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Verhallt ist schon der Donner

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Längst ist der Donner wirklich verhallt, die Erinnerung an ihn ist aber noch mächtig. Sie läßt Ehemalige heute noch erschaudern - und mit ihnen uns.

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Längst ist der Donner wirklich verhallt, die Erinnerung an ihn ist aber noch mächtig. Sie läßt Ehemalige heute noch erschaudern - und mit ihnen uns.

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Polen hat während des Zweiten Weltkrieges mehr als sechs Millionen Menschen verloren. 644.000 in unmittelbaren Kriegshandlungen und 5.384.000 infolge von Terror und Extermination. Die KZ-Lager spielten dabei eine wesentliche Rolle. Eines von ihnen, Mauthausen-Gusen, war ein „Vernichtungslager für die polnische Intelligenz". Im ganzen Komplex des KZs Mauthausen mit 49 untergeordneten Lagern kamen 30.307 Polen um, davon 27.000 in Gusen.

Waclaw Pilarski, ehemaliger Häftling Nr. 45565 des KZs Gusen, später Leiter des Regionalfernsehens in Lod'z, verbrachte im KZ volle fünf Jahre. Heute, aus der Perspektive von 50 Jahren, erinnert er sich an diese schreckliche Zeit, die für ihn aber gnädig war, weil er am Leben bleiben durfte.

Das Leben eines Menschen im KZ-Lager war meistens von kurzer Dauer. Diejenigen, die das KZ-Lager überlebten, hielten sich in einer Gruppe zusammen, die von einer gemeinsamen Idee erfüllt wurde - vom Glauben an den Sieg und vom ständigen Kampf ums Uberleben.

Pilarski erzählt, daß die ersten Monate im Lager die schwierigsten waren. Der Neuling mußte das Lagerleben lernen, sich ihm anpassen können, aber sich nicht einschüchtern lassen und rechtzeitig eine Gefahr erkennen. Die Wachsamkeit war das höchste Gebot - wann sich ein Aufseher näherte, hörte man von überall die warnenden Worte: „Bewegt euch, bewegt euch!" Wenn keine Gefahr drohte, verlangsamten die Häftlinge das Arbeitstempo, um die Kräfte für schlechtere Zeiten zu sparen.

Das Verhalten der SS-Aufseher den Häftlingen gegenüber hing von der Situation an den Kriegsfronten ab. Als die deutsche Armee von Sieg zu Sieg zog, funktionierte der Vernichtungsapparat besonders stark. Jeden Sieg bekamen die Häftlinge deutlich zu spüren. Das Arbeitstempo war mörderisch und mit grausamen, raffinierten Schikanen verbunden. Als die Deutschen an der Front Niederlagen zu erleiden begannen, wurde das Vernichtungstempo gemildert. „Für uns war das eine Art Barometer für die Situation an der Front", sagt Pilarski. Die Jahre 1940-43 waren die schwierigsten zum Überleben; die Sterberate war erschreckend hoch. Es gab zu wenig Essen zum Überleben, der Hunger plagte alle Häftlinge.

Spontan entstandene Selbsthilfegruppen versuchten „eine zusätzliche Schüssel Suppe oder ein zusätzliches Stück Brot zu ergattern" und eine leichtere Arbeit für schwächere Häftlinge zu finden.

Am Anfang war es für die Häftlinge streng verboten, sich gegenseitig in den Baracken zu besuchen. Dieses Verbot wurde vom Blockführer Bu-dolf Kokesch nicht durchgeführt, und so konnten Häftlinge am Sonntagnachmittag einander im Block 16 besuchen. Allmählich nahmen die Treffen kultur-bildenden Charakter an. Die Initiative kam von einem schlesi-schen Journalisten, Stanislaw Nogaj, der im Block 16 die Funktion eines Schreibers innehatte. An jedem Sonntag gab es Lesungen, Vorträge oder Gedichtrezitationen; es wurden auch religiöse, nationale und Pfadfinder-lieder gesungen. Mit der Zeit durften einander auch Häftlinge aus anderen Blöcken besuchen, und so bildeten sich Gruppen von gemeinsamen intellektuellen, politischen und religiösen Interessen.

Als die Nahrungsmittel knapp wurden, gestattete man den Häftlingen ab 1943, Lebensmittelpakete von zu Hause zu bekommen. Mit den Nahrungsmitteln gelangten oft versteckte Informationen aus der Heimat ins KZ. Die Lebensmittelpakete beschleunigten die spontane Bildung von Hilfegruppen, die sich schließlich zu einer Selbsthilfe- und Widerstandsbewegung internationalen Charakters entwickelte. Es waren dabei tätig: Polen, Österreicher, Tschechen, Franzosen, Belgier, deutsche Hitler-Gegner - und andere Nationalitäten. Die Bewegung hatte vor allem zum Ziel die Rettung des Lebens und der Gesundheit von Leidensgefährten, die Verbreitung von Kultur und Bildung, die politische Erziehung sowie das Verbreiten von Informationen aus der Außenwelt. Sie wurde von einem Österreicher, Rudi Meixner, angeführt, der die Funktion des Lagerschreibers innehatte. Sein engster Mitarbeiter war der schon genannte Journalist Stanislaw Nogaj aus Katto-witz.

