6780018-1969_39_07.jpg
Digital In Arbeit

„Vernünftige Regelung zwischen Österreich und der EWG”

Werbung
Werbung
Werbung

FURCHE: Die österreichische große Koalition hat 1966 — zumindest nach Meinung vieler in- und ausländischer Beobachter — Schiffbruch erlitten. Was sagen Site als Beteiligter der dreijährigen großen Koalition ln der Bundesrepublik: Sind große Koalitionen auf Sicht ein unpraktikables parlamentarisches System?

BRANDT: Dies ist für mich nicht die Zeit theoretischer Erörterungen. Ich lege den Wählern dar, daß die große Koalition in der gegebenen Lage notwendig war und daß sie — bis vor einigen Monaten — bedeutende Leistungen aufzuweisen hat. In der Bundesrepublik hatten wir 1966 eine Situation, in der meine Freunde und ich nach reiflicher Überlegung zur Überzeugung kamen, daß wir mit der anderen großen Partei der Bundesrepublik gemeinsam eine Regierung auf Zeit bilden müßten. Wir brauchen diesen Schritt auch nicht zu bedauern. Die Rezession wurde rasch überwunden, die Staatsfinanzen kamen wieder in Ordnung. Wir Sozialdemokraten haben darüber hinaus eine Reihe der Forderungen durchsetzen können, für die wir seit Jahren in der Opposition eingetreten waren. Andere Reformen scheiterten am Widerstand des Koalitionspartners.

Vor den Wahlen haben sich die Meinungsverschiedenheiten darauf zugespitzt, ob eine aktive Wirtschaftspolitik geführt werden soll und ob unsere Ostpolitik — illusionslos, aber beharrlich — fortgesetzt werden soll. Es ist nicht nur der Widerstand der CDU/CSU auf diesen beiden Gebieten, der mich sagen läßt, daß große Koalitionen, jedenfalls in meinem Land, nicht zum Dauerzustand werden sollten.

FURCHE: Was würde ein Bundeskanzler Brandt an konkreten Schritten für eine Vereinigung Europas tun?

BRANDT: Es ist bekannt, daß ich mich als Außenminister seit Ende 1966 mit aller Energie um die europäische Einigung bemüht habe. Ich habe mich dabei nie vom Wunschdenken bestimmen lassen, sondern habe versucht, die Stagnation zu überwinden. Die jüngste Brüsseler Beratung der sechs Außenminister läßt vermuten, daß über die Erweiterung (das heißt Beitritte und andere Regelungen) der EWG demnächst nicht nur taktisch, sondern faktisch verhandelt werden kann. Ich gehe auch davon aus, daß sich Frankreich an den politischen Konsultationen im Rahmen der WEU, also einschließlich Englands, wieder beteiligen wird.

Ein Bundeskanzler Brandt braucht also keine neue Linie in der Europapolitik zu entwickeln. Wir müssen tun, was möglich ist. Und wir müssen auf Projekte verzichten, die nur geeignet sind, Mißtrauen und Verwirrung hervorzurufen. Hierbei denke ich zum Beispiel an die Forderung von Herrn Strauß, eine separate europäische Atomstreitmacht zu schaffen.

FURCHE: Sie haben sich, Herr Vizekanzler, wiederholt für ein Arrangement Österreichs mit der EWG ausgesprochen. Wären Sie bereit, etwa als Bundeskanzler Brandt, die guten Dienste der Bundesrepublik für Österreich bei Ihren EWG-Part- nern anzubieten, insbesondere jedoch bei Italien, das wegen der Südtirol- frage noch immer ein zumindest formelles Veto aufrechterhält? BRANDT: Von diesem Thema war bereits die Rede, als ich kürzlich in Rom war, und ich kann nur hoffen, daß die von Ihnen erwähnten Schwierigkeiten bald ausgeräumt sein werden. Im Rahmen der Absichten, die EWG zu erweitern, wird natürlich ein Arrangement zwischen Österreich und der EWG gefunden werden müssen. Wir werden eine vernünftige Regelung im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen.

FURCHE: Einige Meinungsforschungsinstitute in der Bundesrepublik räumen Ihnen und der SPD gute Chancen ein. Haben Sie schon eine Wette über den Wahlausgang abgeschlossen?

BRANDT: Auch ohne Meinungsbefragungen schätze ich die Aussichten der SPD bei den bevorstehenden Bundestagswahlen gut ein. Zum Unterschied von meiner Frau habe ich keine Wette abgeschlossen.

FURCHE: Nach einigen Wochen deutschen Wahlkampfes sind Sie ja schon in mehreren Bundesländern herumgekommen. Ist der deutsche Wähler 1969 noch immer ein politischer „Michel”, ein ideologischer „Gartenzwerg”, wie ihn manche sah’en?

BRANDT: Die Versammlungen sind besser besucht als früher. Erfreulich ist, daß erstaunlich viele Frauen und junge Menschen an den Wahlveranstaltungen teilnehmen. Viele Wähler wallen diskutieren. Sie sind an Sach- problemen interessiert. Billige Polemik und Phrasendrescherei werden weithin äbgelehnt.

Zahlreiche unabhängige Bürger haben sich in Wählerinitiativen zusammengefunden. Auch vermeintliche Tabus der deutschen Politik können in diesem Wahlkampf offen behandelt werden. Diese und andere Erfahrungen stimmen mich zuversichtlich. Man begegnet in diesen Wochen vielen mündigen Bürgern. FURCHE: Hätten Sie als Bundeskanzler mit Professor Schiller etvms Größeres vor? Wird er Ihr Kronprinz in der SPD?

BRANDT: Professor Schiller gehört zu den hervorragendsten Vertretern und zum engeren Fühmngskreis der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die „Figur” eines Kronprinzen gibt es bei uns nicht. FURCHE: Würden Sie die Politik der Bundesregierung in innen- und außenpolitischen Fragen primär an der Politik der Sozialistischen Internationale orientieren?

BRANDT: Bei der Internationale handelt es sich um eine Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Parteien. Auf den Tagungen findet ein Gedankenaustausch ‘ statt, der häufig interessant ist und Anregungen vermittelt. Aber selbstverständlich wird die Innen- und Außenpolitik jeder sozialdemokratischen Partei von dieser selbst bestimmt und verantwortet Natürlich haben die Sozialdemokraten in vielen Ländern gemeinsame Grundüberzeugungen und Vorstellungen, zum Beispiel über die Erhaltung des Friedens, über soziale Gerechtigkeit, über Freiheit und Demokratie. In der praktischen Politik müssen wir selbst entscheiden, was im Interesse unseres Landes und für Europa richtig ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung