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Verzeihen ist kein Fremdwort mehr

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Mit dem „Außergerichtlichen Tatausgleich” kann Tätern und Opfern oft besser geholfen werden, als mit dem traditionellen Strafvollzug. Das bestätigt ein Modellversuch in Graz.

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Mit dem „Außergerichtlichen Tatausgleich” kann Tätern und Opfern oft besser geholfen werden, als mit dem traditionellen Strafvollzug. Das bestätigt ein Modellversuch in Graz.

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Gefängnisse sind unwirksam, schädlich und kostspielig ... Intellektuelle, Juristen, Sozialreformer plädierten in den siebziger Jahren hätifig für eine gefängnislose Gesellschaft. Die 300jährige Geschichte der Strafanstalten habe bewiesen, gaben sie zu bedenken, daß „der Knast” die Verbrechen nicht bekämpft, sondern fördert, weil er die Gefangenen nicht sozialisiert, sondern das Gegenteil bewirkt.

Der Ruf nach neuen Lösungen ist heute, an der Grenze zum dritten Jahrtausend, mehr denn je unüber-hörbar. Die Gefängnisse wurden zwar teilweise besser ausgestattet und der Strafvollzug humanisiert, doch die Gesinnung ist nach wie vor wie die vor Jahrhunderten: Der moderne Mensch unseres Jahrhunderts, der am meisten mit sich selbst zu tun hat, hält sich nicht mit den Außenseitern der Gesellschaft auf. Übersättigt von Nachrichten und Informationen, läßt sich nur ungern vom Schicksal anderer Menschen hier oder anderswo berühren.

Auch Gefängnisse sind Spiegel unserer Gesellschaft, in der die befreiende Wirklichkeit des Verzeihens, der Versöhnung und der Feindesliebe zu Fremdwörtern geworden sind.

„Es fehlen spirituelle Werte, die Familie und die Religion verlieren an Redeutung und die Sekten haben einen enormen Zulauf”, stellt der Gefängnispsychologe Willibald Schmid von Graz-Karlau fest, „und die Gewalttaten nehmen zu. Kein Wunder, wenn Verunsicherung auftritt und der Ruf nach mehr Polizei, mehr ,law and order' laut wird.

In einem Gremium, das unter anderem aus Sozialarbeitern und Psychiatern besteht, entscheidet er mit, wer von den rund 500 Häftlingen in Graz-Karlau ausgehen darf oder nicht. Schmid gibt zu, daß diese Aufgabe, die er für die Institution zu erledigen hat, schwierig ist, „man werde auch leicht berufsblind” ... Für den einzelnen Häftling bleibt dabei wenig Zeit.

Für Schmid ist eine gefängnislose Gesellschaft, wie sie in den siebziger Jahren propagiert wurde, Utopie. „Die Kriminalität als eine Art Krankheit zu sehen, hat Psychologen und Psychiater in Wirklichkeit überfordert.” Und heute? Heute herrsche Ernüchterung: In Osterreich gebe es wenige wissenschaftliche Projekte zu diesem Thema; Schweizer und Holländer seien da viel fortschrittlicher.

Der Außergerichtliche Tatausgleich (ATA) gehört jedoch zu einer der interessantesten Entwicklungen im österreichischen Strafvollzug. Rei Jugendlichen bereits erprobt und 1989 im Jugendstraf recht Österreich -weit gesetzlich verankert, läuft der Außergerichtliche Tatausgleich seit März 1996 auch als Modellversuch für Erwachsene in Graz.

Die Idee: Eine Gruppe Jugendlicher, die beispielsweise einen Spielplatztisch in Rrand gesetzt hat, greift zu Hammer und Säge und setzt den Tisch in Eigenregie wieder instand. Oder: Jugendliche säubern und bemalen in einem Nachmittagseinsatz eine von ihnen beschmierte Wand.

Die Möglichkeiten der Wiedergutmachung sind vielfältig. Reim Außergerichtlichen Tatausgleich ist es möglieh, daß sich Täter und Opfer an einen Tisch setzen und sich mit Hilfe eines sogenannten Konfliktreglers, etwa eines Sozialarbeiters, über eine Wiedergutmachung einigen. Wenn das sogenannte ATA-Verfahren positiv verläuft, muß sich der Täter keinem Strafverfahren bei Gericht unterziehen.

„Vor allem der Geschädigte kommt hier zum Zug”, erklärt Klaus Posch vom Außergerichtlichen Tatausgleich in Graz. Er wird als Mensch ernst genommen. Im Gespräch steht er nicht als Zeuge, was häufig unangenehm und verletzend sein kann, sondern als unmittelbar Retroffener im Mittelpunkt. Darüber hinaus hat der Geschädigte auf diese Art die Möglichkeit, seine Interessen zu artikulieren und seine finanziellen Ansprüche werden rasch und unbürokratisch in einem realistischen Rahmen erfüllt.

Die Möglichkeit eines Außergerichtlichen Tatausgleichs besteht für Jugendliche, wenn ihnen eine Strafe im Ausmaß von nicht mehr als fünf Jahren auferlegt wurde, und für Erwachsene, wenn sie eine Strafe im Ausmaß von nicht mehr als drei Jahren bekommen haben.

Es geht also um „mittlere Kriminalität”. Seriendelinquenten könnten allerdings nicht auf einen Außergerichtlichen Tatausgleich hoffen.

