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Verfassungsprobleme in der Schweiz

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Die Eidgenossenschaft tritt in das Jubiläumsjahr der Bundesverfassung von 1848 mit zwei schweren verfassungsrechtlichen Problemen.

Ein Kenner des Schweizer und zugleich des österreichischen Verfassungsrechtes, Altbundeskanzler Dr. Otto Ender, hat einmal mit Recht darauf hingewiesen, daß für den Schweizer die Verfassung einen ganz anderen Charakter habe als für den Österreicher. In Österreich gibt es, über den ganzen Komplex von Gesetzen verstreut, aller Orten Bestimmungen, die verfassungsrechtlichen Charakter tragen, was aber nicht mehr bedeutet, als daß zu ihrer Änderung eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist. Für den Schweizer hat — ähnlich wie für den Nordamerikaner — die Verfassung den Charakter einer fast sakralen Gesetzgebung, die unbedingten Gehorsam erfordert. Man hat sich an die Verfassung zu halten, nicht sie zu ändern. Die Verfassung entscheidet über den Menschen, nicht der Mensch über die Verfassung.

So haben in den beiden Halbkantonen Baselstadt und B a s e 11 a n d die Einwohner in Volksabstimmungen mit Mehrheit beschlossen, die im Jahre 1833 durchgeführte Trennung aufzuheben und die beiden Halbkantone wieder zu einem Kanton zusammenzulegen. Baselstadt hat gegenwärtig drei Gemeinden mit 155.000 Einwohnern, das Baselbiet 80 Gemeinden mit 95.000 Einwohnern. Das rasche Anwachsen der Stadt Basel mit ihrem Rheinhafen bringt es mit sich, daß Wirtsdiaftsplanungen über den ganzen Kanton ausgedehnt werden sollen; die Motive, die einst zur Trennung von Stadt und Land geführt haben, bestehen heute nicht mehr. Plebiszite, getrennt durchgeführt, fielen für die Vereinigung aus. Sie könnte mit einem Federstrich durchgeführt werden, wenn nicht erst untersucht werden müßte, wie sich die Bundesverfassung zur Wiedervereinigung stellt.

Art. 1 der Bundesverfassung von 1848 spricht von 22 souveränen Kantonen, setzt aber bei Unterwalden, Appenzell und Basel die Halbkantone in Klammern. Unterwalden, Urkanton von 1291, ist seit jeher in die Halbkantone Obwalden (20.000 Einwohner) und Nidwalden (15.000 Einwohner) geteilt. Schon im Mittelalter stimmten bei der Tagsatzung der Obwald- ndr und der Nidwaldner getrennt, jedoch nur mit einer halben Kantonsstimme. Appenzell, seit 1377 selbständige Bauernrepublik und seit 1513. in der Eidgenossenschaft, zerfiel 1597 in das katholische Innerrhoden (15.000 Einwohner) und in das evangelische Außerrhoden (50.000 Einwohner). Die Teilung Basels kam, wie schon erwähnt, später und hat sich nie recht eingelebt.

Die Basler Wiedervereinigung kam im Dezember 1947 vor den Ständerat (die Länderkammer, in der jeder Kanton mit zwei, jeder Halbkanton mit einem Mitglied vertreten ist). Der Ständerat beschloß mit 21 gegen 14 Stimmen bei 9 Absenzen, die bundesrechtliche Gewährleistung der von den Stimmberechtigten beider Basel angenommenen Verfassungsänderungen zur Einleitung des Verfahrens für deren Wiedervereinigung zu verweigern. In der ständerätlichen Begründung heißt es, daß die Verfassung ausdrücklich von Baseler Halbkantonen spreche und keinen Rechtsweg für die Wiedervereinigung getrennter Halbkantone weis . In Basel, Stadt und Land, wird gegen-den Entscheid des Stän e- rates Sturm gelaufen und darauf verwiesen, daß die Abwesenheit von neun Ständeräten bei einer grundsätzlichen Entscheidung beweise, wie schwer diese gefallen sei. In Basel beruft man sich auf den eindeutigen Volkswillen, im Bundeshaus auf die geschriebene Verfassung, welche Basel im Zeitpunkt der Trennung des Kantons gewährleiste.

Die Kritiken der Baseler Presse berufen sich auf das Selbstbestimmungsrecht. Daß aber auch der Berner Standpunkt von der höheren Warte des Gesamtstaates aus gesehen etwas für sich hat, beweist das zeitliche Zusammentreffen der Baseler mit der „Jurassischen Frag e”.

Der Wiener Kongreß hatte dem Kanton Bern, der mit seinen 700.000 Einwohnern ein Großstaat unter den anderen Schweizer Kantonen ist, als Ersatz für das 1798 verlorene Waadtland ein Gebiet im Jura, das von katholischen Franzosen bewohnt ist, einverleibt. Heute erkennt man, daß die Jurassier in den seither vergangenen 133 Jahren wohl ausgezeichnete Schweizer, aber noch nicht richtige Berner geworden sind. Schon während der Kulturkämpfe des vorigen Jahrhunderts stand der Jura in Opposition gegen die Kantonshauptstadt. Im 20. Jahrhundert ist der konfessionelle Gegensatz weniger bedenklich als der sprachliche. Daß wirtschaftlich die industriellen Täler des Jura am agrarischen Bern eine ausgezeichnete Ergänzung haben, ändert nichts daran, daß politisch manchmal auf den Bergen des Jura eine gewisse „Malaise” auftritt.

Zum Ausbruch kam der Konflikt im September 1947, als der Große Kat des Kantons Bern die Bau- und Eisenbahndirektion nicht dem seit über einem Jahrzehnt amtenden Jurassier Moeckli, sondern dem neugewählten Oberländer Brawand übertrug. Da beide Kandidaten Sozialdemokraten sind, handelte es sich um keinen parteipolitischen Gegensatz. Der zündende Funke war die Bemerkung eines bäuerlichen Abgeordneten gegen Moeckli, daß er „welscher Zunge” sei. Im Jura kam es nun zu temperamentvollen Protestkundgebungen: auf Autos wurden die Kantonszeichen BE durch JU überklebt und das Berner Bärenwappen durch den Baseler Bischofsstab ersetzt. Ein „lįomitee für die Verteidigung der Rechte der Jura” arbeitete Programme für eine jurassische Autonomie aus. Es fiel sogar das Wort „Separation”, das heißt Trennung von Bern und Ausrufung eines 23, Kantons.

Inzwischen wurde in den schäumenden jurassischen Wein reichlich Wasser gegossen. Vom 23. Kanton wird nicht mehr gesprochen. Sowohl das in Moutier arbeitend? „Komitee” wie die Berner Regierung, sind an der Arbeit, die sogenannte „jurassische Frage” auf dem Boden vernünftiger Tatsachen zu lösen. Der Jura wird im Rahmen des Kantons Bern seine konfessionelle und sprachliche Eigenart pflegen, ohne einen Brand zu entfachen, der einem drei-, beziehungsweise sogar viersprachigen Staat lebensgefährlich werden könnte. Was heute im französischsprechenden Teil des Kantons Bern recht ist, könnte nämlich morgen in den deutschsprachigen Gebieten von Freiburg oder Wallis billig sein, übermorgen zu einer Zerreißung Graubündens führen und in weiterer Folge den Bestand der Schweiz gefährden.

Im Jura dürfte eine recht heißblütig begonnene Bewegung ein ruhiges Ende nehmen. Nicht abgeschlossen hingegen ist die Frage der Wiedervereinigung der Stadt Basel mit dem Baselbiet. Sowohl in der Rheinstadt wie im Bundeshaus rüstet man sich mit neuen schweren juristischen Argumenten. Darüber hinaus aber bleibt das Gefühl bestehen, daß in einem politisch so komplizierten Staatswesen wie in der Schweiz nicht allzuviele Verfassungsprobleme aufgerührt werden sollen.

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