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Vietnam: Wie es dazu kam

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Amerika — und mit ihm der „Weiten“ und der weiße Mann überhaupt — ist in Vietnam in eine Sackgasse geraten, aus der ohne gefährliche Demütigung und ohne einen noch viel gefährlicheren Atomkrieg gegen China herauszukommen sich die Besten bisher vergeblich bemüht haben. Und doch muß man herauskommen. Die Vermittlungsmission des britischen Premierministers Harold Wilson ist festgefahren.

Um einen Ausweg finden zu können, ist es jedoch unumgänglich, den Vietnamkonflikt nicht nur aus der Gegenwart, sondern aus seiner historischen Entwicklung zu verstehen, da nur ein über die Opportunitätserwä-gungen des Augenblicks hinausreichendes geschichtliches Denken eine Lösung als möglich erscheinen läßt:

Die Geschichte Vietnams ist die Geschichte eines Volkes, das tausend Jahre lang durch China unterdrückt worden war und das deshalb bis zum heutigen Tag China als eine Bedrohung empfindet. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam zum alten Erzfeind China ein neuer fremder Herrscher hinzu: der weiße Mann im französischen Kolonialrock. 1884 wurde Vietnam zum französischen Protektorat erklärt und so ein Bestandteil des französischen Kolonialreichs Indochina.

Zwischen dem ersten und dem weiten Weltkrieg drang, getragen vom nationalistischen Selbständigkeitsstreben, der Kommunismus in Vietnam ein. Als 1940 Frankreich vor Hitler-Deutschland kapitulierte, besetzten die Japaner Vietnam. 1941 wurde, nach chinesischem Vorbild, eine „Front für den Kampf um die Unabhängigkeit Vietnams“, der kommunistische „Vietminh“, gebildet, der sich damals gegen die japanischen Unterdrücker wandte. Der vietnamesische Kommunistenführer Ho Chi Minh nahm Kontakt mit den Alliierten auf und erhielt sogar amerikanische Waffen. 1944 wurde unter Giap — dem heutigen nordvietnamesischen Militärchef — eine vietnamesische Armee gegründet. Im August 1945, nach der Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan, proklamierten die Kommunisten einen allgemeinen Aufstand und besetzten nach der Kapitulation Japans einen Großteil des Landes.

In Jalta forderte Roosevelt, der gegen eine Rückkehr der Franzosen nach Vietnam war, die Schaffung einer internationalen Treuhandschaft über Indochina, an der Nationalchina und die Sowjetunion sich beteiligen sollten. Churchill lehnte das Projekt ab. Inzwischen hatte Ho Chi Minh eine „Demokratische Republik Vietnam“ ausgerufen und sich

in einer Unabhängigkeitserklärung zu den Grundsätzen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 bekannt, die er teilweise fast wörtlich übernahm. Ho Chi Minh hoffte damals auf die Unterstützung der antikolonialistischen Amerikaner, und der amerikanische Verbindungsoffizier zum Vietminh berichtete, der Vietminh habe damals offen seine Sympathie für die Amerikaner bekundet. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 wurde jedoch beschlossen, Vietnam in zwei Besatzungszonen aufzuteilen. Im Norden sollten nationalchinesische Truppen Tschiangkaischeks, im Süden die Engländer die Japaner entwaffnen. Gleichzeitig entsandte aber auch das Frankreich de Gaulles Truppen nach Vietnam. 1946 schloß Frankreich einen Vertrag mit Tschiangkaischek, in dem Frankreich auf seine Rechte in China verzichtet, während Tschiangkaischek sich verpflichtet, Nordvietnam zu räumen und dieses den französischen Truppen zu überlassen. Ho Chi Minh war in dieser Situation bemüht, eine Verständigung mit den Franzosen zu erreichen, und schloß mit diesen ein provisorisches Abkommen, in dem Frankreich die Unabhängigkeit der „Demokratischen Republik Vietnam“

— mit eigener Armee — innerhalb des Rahmens der französischen Union anerkannte.

Es kam, wie es kommen mußte, nämlich zu Zwischenfällen zwischen Nationalisten und französischer Kolonialmacht. Im November 1946 beschossen französische Kriegsschiffe

— als „Vergeltungsaktion“ — die Hafenstadt Haiphong, was Tausende von Toten forderte;. Amerika duldete dieses Vorgehen Frankreichs. Am 19. Dezember 1946 begann General Giap die französischen Garnisonen in Hanoi anzugreifen, während Ho Chi Minh sich mit seiner Regierung in die Berge zurückzog: der Indo-chinakrieg hatte begonnen.

Während Stalin das Vorgehen Ho Chi Minhs nicht billigte und dem Vietminh zunächst keine Unterstützung gewährte, begannen die Amerikaner nach dem Sieg Mao Tse-tungs in China den französischen Kolonialkrieg massiv zu unterstützen. Von 1950 bis 1953 erhielt Frankreich jährlich etwa 500 Millionen für den Indochinakrieg bestimmte Dollar von den USA. 1954 wurde eine amerikanische Luftbrücke Paris— Indochina errichtet, um 1000 französische Fallschirmjäger ins Kampfgebiet fliegen zu können. Amerikanische Bomber und Jagdflugzeuge wurden nach Hanoi geflogen und den Franzosen zur Verfügung gestellt. Vizepräsident Nixon erwähnte die Möglichkeit des Einsatzes amerikanischer Landtruppen, falls die Franzosen sich zurückziehen würden.

Doch der Sieg des Vietminh war nicht aufzuhalten. Am 1. Mai 1954 begann die Genfer Ostasienkonferenz, die, unter Beteiligung der USA und Rotchinas, das seinerseits — wie später auch die Sowjetunion — Nordvietnam mit Waffen unterstützt hatte, eine politische Lösung des Konflikts suchen sollte. Am 7. Mai fiel Dien Bien Phu, wodurch das Schicksal dieses Krieges zugunsten des Vietminh entschieden war.

Auf der Genfer Ostasienkonferenz vom Sommer 1954 wurde zwischen dem Oberkommando des Vietminh und dem französisch-vietnamesischen Oberkommando ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das unter anderem vorsieht]

• Verbot des Einführens von Waffen und Truppen nach Vietnam,

• Verbot der Schaffung neuer militärischer Stützpunkte,

• Verbot der l': i 'ederung der Teile Vietnams in militärische Bündnisse.

Gleichzeitig veröffentlichte die Konferenz eine Schlußerklärung, in der von diesem Abkommen zustimmend Kenntnis genommen wird.

Die USA haben diese Erklärung nicht unterschrieben. Dulles begründete dies damit, daß die USA in Indochina keine kriegführende Macht gewesen seien. Statt dessen gaben die USA eine Sondererklärung heraus, in der sie von dem Abkommen Kenntnis nehmen, „einschließlich der Erklärung“. Bao Dai, Kaiser Indo-chinas, protestierte gegen das Abkommen, trat aber der Erklärung bei. Dasselbe tat Ho Chi Minh. Da durch das Abkommen Vietnam geteilt wurde und der Norden dadurch die südliche Reiskammer verlor, ohne die er nicht leben konnte, muß es Ho Chi Minh schwergefallen sein, dem Abkommen zuzustimmen. Außerdem kontrollierten seine Truppen einen ansehnlichen Teil Südvietnams, den er nun wieder verlieren sollte. Seine Zustimmung zum Abkommen war offensichtlich eine Konzession an die sowjetische Koexistenzpolitik.

Drei Tage vor jenem 20. Juli 1955, an dem laut Genfer Erklärung Hanoi und Saigon hätten zusammensitzen sollen, um die allgemeinen Wahlen vorzubereiten, erklärte der — schon von den Franzosen eingesetzte — südvietnamesische Ministerpräsident Ngo Dinh Diem, seine Regierung habe das Genfer Abkommen nicht unterzeichnet und fühle sich daran nicht gebunden. Es könne in Anbetracht des Unterdrückungsregimes in Hanoi keine Rede davon sein, Vorschläge von dieser Regierung entgegenzunehmen, solange nicht bewiesen sei, daß dieses Regime die Interessen der nationalen Gemeinschaft höher stelle als den Kommunismus. Gleichzeitig beschließt Diem, seine Offiziere in den USA ausbilden zu lassen. In Saigon werden Mitglieder der internationalen Kommission tätlich angegriffen.

Auf Intervention Nehrus beschließen die drei Westmächte, auf Diem einen Druck auszuüben, damit er Kontakt mit Hanoi aufnehme. Diem antwortet negativ. Bis 1959 trat Ho Chi Minh für eine Wiedervereinigung Vietnams ein. Im Juli 1956

appellierten Großbritannien und die Sowjetunion ein zweitesmal an Diem, das Genfer Abkommen einzuhalten. Diem, der sich unterdessen durch ein Plebiszit an Stelle Bao Dais zum Staatichtf hatte ernennen lassen, antwortete, freie Wahlen seien undurchführbar, solange in Nordvietnam ein Zustand der Unfreiheit herrsche.

