tschechoslowakei verwässert und verändert werde. Aber in Wirklichkeit geht es auch ihm um den Besitz Böhmens, denn auch die russischen Militärs kennen nur zu genau das berühmte Wort Bismarcks. Sie können nicht Böhmen aufgeben, um nicht ihren Fuß aus Mitteleuropa herauszuziehen. Und sie können nicht zulassen, daß dieser Virus der Freiheit den ganzen Ostblock ergreift und das System des Kommunismus erschüttert. Einen Unterschied allerdings gegenüber 1938 gibt es heute: Hitler zwang den Militärs seine Handlung auf, und wäre seine Politik fehlgeschlagen — das wissen wir heute —, dann hätte die Reichswehr gegen ihn geputscht. Heute sind es wahrscheinlich die russischen Militärs, die den Politikern im Kreml die Handlungsweise vorzeichnen.

Viele Europäer geben sich der Hoffnung hin, daß die Gespräche zwischen den Russen und den Tschechen Gespräche zwischen kommunistischen Freunden sind. Sie vergessen, daß Russen immer russische Politik betreiben, gleichgültig, ob sie von einem weißen oder einem roten Zaren regiert werden.

Was wird nun kommen?

Es ist schwer, Voraussagen zu machen, und da diese Zeilen in Druck gehen, ist offiziell noch nichts entschieden. Eines ist sicher:

Die Russen sind klüger als Hitler (was nicht sehr schwer ist). Sie werden es niemals auf eine offene Kapi-tulation ankommen lassen, sondern den Tschechen das Gesicht wahren. Aber hinter verschlossenen Türen wird es wahrscheinlich zu einer versteckten Kapitulation kommen. Was sollen die armen Tschechen tun? Sie haben keine Verbündeten außer den besorgten Briefen einiger britischer Parlamentarier und den glänzenden Leitartikeln einiger Journalisten.

„Masaryk wird uns einen neuen Weißen Berg bereiten“, sagite Smeral 1917. „Wir werden wohl verdammt sein in alle Ewigkeit, dieses Spiel fortzuspielen“, sagte mein kleiner Freund Jan. „Denn das alte Österreich, das uns einmal beschützt hat, besteht nicht mehr und wird nie mehr bestehen.“

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