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Vereintes Versagen

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Stalins Vermächtnis, von Molotow treu verwaltet, wurde nun auch von Jakob Malik über Anweisung der sowjetischen Regierung zu einem neuerlichen Tiefschlag gegen das Völkerrecht genützt. 20 Jahre, nachdem „MiStör NjdtB1tfer WeItÖbganife'ä" tion anläßlich ihres dreijährigen Bestehens das 28. Veto der UdSSR als Geburtstagsgeschenk präsentiert hatte, verhinderte derselbe friedliebende Staat mit dem 105. Veto die eigene offizielle Verurteilung. Damit wurde wieder einmal mit erschrek- kender Deutlichkeit vor Augen geführt, daß die einzige vom Sicherheitsrat der UNO gewährleistete Sicherheit das Festhalten an einer Politik der Gewalt seitens der Großmächte ist. Der Sicherheitsrat stellt nun einmal ein Grenzorgan dar und kann von niemandem mehr ernstlich zur Rechenschaft gezogen werden. Wir stehen vor dem traurigem Faktum, daß gerade an der Schwelle vom Recht zur Moral politische Willkür zur Vergewaltigung beider Werte auf der Tagesordnung stehen.

Die Jalta-Formel vom 11. Februar 1945, die dem Abstimmungsmodus des Art. 27 der UN-Charta zugrunde liegt, war die Forderung des gewiegten georgischen Taktikers Josef Dschugaschwili, eine Prämisse für das Zustahd&köiflmeti der UNO, zugleich aber auch eine untilgbar

gleich aber auch eine untilgbar scheinende Hypothek für eine wirksame Erfüllung der Aufgaben des Sicherheitsrates. Zieht man nach 23 Jahren die Bilanz über die Aktionen dieses Gremiums, leuchten in roter Schrift die Namen: Korea, Israel, Ungarn, Vietnam, Biafra und nun auch CSSR; anders ausgedrückt: in keinem Konflikt, an dem eines der fünf ständigen Mitglieder des „Se- curity-Counoil“, glaubt politische Interessen wahren zu müssen (dies ist naturgemäß leider die überwiegende Zahl aller Krisen), ist von diesem Forum jemals eine befriedigende und dauerhafte Lösung zu erwarten. Als Aktivposten können mit Nachsicht aller Taxen der Kongo, Indonesien und Zypern angeführt werden.

Puppenbühne der Vasallen

In der augenblicklichen Situation haben die Vereinten Nationen außer ihrer verfassungsmäßigen Bürde eine hoffentlich vorübergehende persönliche: nachdem von 1946 bis 1953 mit dem Norweger Trygve Lie und dann bis 1961 mit dem Schweden Dag Hammarskjöld zwei profilierte Persönlichkeiten, deren Wort in Ost und West Gewicht hatte, den höchsten internationalen Beamtenposten bekleideten, macht seit sieben Jahren der zumindest politisch farblose Burmese U Thant als Generalsekretär keine glückliche Figur. Nicht wenige Experten kreiden ihm den vorjährigen Sinai-Krieg als persönliches Versagen an: die so ziemlich einzige Initiative, plötzlich und ohne Rük- kendeckung gestartet, stellte sich als Mißgriff mit weitreichenden Folgen heraus. In den letzten Tagen brök- kelte sein angeschlagenes Prestige weiter ab, als er die ihm auferlegte Unabhängigkeit des Art. 100 der Charta in Untätigkeit ausarten ließ. Und statt nach Prag zu fahren, sagte er lieber seinen bereits vor der Intervention angesagten Besuch ab.