Ho Chi Minh hatte in dieser Zeit deutlich zu erkennen gegeben, daß er gewillt sei, einen relativ unabhängigen Kurs zu steuern. Aber sein nationalistischer, „titoistischer“ Kurs wurde in den Augen des prochinesischen Flügels seiner Partei durchkreuzt durch das Vorgehen der USA in Südvietnam. Im Februar 1958 legte Eisenhower dem Kongreß eine Botschaft vor, die eine massive Militärhilfe an Südvietnam vorsah. Damit war Ho Chi Minhs Politik endgültig desavouiert. Der prochinesische und der nationalistisch-revolutionäre Flügel unter General Giap gewannen in Hanoi offensichtlich die Oberhand. Im April 1959 beschloß das Zentralkomitee der KP Nörd-vietnams, den revolutionären Kampf zu intensivieren. Es war der Beschluß, die Wiedervereinigung durch den Guerillakrieg zu erzwingen.

Nach dem Beschluß des Zentralkomitees der KP Nordvietnams, den revolutionären Kampf zu intensivieren, wurde der Vietkong gebildet. Da vor der Teilung Vietnams durch die Genfer Konferenz die Armee Ho Chi Minhs bereits einen Teil Südvietnams kontrolliert hatte, verblieb nach der Teilung ein beträchtlicher Teil dieser ehemaligen Armee im Land. Auf diese Leute griff man zurück, um den Vietkong zu bilden, der im Herbst 1959 den Kampf aufnahm. Ein Jahr später bildete sich v/eiter die „Nationale Befreiungsfront Südvietnams“, eine Organisation, die sich aus zahlreichen, auch nichtkommunistischen Gruppen zusammensetzt. In Hanoi selbst dauerten 'jedoch selbst nach dem Beschluß, den Guerillakrieg zu beginnen, die politischen Auseinandersetzungen über den gegenüber Südvietnam einzuschlagenden Kurs mit unverminderter Heftigkeit an. Noch am 30. April 1963 erklärte Ministerpräsident Pham Van Dong, der zum prosowjetischen Flügel gehört und die Ansichten Ho Chi Minhs wiedergeben dürfte: „Die friedliche Wiedervereinigung des Landes bedeutet, daß die Wiedervereinigung nicht durch einen Krieg und mit Waffengewalt erreicht wird, andern durch Ver-

handlungen, Übereinkommen und gegenseitige Konzessionen, ohne Zwang und Annexion der einen Seite durch die andere.“ Sein Satz, die Wiedervereinigung sei „eine Angelegenheit des vietnamesischen Volkes und niemand hat das Recht, sich dabei einzumischen“, könnte sehr wohl nicht nur gegen die Amerikaner, sondern auch gegen die Chinesen gerichtet sein.

Aber das Jahr 1963 markiert auch die Schwenkung Hanois ins Lager Pekings — die freilich keineswegs endgültig zu sein braucht, berücksichtigt man die traditionelle Chinesenfeindschaft der Vietnamesen —, die sich zum erstenmal eindeutig in der Weigerung Hanois manifestierte, das Abkommen über die Einstellung der Atomversuche zu unterschreiben (August 1963).

Über die Entwicklung in Südvietnam braucht hier kaum mehr viel gesagt zu werden. Diem wurde am 1. November 1963 gestürzt und ermordet.

Wenn die Geschichte dieses Konfliktes eines lehrt, dann ist es wohl dies, daß wir einen Fehler begehen, wenn wir den Vietnamkonflikt nur unter dem Aspekt „Kommunismus— Antikommunismus“ betrachten. In erster Linie handelt es sich bei diesem Konflikt um einen Emanzipationsversuch eines Kolonialvolkes, um eine nationalistische Befreiungsund Unabhängigkeitsbewegung. Daß diese von den Kommunisten in die Hände genommen und ihren Zielen dienstbar gemacht werden konnte, ist nicht zuletzt den Fehlern der Franzosen und Amerikaner zuzuschreiben. Und selbst der aufrichtigste Antikommunismus, dem es wirklich um die Freiheit und die Demokratie und das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht, wird an jener Wahrheit nichts ändern können, wie sie eine der -. besten Kennerinnen Asiens, Lily Ahegg, einmal umschrieb: „Die Emanzipationsbewegung ist noch nicht beendet — das ist es, was begriffen werden muß. Sie wird in Ostasien und Südostasien nicht beendet sein, bis es in dieser Weltgegend kein oder fast keine amerikanischen und britischen Militärstützpunkte mehr gibt. Der Wunsch, jeden okzidentalen Machteinfluß gänzlich loszuwerden, liegt im Herzen jedes Ostasiaten oder Südostasiaten, gleichgültig, ob er augenblicklich neutralistisch, prowestlich oder kommunistisch eingestellt Ist“

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