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Vietnam und die Folgen

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Die im Westen allgemein vorgebrachte Befürchtung, der Krieg in Vietnam könne das mühsam erreichte Gleichgewicht der Blöcke, den mit der kommunistischen Welt gefundenen modus vivendi, vernichten, erweist sich bei der Analyse der Jüngsten Reaktionen Moskaus als durchaus begründet, wenn auch noch nicht als bestätigt. Die sowjetische Koexistenzdoktrin, für die es in der Sowjetideologie keine systematische Darstellung gibt, verdankt ihren Ur-

sprung Stalin und Ihre weitere Ausgestaltung Chruschtschow. Sie kann aber our unter größter Strapazierung der kanonischen Text Lenin als formulierte Theorie untergeschoben werden, wie es Nikita Sergej ewitsch tat, um seine Analyse der Weltlage und sein Aktionsprogramm leninistisch begründen zu können. Seine Nachfolger in der Führung des Sowjetstaates bemühen sich jedoch besonders und stets ihre Politik mit dem Bekenntnis zu Lenins Erbe zu verknüpfen. So verblieb die Koexistenzdoktrin in der Geschichte der sowjetischen Außenpolitik durchaus ein pragmatischer Terminus — der keineswegs besagt, daß er den Zustand der Weltpolitik als Gleichgewicht der antagonistischen Kräfte stabilisieren möchte. Wie komplex das aber vor sich geht und wie die Änderung des Kräfteverhältnisses der beiden Lager forciert wird — dafür ist Vietnam ein Paradebeispiel.

Das Genfer Indochinaübereinkom-men, zu dessen Signatarmächten die Sowjetunion gehört, schuf eine höchst ungünstige Voraussetzung in Indochina für die Entwicklung demokratischer Staatsordnungen im Sinne westlicher Vorstellungen. Nach der französischen Niederlage von Dien Bien Phu, mit der das 1946

wiedererrichtete französische Kolonialregime zusammenbrach, konnten die Kommunisten aus der Position der Stärke heraus verhandeln. Die Schaffung einer Demarkationslinie am 17. Breitegrad, die spätestens im Juli 1956 nach der Abhaltung von Wahlen in ganz Vietnam, die unter internationaler Kontrolle durchgeführt werden sollten, wieder beseitigt werden sollte, schuf die Voraussetzung für die Etablierung zweier vietnamesischer Staaten. Das stand

Im Gegensatz zum Abkommen, das von Frankreich, China und der Sowjetunion, nicht aber von den USA unterzeichnet wurde. Das Abkommen verbot ferner die Errichtung ausländischer Militärstützpunkte in Vietnam, Laos und Kambodscha wie auch den Abschluß von Militärbündnissen.

Dieser „Friede“ führte zu einem Austausch von Bevölkerungsteilen innerhalb Vietnams. Rund 100.000 kommunistische Partisanen gingen aus dem Süden nach dem Norden, und noch viel mehr Katholiken flohen von dort her in den südlichen Landesteil. Die brutale und unversöhnliche Art, mit der die Kommunisten ihre Gegner .gehen ließen“, rückte viel weniger ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit als' die dem Genfer Abkommen widersprechende Schaffung eines selbständigen Südvietnam unter Ngo Dinh Diem im August 1955, der von Anfang an die Zusicherung amerikanischer Unterstützung erhielt. Die Erhaltung der nichtkommunistischen Kräfte schien ohne einen Bruch der Genfer Vereinbarungen im Angesicht des wahren Kräfteverhältnisses undenkbar. An der Abstimmung über die Erklärung der Unabhängigkeit Südvietnams beteiligten sich nur 15 Prozent der Wahlberechtigten im ganzen Lande.

Mit Hilfe des „großen Bruders“

Einen ersten Bruch der Genfer Abkommen stellte der bereits im September 1954 in Manila unterzeichnete SEATO-Vertrag dar, der Indochina in das Schutzgebiet dieses Verteidigungsbündnisses einbezog. Die nichtkommunistischen Kräfte Indochinas konnten der straffen kommunistischen Ordnung des Nordens keine gleichwertige dynamische freie Staatsordnung entgegensetzen. Zwar gelang es Diem, die Lage in Südvietnam vorübergehend zu stabilisieren, aber für die Errichtung einer funktionierenden demokratischen Ordnung waren die Voraussetzungen höchst ungünstig. Der seit 1960 systematisch kämpfende Vietkong kam dem zuvor und schuf die

formal und psychologisch äußerst ungünstige Lage, daß das Regime nur durch die amerikanische Unterstützung sich weiter an der Macht halten konnte. Das seit dem Sturz Diems im November 1963 an innerpolitischer Ruhr leidende Südvietnam ist dem konsolodierten nordvietnamesischen Staat noch offener unterlegen als zur Zeit des gefestigteren autoritären Regimes Präsident Diems. Die Methoden des totalitären Staates, denen Nordvietnam seine Stabilität verdankt, schaden vor der Weltöffentlichkeit der Regierung in Hanoi viel weniger, als die Glaubwürdigkeit der demokratischen Kräfte in Südvietnam durch das innenpolitische Chaos und die

unerläßliche amerikanische Hilfe untergraben wird. Unter Bezugnahme auf die Genfer Indochina-vereinbarungen sind nicht nur die amerikanischen Beweise über die Aggression aus dem Norden haltlos, so sehr sie der Sache nach stimmen mögen, es ist auch die amerikanische Präsenz in Südvietnam auf Grund des Beistandsersuchens der Regierung in Saigon formal unihaltbar.

Die grundlegende Wandlung

Obwohl die Sowjetunion diese vietnamesische Trumpfkarte schon lange in den Händen hielt, spielte sie diese nicht aus, so lange die Vereinigten Staaten die Kriegsführung gegen den Vietkong ohne reguläre Kampfverbände und ohne Schläge gegen seine Nachschub- und Rückzugsbasen in Nordvietnam nur unterstützten. So operierten bereits tausende amerikanischer Berater und US-Air-Force-Piloten im Kampf gegen den Vietkong, als die Koexistenzpolitik mit der Unterzeichnung des Atomteststopabkommens in Moskau ihren Höhepunkt erreichte. Das südvietnamesische Militärbudget wurde de facto auch damals schon zur Gänze von den USA bestritten. Seit den ersten amerikanischen Angriffen gegen Nordvietnam im August 1964 hat sich die Lage nicht nur verschärft, sondern grundlegend gewandelt. Es ist nicht nur der schärfere Ton des

Parteijargons in der sowjetischen Presse, der von kapitalistischen Banditenüberfällen, verbrecherischen Bombardements der amerikanischen Imperialisten und ihrer Seeräuberei in den vietnamesischen Gewässern spricht, es geht vor allem um die in der Ideologie innewohnende Forderung, den nationalen Befreiungskampf der vom imperialistischen Lager unterdrückten Völker tatkräftig zu unterstützen und um die stets bekundete Beistandspflicht der kommunistischen Länder untereinander im Falle eines Angriffes. Die entscheidende Zäsur in der Entwicklung des Konfliktes brachte in dieser Hinsicht die Erklärung Präsident Johnsons vom 24. April 1965, in der er ganz Vietnam und die Gewässer innerhalb eines 100-Meilen-Abstandes von der vietnamesischen Küstenlinie zum Kriegsgebiet erklärte. Hiermit verliert das Vietnamproblem endgültig die Konturen einer möglichen Isolation und wird de facto ebenso in den Gesamthorizont der Ost-West-Probleme einbezogen wie in das Spannungsfeld der sowjetisch-chinesischen Differenzen.

Verglichen mit dem amerikanischen Aufwand ist die sowjetische Militärhilfe für Vietnam, insbesondere für den Vietkong, unbedeutend, aber der taktischen Wirkung nach übertrifft sie ihren Kostenaufwand bei weitem. Die nun im Aufbau befindliche Raketenluftverteidi-gung Hanois durch die Sowjetunion schafft eine viel eindeutigere und viel schwerer rückgängig zu machende Bindung als geheim durchgeschleuste Waffenlieferungen.

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