Von den politischen Veränderungen nahm man seitens der UNO in seltsamer Weise Notiz; einerseits ermöglichte die Weltorganisation in ihrem Streben nach Universalität jedem souverän gewordenen Staat die Aufnahme, anderseits entsprechen die großen fünf ständigen Mit-

glieder des Sicherheitsrates bei weitem nicht mehr den tatsächlichen Großmachtverhältnissen: ob man nun Rotchina die Qualifikation als friedliebender Staat, der die Verpflichtungen aus der Charta zu erfüllen gewillt ist, wie Art. 4 als Rezeptionsbedingung statuiert, zubilligt, sollte nicht das Hauptkriterium bilden: die jüngsten Ereignisse in unserem nördlichen Nachbarstaat haben wieder deutlich in Erinnerung gerufen, daß die Liebe zum Frieden die Barriere der „politischen Notwendigkeit“ nicht zu überwinden vermag. Neben den USA und der UdSSR spielen in der UNO formell die Repräsentanten eines zitternden Häufleins Nationalchinesen, des im wahrsten Sinne des Wortes herabgewirtschafteten Großbritannien sowie letztlich eines die Schaukelpolitik der Entwicklungsländer verfolgenden Frankreich die erste Geige. Der Traum längstvergangener glorreicher Zeiten soll gerade vor dem dazu denkbar ungeeignetsten Forum dem völkerrechtlichen Grundsatz der Effektivität nicht weichen können?

Mangelnde Souveränität

In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, daß dem Erfordernis der Souveränität ein realitätstreuer Maßstab angelegt werden müßte, der wiederum zu einem anderen Kräfteverhältnis in

den Vereinten Nationen führen würde. Während man einem beliebigen afrikanischen Staat das Merkmal der Souveränität nicht absprechen kann, da dieser zum Beispiel seine Innen- und Außenpolitik frei nach opportunistischen Erwägungen ' des

jeweiligen Machthabers gestaltet, hat das tragische11 Beispiel'dd '1 CSS'S wieder den Beweis erbracht: von Jugoslawien und eventuell auch Rumänien abgesehen, die das Risiko einer von äußeren Kräften unabhängigen Politik auf sich genommen haben, fehlen den anderen Staaten des Ostblocks die entscheidenden Bestandteile der vollen Selbstregierung! Hinter den üblichen Bezeichnungen „Satellit“, „Vasall“ oder „Trabant“ verbirgt sich mehr als die Tatsache einer politischen Hörigkeit: wie auf einer Puppenbühne hält Moskau die Fäden in der Hand, strafft und lockert sie nach Gutdünken; diesen scheinsouveränen Staaten bleibt formell zwar eine Selbstregierung, in Wahrheit erfolgt die Gesetzgebung (Zensur-, Ein- und Ausreisebestimmungen) in Moskau.

Eine weitere Diskussion wird die tschechoslowakische Tragödie im Zusammenhang mit dem neuerlichen Versagen der UNO wieder aufleben lassen: die um den Rechtscharakter des Völkerrechts. Kann ein Koordinationsrecht, dem es an einer den Normadressateri übergeordneten wirksamen Macht mangelt, noch als solches bezeichnet werden? In der Vergangenheit wurde diese Frage von keinen geringeren Wissenschaftlern als Thomas Hobbes, Baruch de Spinoza und John Austin verneint. Symptomatisch für diese Auffassung bietet sich die Lehre des sowjetischen Völkerrechtlers Tunkin, eines der ideologischen Untermaurer von Chruschtschows Koexistenzpolitik, an: Tunkin unterscheidet zwischen notwendigem Völkerrecht, durch das sich auch die Sowjetunion gebunden fühlt, und gewolltem Völkerrecht, das die Sowjets nur'nach ausdrücklicher Anerkennung ihrerseits bindet. Wie traurig wäre es um einen Rechtsstaat bestellt, könnte ein Kapitalverbrecher, angeklagt wegen Anstiftung zum Mord, Totschlag, Erpressung und Entführung, die Zuständigkeit eines Gerichtes bestreiten und sich mit dem einfachen Mittel des „Veto“ vor ieglicher Verantwortung drücken. Der Hinweis auf eine überirdische Gerechtigkeit würde wohl einen schwachen Trost für die Rechtsgemeinschaft darstellen — der Völkergemeinschaft aber genügt sie anscheinend.

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