Martha B. trug regelmäßig die Zeitung aus, bis sie eines Tages das Schlüssel versteck im Haus einer alten Dame gefunden hatte. Im Schlafzimmer entdeckte sie die Geldtasche und steckte sie ein. Die Enttäuschung der alten Dame war groß. Schließlich kennt in einem Dorf jeder jeden. In einem ATA-Verfahren konnten sie sich über einen Ausgleich am grünen Tisch einigen.

In den meisten Fällen handelt es sich um Körperverletzung, Sachbenach ATA-Verfahren Rückfälle vorkommen? „Rückfälle sind eigentlich kaum bekannt... selten.” Insgesamt wies die Staatsanwaltschaft bereits 300 Angezeigte der Dienststelle des Außergerichtlichen Tatausgleichs in Graz zu. 70 bis 80 Prozent der Ausgleiche waren erfolgreich, so daß es zu keiner Gerichtsverhandlung gekommen ist. Gewöhnlich dauert ein ATA-Verfahren zwei bis drei Monate. Neben Herrn Posch sind vier Sozialarbeiter beim Äußergerichtlichen Tatausgleich am Franziskanerplatz in Graz beschäftigt.

Noch gilt es, einiges zu entwickeln. Posch setzt sich für eine baldige gesetzliche Verankerung des Außergerichtlichen Tatausgleichs für Erwach -sene ein. Auch könnte er sich vorstellen, daß Erwachsene, die eine Strafe von nicht mehr als fünf Jahren bekommen haben, auch zu einem Verfahren des Außergerichtlichen Tatausgleichs zugelassen werden. Er tritt auch dafür ein, daß sie, wie es bereits für Jugendliche möglich ist, ein Antragsrecht für den Außergerichtlichen Tatausgleich bekommen. Auch gibt es, wie Posch meint, noch keine klaren Zuweisungskriterien der Staatsanwaltschaft bei der Prüfung, ob es zu einem Außergerichtlichen Tatausgleich oder einer Gerichtsverhandlung kommen soll.

Wiedergutmachung ist auch für Karl Rottenschlager, Leiter des Projekts „Emmaus”, einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft für Haftentlassene, Alkoholiker und Obdachlose in St. Pölten, eine Alternative zum traditionellen Strafvollzug. „Ich stehe zur Strafe”, meint Rottenschlager, „aber Strafe soll auch eine Chance zur W iedergutma-chung sein”. Mit seinem Projekt, das er 1982 aufgebaut hatte, macht er keine Schlagzeilen in juristischen Fachzeitschriften für neue Modelle im Strafvollzug, aber er stellt ein Projekt vor, das aus der Praxis kommt: Bereits 1.000 Männer sind durch Emmaus gegangen, rund 600 konnten mit Hilfe von Sozialarbeitern und freiwilligen Mitarbeitern in die Arbeitswelt wieder integriert werden. Neben zwei Notschlafstellen gibt es zwei Wohnheime, in denen je 15 Haftentlassene und Drogenabhängige Gemeinschaft finden. In internen Betrieben, einer Tischlerei, Emailwerkstätte, einem Bautrupp und einem Altwarengeschäft, werden sie für ihren zukünftigen Arbeitsplatz „draußen” trainiert. Insgesamt bietet Emmaus 60 Arbeitsplätze.

„Die Arbeit stärkt das Selbstwertgefühl mehr als das Geld, das sie von der Arbeitslosenunterstützung erhalten. Und warum nicht mehr Geld in solche Projekte stecken als in die Arbeitslosenunterstützung?” , meint Rottenschlager. Er möchte wegkommen von einer „Grüß-Gott-Fürsor-ge”, in der Ausgegrenzte Almosen bekommen und „ihr Leben nur um einen Rausch verlängern”. Ein Jahr lang nach ihrem „Emmaus-Aufent-halt” bekommen sie Hilfestellung und bei der Suche einer Wohnung oder Arbeit.

„Sie kommen häufig mit einem argen Mißtrauen zu uns. Wenn ich sie aber später frage”, erzählt Karl Rottenschlager, „wovon sie träumen, sprechen sie von Partnerschaft und Familie. Und wenn sie es dann aussprechen können, wo ihre tiefste Verwundung ist, wenn sie nach und nach etwas los werden, dann beginnt Heilung. Wenn sie zugeben, daß sie voll Haß sind, und ihre Sehnsucht nach Liebe ausdrücken, dann sind sie imstande, nach und nach zu verzeihen. Auch einer Mutter, die sie mit drei Jahren ins Klosett geworfen hatte oder einem Vater, der 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte.”

Nach neunjähriger Erfahrung als Sozialarbeiter in der Gefängnisanstalt Stein hatte sich Rottenschlager 1982 darauf eingelassen, gemeinsam mit Haftentlassenen, Ausgegrenzten, Alkoholikern und Drogenabhängigen sein lieben zu teilen. Er ist überzeugt, daß solche Menschen andere Menschen brauchen, die mit ihnen eine Wegstrecke gehen, weil sie vielleicht nie die Möglichkeit hatten, von jemandem als Mensch angenommen zu werden und schon in ihrer Kindheit in Heime abgeschoben wurden.

„Unsere Verachtung von Randgruppen”, fügt Rottenschlager hinzu, „produziert und konserviert nur lebendige Leichen in Heimen, psychiatrischen Anstalten, in Gefängnissen und so weiter. Unddiese Projektionen und Feindbilder verhindern letztendlich mit Erfolg die Rückkehr und Integration der Außenseiter in die Gesellschaft!”

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