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Verfall statt Aufbau

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Einer, der nach langem Ausländsaufenthalt deutschen Boden betritt, muß sich bald schon mit einiger Überraschung gestehen, gleichsam auf dem Monde gelebt zu haben. Bereits vom Zugfenscer aus bieten sich Bilder dar, die alle bisherigen Vorstellungen über den Haufen werfen. Je tiefer der Reisende ins „Reich“ fährt, je mehr er die eigentlichen Industriegebiete berührt, desto mehr bestürzt ihn die allerwärts ausgebreitete Grabesruhe. Und doch hatten ihm Radio und Zeitung von begonnenem, sogar von steigendem Aufbau berichtet! Sollten Nachricht und Tatbestand einander einmal mehr widersprechen?

Sie tun es in der Tat, ja, der wirkliche Verhalt korrigiert alle optimistischen Nachrichten auf peinliche Weise: die deutsche Presse, die in diesen und anderen Fragen eine erstaunlich offene Sprache spricht, sagt das nicht minder deutlich als eine Aussprache mit den verantwortlichen Männern irgendeines Industriezweiges. Nach dem zumeist ersehnten Zusammenbruch eines unerträglichen Terrorsystems sahen sie den kommenden Dingen mit ruhiger, vielfach sogar optimistischer Zuversicht entgegen. Keiner v£n ihnen zweifelte daran, daß dem deutschen Volke schwerste Lasten auferlegt würden. Aber jeder war davon überzeugt, daß Strebsamkeit und Fleiß in der Lage seien, diese Lasten zu tragen, auf die Dauer sogar abzutragen. Der Bedarf an allen Gütern di's täglichen Gebrauchs wurde, so rechneten sie, bald wieder zu einem aufblühenden Arbeitsmarkt und Produktionsgang führen.

Einer solchen Überzeugung begegnet man heute nur noch sehr selten, und nach allem inzwischen Geschehenen ist das nicht einmal verwunderlich. Ein deutsdier Rundfunkkommentator kleidete den Vorgang in die Worte: „Statt der Zügel wurden die Bremsen gezogen.“ Worte, die in allen- Gesprächen bekräftigt werden, ob nun ein Handelskammerpräsident klagt, es sei nidit einmal mehr möglich, die in der Einfriedving eines Fabriksgeländes klaffende Mauerlücke von fünf Meter Breite zu schließen, weil die erforderliche Baugenehmigung nicht gewährt wird, oder ob der Chef eines weitverzweigten Unternehmens behauptet, den Tag errechnen zu können, da die Substanz völlig aufgezehrt ist. Pressemeldungen von andauernden Stillegungen und Entlassungen unterstreichen derlei Anzeichen einer .Fehlentwicklung mit Nachdruck, zumal die Notwendigkeit nicht immer einleuchtet. Wenn zum Beispiel zwei der größten Sodawerke oder eines der bedeutendsten Fettsäurewerke stillgelegt werden, so fragt man sich nach den Gründen. Die monatliche Höchstleistung des Fettsäurewerkes würde drei Millionen Menschen je Korf und je Versorgungsabschnitt mit 200 Gramm synthetischer Butter beliefern können. Warum wird es stillgelegt? — Eine Frage, die auch für die allein für den Wohnungsbau unentbehrlichen Stahl- und Zementwerke gilt.

Die Gründe, die man angibt, variieren. Meist heißt es, die Kohle fehle Überhaupt Söll der Kohlenmangel an allem schuld sein. Ist es da nicht merkwürdig, daß man besonders im Westen Deutschlands, wo man doch geradezu auf den Kohlen sitzt, Kohle aller Sorten und Mengen gegen Textilien kompensieren oder gegen 30 Mark je Zentner „schwarz“ kaufen kann? Demnach gibt es Kohle genug, auch wenn man sagt, die gegenwärtige Ruhrkohlenproduktion müsse verdoppelt werden, solle eine Besserung in der Kohlenlage der Industrie und der Haushalte eintreten. Dann fehlt, es an Stahl. Der Mangel beträgt etwa die Hälfte des Solls. Es fehlt an Rohstoffen, gewiß, es fehlt an allem und jedem, und das liegt auf der Hand. Aber die deutsdnen Wirtschafter und Arbeiter meinen, man solle sie doch nur schaffen lassen, dann werde es sehr bald wieder aufwärts gehep. Anderersetts glauben sie heute (das hört man überall), man wolle sie eben nicht schaffen lassen, und daraus resultiert die sehr ernste Vertrauenskrise innerhalb des deutschen Volkes, die wie eine Seuche um sich frißt.

Hervorragende Sachkenner suchen die Ursachen des fortschreitenden deutschen Wirtschaftsverfalls im Plan von Potsdam. In diesem strebte man eine Verlageruni; des deutschen Wirtschaftss'hwergewichts von der Industrie zur Landwirtschaft hin an.