Die zahlenmäßig stärkste und am besten organisierte Volksgruppe war die der Polen, darunter viele erfahrene, sozial engagierte, mutige Mensehen mit Führungsqualitäten. Sie agierten vor allem im kulturellen und bildungspolitischen Bereich, organisierten poetische und literarische Abende, Vorträge, die Häftlinge aufklärten und ihnen die menschliche Würde wiedergaben.

Die ersten Tage und Wochen waren für die neu Angekommenen besonders schwierig. Die organisierten Geheimgruppen, die sozial aktiv waren - der oben genannte Waclaw Pilarski gehörte zu einer solchen Gruppe - versuchten den neuen Kameraden beizubringen, wie man im Lager leben mußte. Für körperlich schwächere suchte man leichtere Arbeitsplätze. Die Widerstandsbewegung organisierte auch Sabotage-Aktionen in Arbeitsstätten.

Als die Verluste an den Fronten immer stärker wurden, brachten die Deutschen 1943 im Lager Gusen Kriegsindustriebetriebe unter - Stey-er-Daimler-Puch und Messerschmitt. Zwei Drittel aller im Steinbruch beschäftigten Häftlinge begannen dann für die deutsche Armee zu arbeiten.

Die internationale Widerstandsbewegung brachte in diesen Betrieben Häftlinge unter, die in konspirativer Arbeit geübt waren, um dort Sabotageakte durchzuführen. Es wurden Fließbänder beschädigt, der Strom abgeschaltet, um die Produktion zu verlangsamen, bei Konstruktionsplänen Fehler gemacht, wichtige Bestandteile von Maschinen zerstört, so daß sie für die Produktion unbrauchbar waren und vieles andere.

Die Treffen in den Baracken waren für die Häftlinge „Augenblicke des nationalen Erlebens nach einem schweren Arbeitstag voller Erniedrigung. Die geistige Nahrung war oft wichtiger als eine zusätzliche Scheibe Brot", sagt Pilarski. Die inhaftierten Dichter schufen eine Lagerpoesie. Sie hielt ihre Sehnsucht nach der Familie, nach der Heimat nieder wie auch ihren Schmerz und ihr Leid, die sie hinter dem Stacheldraht erlebten.

Einer von ihnen war der polnische Dichter Konstanty Cwierk, dessen Gedicht „Verhallt ist schon der Donner" zur Hymne von Gusen wurde. Die Melodie dazu komponierte Grac-jan Guzinski, ein beliebter volkstümlicher Musiker aus Posen. Das Lied wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und von allen Gusen-Häftlingen als Hymne übernommen.

Ein anderer KZ-Häftling, Jerzy Wandel aus Warschau, der seit den sechziger Jahren in Wien als Emigrant lebt, verbrachte eine lange Zeit im KZ Gusen bis zur Befreiung von den Amerikanern. Gusen, genauso wie Mauthausen gehörte zu den Vernichtungslagern der Stufe III. Das bedeutete, daß es für „schwer belastete" und „nicht mehr erziehbare" Häftlinge bestimmt war. Die übermenschliche Arbeit, Hunger und massiver Terror waren durchaus beabsichtigt, sagt Wandel, um die führenden sozialen Gruppen aus den unterjochten Ländern zu vernichten. Schon beim Betreten des KZ Gusen hörte Wandel die Worte: „...in diesem Lager kann es nur lebende, arbeitsfähige Menschen geben oder - Tote. Das Lager ist weder ein Sanatorium noch ein Gefängnis, überleben kann man hier höchstens sechs Monate." Diese Worte sollten Ankömmlinge einschüchtern und sie psychisch fertigmachen. Ein Häftling wurde zu einer Nummer degradiert, seiner Persönlichkeit und menschlicher Würde beraubt.

Die Häftlinge wurden in Kategorien aufgeteilt und trugen bunte Dreiecke bei ihren Nummern: rot war für politische Häftlinge bestimmt, braun für asoziale Personen, violett für Geistliche, rosa für Homosexuelle, grün für gewöhnliche Verbrecher und Mörder. Juden waren mit einem gelben Davidstern gekennzeichnet.

Wandel schildert die ungünstige Naturlage des KZ-Lagers Gusen, das von drei Steinbrüchen mit über 20 Meter hohen Wänden umgeben war. Die im Talkessel gelegenen Baracken waren starken Winden, Nebel und Kälte ausgesetzt. Die schlechte Kleidung schützte kaum vor Feuchtigkeit; im Sommer dagegen herrschte eine tropische Hitze, die zu Boden warf. Die Arbeit ging über menschliche Kräfte hinaus. Alle Schwerarbeiten wurden mit bloßen Händen gemacht, sogar die riesigen, mehrere Tonnen schweren Granitblöcke wurden händisch verladen.

Erst in den Jahren 1943-44 als die Kriegsindustrie auf dem Lagergelände untergebracht wurde, wurden die noch arbeitsfähigen Häftlinge besser behandelt. Zu dieser Zeit ist es der Widerstandsbewegung gelungen, die wichtigsten Arbeitsstellen mit polnischen, österreichischen, tschechischen und deutschen politischen Häftlingen zu besetzen und damit die Willkür der verbrecherischen Kapos ein bißchen einzuschränken.

Viele Menschen sind unter diesen Bedingungen umgekommen. Vom ersten Transport aus Warschau von 1.200 Häftlingen in das Lager Mauthausen-Gusen - Jerzy Wandel war dabei - haben nicht mehr als 100 Personen überlebt. Die besten Überlebenschancen hatten junge sportliche Leute, die beim Heer, in militärischen Organisationen oder bei den Pfadfindern abgehärtet waren sowie Handwerker, die physisch und psychisch stärker konditioniert waren.

Diejenigen die überlebten, sind jedoch nicht ohne psychischen und physischen Schaden davongekommen. Diese Problematik versucht Stanislaus Leszczynski aus Warschau, selbst ein ehemaliger KZ-Häftling, näher zu ergründen. Vier Faktoren im Lagerleben wirkten sich stark auf die Psyche des Häftlings aus: nämlich die Unwahrscheinlichkeit, die Ohnmacht, die ständige totale Bedrohting und der Automatismus. Die menschliche Psyche war im Lager großem Streß ausgesetzt - vorwiegend aufgrund des Hungers und der Mißhandlungen - insbesondere während der Arbeit, die oft über die Kräfte eines gesunden, gut ernährten Menschen hinausging. Dazu kamen schlechte hygienische Bedingungen, die zu verschiedenen Epidemien führten. Kälte und Mangel an Schlaf riefen starke psychische Traumata hervor. Die häufigste Reaktion war Depression und in Extremfällen ein vollkommener psychischer Zusammenbruch. So wurden Häftlinge zu sogenannten „Muselmännern".

Diejenigen, die das Lager überlebten, nahmen eine ganze Reihe pathologischer Eigenschaften und Verhaltensweisen mit sich in die Freiheit. Das sogenannte KZ-Syndrom setzte sich auch nach der Befreiung fort. Manchmal traten die Streßwirkungen sogar verstärkt auf und wurden auf die zweite, sogar auf die dritte Generation übertragen. Es wurden psychische Störungen sowie Schwierigkeiten bei der Anpassung an das normale Leben bei 44 bis 56 Prozent aller ehemaligen Häftlinge festgestellt.

Die Hauptursache war die Änderung der Persönlichkeit und des Bildes vom eigenen Ich. Bei den KZ-Häftlingen gab es eine große Divergenz zwischen dem „realen Ich" und dem „idealen Ich", und infolgedessen einen niedrigen Grad an Selbstakzeptanz.

Jene, die die Hoffnung auf das Überleben nicht verloren hatten, und dabei nicht extrem hungern mußten, überlebten das Lager mit viel weniger Schaden. Bei einem „Muselmann" dominierte zuerst ein Zustand der Reizbarkeit, später kam die Apathie hinzu. In manchen Fällen war das psycho-organische Syndrom so stark, daß der Mensch für eine psychiatrische Anstalt war. Besonders in den Wintermonaten gab es viele „Muselmänner" - bis zu 30 Prozent aller Häftlinge.

Im Lager Gusen II sind 90 Prozent aller Häftlinge „Muselmänner" geworden. Dort bekamen die Häftlinge einen halben Liter dünner Flüssigkeit - Suppe genannt - und ein Achtel Kilogramm Brot pro Tag. Sie hatten auch keinen Kontakt mit den besser gestellten Häftlingen in Gusen I.

Die unmittelbar nach der Befreiung durchgeführten ärztlichen Untersuchungen an „Muselmännern" bezeichneten dieses Phänomen als „ Hungerkrankheit".

Im extremen Stadium dieser Krankheit konnte man die betroffenen Menschen nicht mehr retten. Sie wurden an intravenöse Infusionen angehängt, man versuchte sie künstlich zu ernähren - alles umsonst - fast immer starben sie.

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