6545565-1947_13_07.jpg
Digital In Arbeit

Vererbungslehre — eine Pseudo-wissenschaft?

Werbung
Werbung
Werbung

Vererbungslehre — eine nazistische Pseudowissenschaft? Dieser Verdächtigung begegnen wir noch oft. Kein Wunder — hat doch die breitere Öffentlichkeit durch Jahr hindurch diese Wissenschaft und die verwandten Gebiet der Erbhygiene und der Rassenkunde nur durch die Brille der politischen Propaganda des Dritten Reiches zu sehen bekommen. Beim Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Vererbungsforschung 1938 in Frankfurt am Main erklärte der führende deutsche Anthropologe Professor Eugen Fischer in einem öffentlichen Vortrag: „Die Zusammenhänge zwischen Vererbung, Rasse und der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus hat der Führer intuitiv erfaßt und es ist einzig und allein Aufgabe der deutschen Wissenschaft, diese intuitiv erfaßten Zusammenhänge wissenschaftlich zu untermauern.“ Das war Verrat an der Wissenschaft. Vererbungslehre und Rassenkunde sind Naturwissenschaften, also reine Erfahrungswissenschaften, die niemals auf weltanschaulichen oder politischen Voraussetzungen aufgebaut werden können. Umgekehrt knn sich eine Weltanschauung niemals rein auf Grund von erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen bilden — wie dies der Nationalsozialismus fälschlich von sich behauptete —, sondern nur auf Grund einer glaubensmäßigen Vertrauensentscheidung. Jede Weltanschauung, die behauptet, auf erfahrungswissenschaftlichen Erkenntnissen zu beruhen, führt durch „Gleichschaltung“ dieser Wissenschaften zu deren Vergewaltigung.

Wenn ein Forscher vom Rang Eugen Fischers, der selbst in seinen klassischen Arbeiten über die Rehobother Bastarde die Gleichwertigkeit der Menschenrassen erwiesen hat, eine solche Äußerung tun konnte, so beweist dies einen kaum glaublichen Grad von geistiger Verblendung durch die politischen Leidenschaften. Von dieser Verblendung waren Tausende befangen, sofern sie nicht einfach zynische Nutznießer eines Systems waren, das unter dem Deckmantel einer Scheinwissenschaft das Schlagwort von Blut und Rasse dazu verwendete, die nationalen Leidenschaften seiner Anhänger ins Maßlose zu steigern, einen Teil der Bevölkerung zu berauben und zu vernichten und andere Völker zu unterdrücken. Diese „Ämter“ spielten im Dritten Reich eine große Rolle. Für die wirkliche wissenschaftliche Vererbungsforschung wurde wenig getan.

Wir müssen heute diesen aufstrebenden und hoffnungsvollsten Zweig der Biologie von dem Odium reinigen, das ihm unverschuldet anhaftet. Seine Pflege sollte eine wesentliche Rolle bei der vielgenannten „Umerziehung“ zu demokratischem Denken spielen, denn hier müßte dem für alles Naturwissenschaftliche sehr empfänglichen Menschen von heute gezeigt werden, was wirkliche Wissenschaft ist und was politisches Schlagwort. Während der Kriegszeit hat die Vererbungsforschung in Amerika und England einen ungeheuren Aufschwung genommen und nimmt dort im medizinischen und naturwissenschaftlichen Studium einen hervorragenden Platz ein. Auch in der Sowjetunion wird sie in größtem Maßstab gepflegt. Wir haben hier viel nachzuholen.

