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Verpflichtendes Erbe

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Mit dem raschen Tempo, in dem die Entwicklung der Kinderfürsorge in manchen Ländern erfolgt, konnte unser Land nicht immer Schritt halten. Wir wissen heute, daß auf dem großen modernen Sektor der Sozialmedizin unsere Einrichtungen für Mutter und Kind dringend einer Reform bedürfen. Es ist nicht leicht, die Sachlage mit einem Male aufzuzeigen. Gewiß gibt es da und dort kleine Zentren, die ihr Bestes tun, aber es gibt zu viele in der Fürsorge tätige Menschen, denen das richtige Empfinden und Verständnis für Fürsorgefragen fehlt, zu wenig derer, die jenes eigenartige Fluidum von Güte und Menschenliebe ausstrahlen, Eigenschaften, ohne denen es nun einmal auf dem schönen Feld der Fürsorgearbeit nicht geht.

Vor genau fünf Jahrzehnten begann der Fürsorgegedanken in den meisten Kulturländern aufzuleben, Österreichs Pionier ist damals Escherich gewesen. Ein halbes Jahrhundert ist auch verflossen, seit Professor Theodor Escherich im Sommer 1902 die Leitung der Wiener Universitäts-Kinderklinik übernahm.

Als Escherich, der 12 Jahre die Grazer Kinderklinik geleitet hatte, damals im Alter von 45 Jahren nach Wien kam, war hier die Universitäts-Kinderklinik im alten St.-Anna-Kinderspital wahrhaft kümmerlich untergebracht. Die Säuglingssterblichkeit war erschreckend hoch. Mehr als ein Fünftel der neugeborenen Kinder starb vor Vollendung des ersten Lebensjahres!

Die einzigen Fürsorgeeinrichtungen waren zu dieser Zeit die Findelhäuser, welche in erster Linie der Sozialfürsorge dienten. Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge mit dem Ziel, allen Säuglingen durch richtige Ernährung und Pflege Gesundheit und Leben zu erhalten, gab es so gut wie keine. Hier mußte der führende Kinderarzt die Initiative ergreifen.

In einem warmherzigen Aufruf, der in einer kleinen Broschüre und in den Wiener Tageszeitungen erschien, wandte sich Escherich an die Wiener Frauen: „Helfet den armen kranken Kindern!" Sein Appell an die „goldenen Herzen der Mütter- und Kinderfreunde" — so hieß es in dem Aufruf — fand in den weitesten Kreisen der Wiener Bevölkerung Widerhall. Es wurde ein Verein „Säuglingschutz" ins Leben ge-

rufen, der es Escherich ermöglichte, auf den Gründen des St.-Anna-Kinderspitales einen kleinen Pavillon zu erbauen, fn dem eine mustergültige Mütterberatungsstelle eingerichtet wurde. Es entstand auch ferner eine dem Verein „Säuglingsschutz“ angegliederte kleine Säuglingsabteilung. In dieser Musterstation entstand erstmalig eine Säuglingspflegerinnenschule, deren Zöglinge hier die Grundlagen der Säuglingsernährung und -pflege erlernen

konnten. Die „Escherich-Pflegerinnen" waren während vieler Jahre ein Begriff für Wien.

Dies und vieles andere erforderte selbstverständlich eine Riesenarbeit, vor allem aber wertvolle Kleinarbeit. Für den großen Organisator bedeutete alles erst einen Anfang. Es fügte sich damals, daß anläßlich des 60jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs, entsprechend der im Jahre 1900 ausgegebenen Devise „Jahrhundert des Kindes“, unter den Völkern Österreichs eine Sammlung veranstaltet wurde. Das Ergebnis war ein glänzendes: zwei Millionen Kronen! Damals war es eine Selbstverständlichkeit, daß man sich bezüglich Verwertung dieser Summe an den Vorstand der Kinderkli- nikwandte. Escherich sah nun auf einmal die Möglichkeit vor sich, seine in Wien begonnene und bisher nur einen

kleinen Teil der Wiener Kinder zugute kommende Fürsorgearbeit auf ganz Österreich auszudehnen. Er faßte den genia- 1 e n Plan, in Wien eine Zentralanstalt für die österreichische Hälfte der Monarchie zu errichten, eine Reichsanstaltfür Mutter- und Säuglingsfür- sorge. Die Hauptaufgabe dieser Anstalt sollte neben einer umfassenden Organisation der Fürsorgeeinrichtungen in der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiete der vorbeugenden Kinderheilkunde, vor allem die Ausbildung und Nachschu- lung der Ärzte und FürsöTgesch western Sein, die in den Kronländern im Dienst der Mutter- und Kindfürsorge eingesetzt werden sollten. Escherich berief zur Ausführung dieses Riesenprojektes den Prager Dozenten Leopold Moll nach Wien. Dieser sollte die nötige Vorarbeit in Angriff nehmeft und den Plan zum Bau der Reichsänstalt aüsärbeiten. Sie wurde später in einem der schönsten Punkte der Peripherie Wiens errichtet, auf einer Anhöhe zwischen Pötzleinsdorf und Sie

vering, der heutigen Siedlung Glanzing.

Ein jäher Tod raffte Escherich noch vor Vollendung seines Werkes dahin. Nach seinem Tod übernahm sein schön damals berühmter Schüler Pirquet die Verwaiste Lehrkanzel für Kinderheilkunde; Direktor der im Jahrö 1914 fertiggestellten Reichsanstalt wurde Moll. Dieser ausgezeichnete Kinderarzt und Organisator gründete die schon von Escherich projektierte Pfle- gėrinnensčhūle, die im Laufe der Vielen Jahre ihres Bestandes zahllose Schwestern hefänbildöte, welche auf dem Gebiete der Kinderkrankenpflege und -fürsorge den Ruf ihrer Ausbiidungsstätte Weit über die Grenzen Österreichs hinaus festigten. Das große Ziel jedoch, das Escherich vorSchwebte, konnten weder Moll noch dessen Nachfolger Reuß erreichen.

Wäre Escherich selbst dies gelungen, wenn er am Leben geblieben wäre? Fast möchte man es bezweifeln, nicht nur weil es zur Entwertung des aus der Sammlung des Jahres 1908 verbliebenen Kaiser- Jubiläums-Fonds, der auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft war, kam, und an den für den Ausbau der Fürsorgeeih- richtungen erforderlichen Mitteln fehlte, es fehlte leider auch an dem Verständnis für die Bedeutung eines solchen Aufbaues.

Gewiß ist die Säuglingssterblichkeit seit Beginn dės Jahrhunderts wie in den meisten Kulturländern auch in Österreich beträchtlich gesunken. Es darf aber nicht übersehen werden, daß sie bei uns noch zwei- bis viermal sö hoch ist als in anderen Staaten, ja daß sie in manchen Landbezirken noch zehn Prozent beträgt und mehr. Das bedeutet, daß jährlich unzählige Kinder im ersten Lebensjahre ster-

ben, welche erhalten werden könnten, wenn wir über Fürsorgeeinrichtungen verfügten wie Schweden, Holland, die Schwei , England, Finnland und andere Länder. Es kommt außerdem nicht nur darauf an, d a ß unsere Kinder am Leben bleiben, sondern wie sie leben, unter welchen Pflege-, Ernährungs- und Erziehungsbedingungen. Und da fehlt es bei uns noch an Vielem.

Der kürzlich gegründete Verein „Babyhilfe" verfolgt nun das gleiche Ziel wie die zu Escherichs Zeiten veranstaltete Sammelaktion „Für das Kind". Wir geben uns keiner Illusion hin, daß wir heute auch nur annähernd eine den damaligen Sammelergebnissen äquivalente Summe aufbringen können. Vielleicht wird aber

doch soviel zu erreichen sein, um den Bundesländern zu ermöglichen, ihre Fürsorgeeinrichtungen zeitgemäß auszugestalten und um zu einem Ausbau der ehemaligen Reichsanstalt beizutragen.

Als einer der letzten Schüler Escherichs hat Univ.-Prof. Reuß die Anregung gegeben, der im Sinne seines großen Lehrers hauptsächlich der Mutter- und Kinderfürsorge dienenden Anstalt nach ihrer Ausgestaltung den Namen „Escherich- Institut“ zu geben. Es wäre dies das schönste Denkmal, das wir dem Um Österreich so hochverdienten Gelehrten und Kinderfreund Escheričh Setzen könnten.

Fragen wir uns heute nicht immer nur, wieso es in unserem Lande vom besten sozialen Wollen zu argen Rückschlägen

kommen konnte. Auch seien die trockenen Zahlen der Geburtenstatistik, in denen manche den Beweis des nahenden Endes der biologischen Substanz unseres Volkes sehen wollen, kein Anlaß zu Panik. Verwerflich halten wir jedoch Gleichgültigkeit und Übergehen-zur-Tagesord- nung über die bei uns hohen Mortalitätszahlen des ersten Lebensjahres, weil die Differenz zu anderen Staaten zu gering sei usw. Mögen die gegebenen Hinweise genügen, um sowohl Standesvertretungen als auch die Vertreter des Volkes zu veranlassen, mit Liebe, aber auch mit nüchterner Objektivität die Probleme unserer zweifellos noch sehr verbesserungsbedür- tigen Fürsorge für Mutter und Kind zu sehen.

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