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Verwegene Arznei

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Er hat zweifellos viel Bestechendes an sich, der Gedanke, allen Menschen eines Staatswesens volle ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen, gleich, ob arm oder reich. Es wäre sicherlich auch für den Arzt ein Idealzustand, wenn er, frei oder doch wenigstens weitgehend frei von administrativer Arbeit, sich mehr der Behandlung und Betreuung seiner Patienten widmen könnte. Der Arzt, der, durch ein gesichertes Einkommen der materiellen Sorgen weitgehend enthoben, seine ganze Kraft in den Dienst der Volksgesundheit stellen kann, der nicht zu Ende des Vierteljahres den fehlenden Krankenscheinen nachlaufen muß, kurz, der Arzt, der nur Arzt sein darf, wäre ja ein ideales Bild, so ideal, daß es nur allzusehr an die Unwirklichkeit eines Wirklichkeit rwürde catiders ‘aussehen.’iEs ist eine alte Weisheit: Wer anschafft, hat zu bezahlen. Anderseits ist es aber genau so sicher, daß der, der bezahlen muß, auch anschaffen will. Im konkreten Falle wäre dies der Staat. Er wird natürlich die Tätigkeit des Arztes „lenken“ wollen. Nun ist der Arzt aber seit jeher gewohnt und dazu erzogen, seine Entscheidungen frei zu treffen. Als Richtschnur dient ihm die beschworene Pflicht, dem Kranken rasch und gründlich zu helfen, und er wird den Weg gehen, der nach seiner Erfahrung am sichersten zu diesem Ziele führt. Diese Entscheidung trifft er allein, einzig seinem Gewissen und seinem Herrgott Rechenschaft schuldig, und dafür trägt er auch jedermann gegenüber die Verantwortung.

Sicher wird sich die Beeinflussung des Arztes durch den Staat nur auf administratives Gebiet beschränken dürfen und nicht auf rein ärztliches. Wo ist aber hier die ‘Grenze? Es hieße Oesterreich schlecht kennen, wüßte man nicht, daß die langsame Einflußerweiterung des Büros — um nicht zu sagen des Amtsschimmels — unaufhaltsam sein wird. Ein Vorgang zeichnet sich hier ab, der — sicher nicht zum Vorteil der Volksgesundheit — durch Beeinträchtigung der freien Entschlußkraft des Arztes geeignet ist, ihn in Gewissenskonflikte zu bringen.

Heute gegen die sozialen Einrichtungen, wie die Krankenkassen sie darstellen, Sturm laufen zu wollen, hieße, einem bitteren Anachronismus verfallen. Die Krankenkassen abzuschaffen und zurückzukehren zum alten Privatarzt, der durch das Honorar der „beati possidentes“ so gut lebte, daß er die Armen und Minderbemittelten kostenlos behandeln konnte, fällt ja doch niemandem mehr ein. Und doch bringt die völlige Sozialisierung große, auf psychischem Gebiete liegende Gefahren mit sich: Wer gegen alles versichert ist, der wird, aus dem Bewußtsein heraus, es könne ihm nichts passieren, leichtsinnig. „Er geht aufs Eis tanzen“, wie der Volksmund von einem nicht als übermäßig klug beleumundeten Tier sagt. Weil nichts passieren kann, wird drauflos gesündigt, bis dann doch etwas passiert.

Hier wäre noch viel Arbeit zu leisten, erzieherische Arbeit, um die Versicherten wieder zur Eigenverantwortlichkeit anzuhalten. Mit Krankenschein- und Rezeptgebühren allein wird man hier nicht das Auslangen finden. An Stelle oder zumindest neben die einschläfernde, ja sogar narkotisierende kollektive Sicherheit hat wieder das Gefühl der individuellen Verantwortlichkeit zu treten.

Außerdem ist der Staat ein anderer Geselle als die Krankenkassen. Diese sind der Aerzte- schaft gegenüber gleichberechtigte Vertragspartner, mit denen man sich an einen Tisch setzen und langsam „zusammenstreiten“ kann, wie es in den letzten Jahren ja auch geschehen ist. Väterchen Staat aber wäre vor allem einmal kein Vertragspartner, sondern ein Arbeitgeber. Noch dazu einer, der die Anstellungsbedingungen eigenmächtig allein bestimmen kann. Wenn der Nationalrat beschließt, dann sind eben Form und Höhe des Gehaltes, Dienstanweisung und Dienstzeitregelung Gesetz, und dagegen gibt es kein Aufmucken. Keine Kündigung des Vertrages, wozu die beiden Vertragspartner berechtigt sind, wäre hier als ultima ratio möglich. Der Griff des Staates nach Beeinflussung eines weiteren Lebensgebietes seiner Bürger, in diesem Falle eines höchstpersönlichen und intimen Lebensgebietes, ist mit dem Gedanken der Demokratie und dem Grundsatz von der Freiheit und Unverletzlichkeit der menschlichen Persönlichkeit unvereinbar. Welches Lebensgebiet soll als nächstes zur Vergewaltigung kommen? Folgt auf die Einheitsrezeptur die Einheitsideologie?

Nein, so soll es nicht kommen! Das Verhältnis zwischen Aerzteschaft und Krankenkassen ist zweifellos nicht jdeal, aber immerhin leidlich. Man hat sich, wie bereits gesagt, zusammengestritten, in manchen Bundesländern sogar bis zu dem Zustande einer guten Zusammenarbeit. Die Patienten sind, glaube ich, mit den Aerzten zufrieden, gibt es ja doch auch reichlich genügend Aerzte. Ebenso sind die Kassen mit ihren Aerzten zufrieden, sie verschreiben nur manchmal zu viele Medikamente und sind oft den Patientenwünschen gegenüber zuwenig „widerstandsfähig“. Neben der gesetzlichen Sozialversicherung gibt es in Oesterreich eine große Zahl privater Krankenversicherungen, so daß auch für die von keiner gesetzlichen Krankenkasse erfaßten Personen die Möglichkeit besteht, für Katastrophenfälle vorzubauen. Warum soll man also einen bestehenden Zustand, der — soweit es überhaupt möglich ist, wenn verschiedene Köpfe unter einen Hut gebracht werden sollen — gut funktioniert, nicht aus praktischen Erwägungen heraus, sondern aus rein prinzipiellen, ideologischen Gründen, gegen ein gefährliches — nicht nur auf finanziellem Gebiet gefährliches — Experiment vertauschen?

Die Aerzte sind selbstverständlich bereit, an jeder Tätigkeit mitzuarbeiten, die dem Wohle und der Gesundheit der Mitmenschen dient. Sie wollen aber ein freier Berufsstand bleiben. Sie sind gewohnt, oft sehr rasch und schnell, ohne vorher in Verordnungsblättern nachzulesen, selbständige Entscheidungen zu treffen. Arzt sein heißt, immer wieder Verantwortungen übernehmen zu können, unter deren Last andere zusammenbrechen würden, Arzt sein heißt aber auch, diese Verantwortung freudig bis zur letzten Konsequenz zu tragen. Sollte man über diese Geisteshaltung nicht froh sein?

Man lasse Oesterreichs Aerzte wie sie sind, der Staat aber bleibe in den Schranken, die ihm bestimmt sind: nicht Beherrscher zu sein, sondern Diener einer Gemeinschaft freier Menschen.

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