Seit P. Gregor Mendel seine geniale Hypothese von den Erbfaktoren und ihrem gesetzmäßigen Verhalten bei Rassenkreuzungen aufgestellt hat, oder besser seit der Wiederentdeckung der zunächst verkannten Mendelschen Regeln im Jahre 1900, ist die Vererbungslehre zu einem umfangreichen selbständigen Wissenszweig geworden. Wir wissen heute, daß die Chromosomen des Zellkerns bei Pflanzen, Tieren und Mensch die Träger der Erbanlagen sind und daß die Gene, die stofflichen Grundlagen der Erbanlagen, in diesen Chromosomen in linearer Anordnung vorhanden sind. Wir können bei den eingehend bearbeiteten Versuchstieren und Versuchspflanzen „Chromo-somenk irten“ entwerfen und die Zahl und Anordnung der Gene, die zusammen die Erbmasse bilden, nachweisen Wir wissen, daß die Gene mit einer bestimmten Häufigkeit sprunghafte Änderungen ihrer Erbwirkung, Mutationen, zeigen und daß die Häufigkeit dieser Mutationen, nicht abei ihre Eigenart, durch Bestrahlung mit Röntgen- und ähnlichen Strahlen bedeutend gesteigert werden kann. Die „Strahlen^ene-täk“ lehrt uns aus den Beziehungen zwischer

Strahlungsdosis und Mutationsrate, daß die Gene einzelne, wenn auch sehr große Moleküle sind und wir haben in diesen Genen die letzten Einheiten des Lebenden zu erblicken.

Die moderne Vererbungslehre wirkt belebend und anregend auf alle anderen biologischen Disziplinqp. Wir wissen, daß nicht „Eigenschaften“ vererbt werden, sondern „Reaktionsnormen“, deren Zusammenspiel und deren Beziehung zu Umweltbedingungen Gegenstand der Physiologie sind. Die Abstammungslehre, bisher ein Gebiet vorwiegend theoretischer Überlegungen und Kontroversen, kann erst auf Grund der modernen Vererbungslehre darangehen, ihre Fragenkomplexe experimentell zu bearbeiten, und hat dies in einzelnen Teilgebieten schon mit Erfolg getan. Der Sortenzüchtung in Pflanzenbau und Viehzucht eröffnen sich die reichsten Möglichkeiten. In der Hand des Vererbungsforschers liegt sein Versuchsobjekt wie Wachs in der Hand des Künstlers. Besonders aussichtsreiche Aufgaben harren der angewandten Genetik auf dem Gebiet der technisch wichtigen Pilze und Bakterien, deren Hochzucht zu einer wesentlichen Rationalisierung und Bereicherung vieler Produkttonsverfahren führen könnte.

Die Erbforschung beim Menschen ist in Anbetracht der methodischen Schwierigkeiten noch nicht sehr weit gediehen. Soviel wissen wir, daß die grundlegenden Erscheinungen und Regeln der Vererbung auch beim Menschen ihre Gültigkeit haben. Der Erbgang mancher krankhafter Abweichungen ist aufgeklärt. Die Frage der Vererbung geistiger Anlagen, für uns begreiflicherweise besonders interessant, kann noch nicht scharf genug umrissen werden und bedarf noch umfangreicher Untersuchungen mit besonderen Methoden. Die „Erbgesundheitspflege“, im Dritten Reich zu einem politischen Kampf- und Propagandamittel aufgebauscht, ist zu einem ernsten, wenn auch nicht dem wichtigsten Kapitel der Sozialhygiene geworden. Sie hat in der Gesetzgebung. skandinavischer und amerikanischer Staaten Berücksichtigung gefunden und verdient unsere Aufmerksamkeit, wenn wir auch die Brutalitäten und Auswüchse des vergangenen Regimes in dieser Richtung ablehnen.

Auf dem Gebiet der Vererbungslehre tut die Wissenschaft ihre Pflicht, um der Menschheit die Mittel zu richtiger Naturerkenntnis und zu einer friedlichen Besserung ihrer Existenzbedingungen in die Hand zu geben. Ob diese Mittel zum Glück oder zum Verderben der Menschheit Verwendung finden werden, darüber liegt die Entscheidung auf dem Gebiet der Moral des einzelnen und der Völker.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung