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Vergangenes begraben

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Vor einiger Zeit konnte man in den bundesdeutschen Tageszeitungen lesen, daf) man sich In den deutschen Regierungskreisen wieder einmal mit der Last geschichtlicher Vergangenheit beschäftigen mufj. Es handelt sich um die heikle Frage der Verjährung von NS-Verbrechen. Der Tatbestand ist ziemlich einfach. Ende nächsten iahres läuft In der Bundesrepublik die verlängerte Verjährungsfrist für Blutverbrechen aus der NS-Zeif ab, und man stellte daher die Frage, ob man es dabei bewenden lassen oder eine neuerliche Verlängerung beziehungsweise endgültige Regelung treffen solle.

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Vor einiger Zeit konnte man in den bundesdeutschen Tageszeitungen lesen, daf) man sich In den deutschen Regierungskreisen wieder einmal mit der Last geschichtlicher Vergangenheit beschäftigen mufj. Es handelt sich um die heikle Frage der Verjährung von NS-Verbrechen. Der Tatbestand ist ziemlich einfach. Ende nächsten iahres läuft In der Bundesrepublik die verlängerte Verjährungsfrist für Blutverbrechen aus der NS-Zeif ab, und man stellte daher die Frage, ob man es dabei bewenden lassen oder eine neuerliche Verlängerung beziehungsweise endgültige Regelung treffen solle.

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In Österreich hat man dieses Problem dadurch geregelt, daß ganz allgemein die Verjährung für Verbrechen, die mit lebenslänglicher Kerkerstrafe bedroht sind, also insbesondere Mord, aufgehoben wurde. Sollte daher hierzulande noch irgend ein Fall aus der NS-Zeit virulent werden, so kann er immer noch seine gerechte Sühne finden. Anders in der Bundesrepublik, wo — wie gesagt — die Verjährungsfrist 1969 abläuft. Dazu kommt, daß eine nicht unbeträchtliche Anzahl solcher Verbrechen erst in jüngster Zeit aufgedeckt werden konnte. Immer wieder lesen wir von den Prozessen, die gegen NS-Verbrecher, vor allem Angehörige der Lager-SS, abgewickelt werden. Man fragt sich oft, wieso diese Prozesse erst jetzt stattfinden. Die Erklärung liegt darin, daß man aus verschiedenen Gründen eben erst jetzt der Täter habhaft werden konnte. Daß die deutsche Bundesrepublik ein hohes politisches Interesse daran haben muß, solche Prozesse abzuführen, ergibt sich von selbst. Die strenge Bestrafung dieser Personen ist auch ein Element der politischen Wiedergutmachung, dem höchste internationale Bedeutung beizumessen ist. Dazu kommt, daß die in der ganzen zivilisierten Welt vorherrschende Empfindung für die Liquidierung dieser Vergangenheit eine Aufgabe ist, die durch Zeitablauf nicht gelöst werden kann.

Es ist noch unbekannt, wie man in der Bundesrepublik Vorgehen wird. Die österreichische Lösung der allgemein gültigen Aufhebung jeder Verjährung bei Mord entspricht dem österreichischen Rechtsempfinden und hat außerdem den unleugbaren Vorteil, eine strafrechtliche Ausnah- meregelung zu vermeiden. Gerade die Ausnahmeregelung für NS-Ver- brechen, ja überhaupt für die Liquidierung des Nationalsozialismus, war zwar zunächst unvermeidbar, blieb aber trotz alledem ein Fremdkörper jm österreichischen Strafrecht. In diesem Zusammenhang ist ein Blick in die Vergangenheit nicht uninteressant. Die wiederhergestellte österreichische Republik mußte natürlich zunächst schon deshalb eine Ausnahmeregelung treffen, weil sich der ganze NS-Komplex einfach nicht in die wiederhergestellte, alte österreichische Rechtsordnung eingliedern ließ. Ehe Zeit, in der Einzel- und Völkermorde nicht nur sanktionierter Bestandteil einer „Rechts“ord- nung waren, sondern, von oben befohlen, als Heldentat galt, läßt sich mit den Normen einer wirklichen Rechtsordnung eben nicht liquidieren; daher blieb für diesen Zweck zunächst auch die ansonsten in der Bundesverfassung verbotene Todesstrafe weiter bestehen. Aber auch für ganz andere, vielfach ganz harmlose Tatbestände, zum Beispiel die einfache Mitgliedschaft bei der NSDAP, mußten Sanktionen geschaffen werden.

Die Diskussion in Österreich über dieses Problem ging nun über zwei Teilbereiche. Einmal darüber, ob man eine Kollektivschuld in Form der Mitgliedschaft der NSDAP überhaupt konstruieren sollte, zum anderen, ob die geschehenen Verbrechen, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Tat nicht vom Strafrecht bedroht waren, durch die nachträgliche Anwendung des österreichischen Strafrechtes genügend gesühnt werden konnten. In beiden Fällen fiel die Entscheidung für eine Ausnahmeregelung. Die Mitgliedschaft bei der NSDAP hatte eine den Sühnecharakter betonende, höhere Besteuerung bei Einkomme’n- und Lohnsteuer für eine bestimmte Zeit und die Ausübung bestimmter Parteifunktionen, ein gerichtliches

Verfahren mit Verurteilung zu Kerkerstrafen zur Folge. Der Nachweis bestimmter Verbrechen, vor allem von Blutverbrechen, brachte aber schwere Kerkerstrafen bzw. die Todesstrafe. Daß man die einfachen Mitglieder der NSDAP für eine Zeit zu einer höheren Steuerleistung heranzog, also etwas unter Sanktion stellte, was zum Zeitpunkt, da diese Mitgliedschaft gültig war, nicht nur nicht strafbar war, sondern sogar als eine Auszeichnung galt, war ein Vorgehen, dessen Berechtigung von niemandem, auch nicht von den Betroffenen, bestritten wurde. Die Verhängung von Kerkerstrafen auf Grund der Ausübung von bestimmten Parteifunktionen war jedoch problematisch, wenn diese Parteifunktionen von den Betroffenen nachweisbar in keiner Weise mißbraucht wurden. Ein vom Vertreter der ÖVP in der damaligen Verhandlung gemachter Vorschlag, solche Parteifunktionäre, die ihr Amt in keiner Weise mißbraucht haben, nicht zu einer Kerkerstrafe heranzuziehen, sondern ihnen allenfalls eine noch höhere steuerliche Leistung abzuverlangen als den einfachen Parteimitgliedern, wurde von den Vertretern der beiden anderen Parteien abgelehnt. Was aber den anderen Teil, ‘nämlich die Sühne von tatsächlichen Verbrechen betrifft, so hätte das wieder hergestellte österreichische Strafrecht ohne Zweifel ausgereicht, wobei die vorläufige Beibehaltung der Todesstrafe bei NS-Mordverbrechen unbestritten geblieben wäre. Daß man dennoch für diese Fälle ein spezielles Strafrecht geschaffen hat, erklärt sich aus dieser Zeit.

Das alles liegt nun mehr als zwei Jahrzehnte hinter uns. Eine neue Generation ist angetreten, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Neue Seiten sind im Buch der menschlichen Geschichte aufgeschlagen, und neue Sorgen bedrängen uns. Ob jemals die Völker aus ihrer Geschichte gelernt haben, ist leider mehr als zweifelhaft. Je schwerer, je abgründiger, je bestialischer ein Zeitalter gewesen ist, um so weniger können die nachkommenden Generationen das ganze Ausmaß aller Greuel verstehen. Der Ruf nach Rache ist, Gott sei Dank, längst verstummt und niemand fragt mehr nach einem Parteibuch von ehedem. Aber man sollte um der Zukunft willen nicht vergessen, wie weit der Mensch irren kann, wenn die Moral von Staats wegen abgeschafft wird.

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