Bedachte man nicht, daß ein bedeutender Teil des deutschen Wirtschaftspotentials durch den Krieg bereits zerstört war? Aber nicht nur aus diesem Grunde ;st Deutschland heute mehr denn je auf die verbliebene Industrie angewiesen; die ergiebigsten Agrargebiete — die des ehemals deutschen Ostens — fehlen und das vielleicht für immer. Der verbliebene Ackerboden ist nicht in der Lage, die heutige Bevölkerung zu ernähren. Also wird man, mehr noch als früher, importieren müssen. Kein Import ohne Export, kein Export ohne erhöhte Produktion, eins greift ins andere. Wie aber soll produziert, exportiert, importiert werden, wenn man die so unentbehrlichen Fabriken zerstört oder abtransportiert, wenn man ihnen die Kohle versagt, die sich in greifbarer Nähe zu haushohen Halden auftürmt. Mit anderen Worten: Die offenbare Lähmung der Pro-, duktionskraft muß zwangsläufig zum Verfall führen. Arbeitslosigkeit, und Verelendung sind, wie jede größere deutsdie Stadt beweist, die unausbleiblichen Folgen. Das alles ist längst erkannt, auch auf Seiten der Mächte. Man weiß und bekennt, daß eine übersetzte Verwaltung mit unproduktiver Arbeit, mit einem offenbar unzweckmäßigen System der Zuteilung von Rohmaterialien und vor allem Kohlen nach Abstellung und Neuaufbau geradezu sdireit. Trotzdem ist bislang nichts geschehen.

Die Aufspaltung Deutschlands in Ost und West, in zwei voneinander völlig divergierende „Welten“ mit allen Folgen wirtschaftlicher Zerstückelung, war in Jalta und Potsdam schwerlich vorauszusehen. Heute stellt sie eine der schwerwiegenden Tatsachen dar. Eine andere ist die „z u r ü c k-g e s t a u t e I n f 1 a t i o n“, wie Professor Dr. Wilhelm Röpke in seiner von vielen deutschen Blättern wiedergegebenen Betrachtung . der deutschen Wirtschaft die finanzpolitische Situation kennzeichnete. Nicht nur viele namhafte Wirtschaftler, sondern selbst einfache Leute sind allerdings der Meinung, eine offene Inflation sei noch besser als eine versteckte; das Geld hat seinen Wert und Charakter als Tauschrnittel

längst eingebüßt. Wer keine Sachwerte in

Zahlung zu geben hat, der bekommt entweder nichts oder aber er muß Summen zahlen, die eine inflationistische Vielstellig-keit erreichen. Darin gibt es zwischen Groß- und Kleinhandel keinen Unterschied. Man ist daher allgemein der Ansicht, nur eine Abschöpfung des riesigen Geldumlaufs, wie sie etwa Österreich durchgeführt hat, oder durchschlagender noch eine Abwertung überhaupt könne allmählich zu einer Normalisierung des wirtschaftlichen Lebens, zur Festigung und Hebung der Kaufkraft überleiten. Und man zeigt sich bereit, diese Normalisierung mit erheblichen persönlichen Einbußen zu erkaufen.

Im Grunde aber zeichnet sich immer mehr die Notwendigkeit ab, der grassierenden Unordnung und Auflösung der Wirtschaft ein Ende zu machen. Die Stimmen mehren sich, die da fordern, an die Stelle der die Wirtschaft dirigierenden Behörden müsse nun wieder die marktwirtschaftliche Ordnung treten. Nach Meinung einsichtiger Besucher selbst aus den Ländern der westlichen Alliierten —- hier ist nicht nur an Lord Beveridge und Victor G o 11 a n c z gedacht — hat die autoritär dirigierende Behörde, die über eine durchaus nicht immer Hand in Hand arbeitende Mammutbürokratie verfügt, sich nachgerade zu einer „Verwaltung des Elends“ entwickelt. Und sie vertreten in dieser oder jener Formulierung prinzipiell die vielerörterte Acht-Punkte-Forderung, insbesondere ein sechsmonatiges Kohlenmoratorium, eine Finanzreform und einen Fünfjahresplan, freilich einen Plan, der nicht drastische Einschränkungen der Industrie, unzureichende Kredite und weitere Hungerjahre ankündigt. Das am 3. Dezember 1946 in Washington bekanntgegebene Abkommen über den wirtschaftlichen Zusammenschluß der britischen und amerikanischen Zone wird abwartend beurteilt. In der deutschen Öffentlichkeit siebt man noch nicht klar, ob Verfall und Verelendung abgestoppt werden und der wirtschaftliche Aufbau in Bälde einen nachhaltigen Anstoß erfährt. Allzuviel ist leider auf dem Papier stehen-geblkbep, und die Begleitmusik des Abschlusses — zum Beispiel die kürzlich bekanntgewordene Demontage von zwölf großen Kraftwerken allein im Lande Nordrhein- Westfalen — klingt wenig ermutigend.

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