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Völkerrecht - heute?

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Die Academic de Droit International trat heuer zum zweitenmal nach Kriegsende wieder in Den Haag zusammen. Der freundliche Rahmen der Tagung in dem gastlichen und ruhigen Holland und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Vortragenden und Hörern aus 50 Nationen schufen eine Atmosphäre des Wohlwollens und Vertrauens, die .der Erörterung von Völkerrechtsproblemen günstig war. Jeder Blick in die Zeitung allerdings rief freilich jedem Teilnehmer die Tatsachen der Gegenwart mit brutaler Deutlichkeit wieder ins Gedächtnis. Hat es unter den heutigen Umständen wirklich noch einen Sinn, von Völkerrecht zu sprechen?

Da sprach Professor Whitton (Princeton, USA) über die völkerrechtlichen Beschränkungen der Auswüchse der Propaganda und mußte uns dann mitten in seinem Vortrag mitteilen, daß der zu diesem Zweck im Vorjahr abgeschlossene Genfer Vertrag soeben gekündigt worden sei. Da sprach Professor

Kisch (Amsterdam) über die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung des internationalen Privatrechtes und mußte uns dennoch gleich einleitend gestehen, daß nicht mehr als fünf Staaten an den diesbezüglichen Haager Konventionen aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg heute noch festhalten. Nützt es etwas, mit Professor Reut-Nicolussi (Innsbruck) zu fordern, daß auch das Individuum, und zwar gerade das des Schutzes eines eigenen Staates entbehrende menschliche Strandgut der Weltkriege, Subjekt des Völkerrechtes werden sollte, wenn die neueste Praxis Einzelpersonen die geforderte Völkerrechtsfähigkeit wohl gewährt, um sie zu bestrafen, nicht aber, um sie zu schützen? Soll man da nicht resignieren? Ist es nicht erschütternd, Professor Scelle (Paris) in einem meisterhaften Vortrag die Gründe darlegen zu hören, die nach allen Gesetzen der Logik die Menschheit wirklich von der Notwendigkeit einer Weltföderation überzeugen müßten, wenn man schließlich seiner traurigen Schluß-

folgerung beistimmen muß, daß die Menschheit wahrscheinlich doch nicht der Logik folgen wird, sondern seiner Meinung nach die notwendige Weltföderation wohl eher „aus dezentralisierenden Maßnahmen eines Welteroberers“ hervorgehen dürfte.

Soll man mit Professor Gajzago (Budapest) der Gefahr politischer Stellungnahme dadurch ausweichen, daß man in der Vergangenheit Trost sucht? Die Tatsache, daß einst souveräne Städte und Täler Teile ihrer Souveränität freiwillig aufgaben, daß also eine Möglichkeit von internationalen Zusammenschlüssen auf der Basis der Gleichberechtigung ohne Hegemonie besteht, sei nicht geleugnet. Allein beweisen schon die Beispiele der Hansa, der Schweiz und der USA, daß die allgemeine Entwicklung wirklich in dieser Richtung verläuft? Wie viele Beispiele blindwütiger nationaler Eigenbrötelei könnten nicht dagegen angeführt werden. Der Blick auf die Vergangenheit ist nicht immer trostreich. Professor Bastid (Paris) zeigte, wie schön die Ideen der Souveränität und des Nationalstaates zur Zeit ihrer Schöpfer erschienen. Was würden die Männer von 1789 und 1848 wohl zu deren gegenwärtigen grauenhaften Zerrbildern sagen? Audi die Tatsache, daß damals Versuche zur Gründung eines Völkerbundes unternommen wurden und scheiterten, ist für die heutigen ähnlichen Bestrebungen nicht gerade ermutigend. Geradezu beschämend für unsere heutige Zeit waren aber die Untersuchungen M. Gardots (Angers), der aus den Memoiren der französischen Söldnerführer des 16. Jahrhunderts deren Begriffe von Kriegsrecht herausarbeitete. Diese rauhen Landsknechte übten Rücksichten, die einem heutigen Soldaten mehr als lächerlich vorkommen würden. Die Begründungen, die sie für die Menschlichkeit ihrer Kriegführung geben, zeigen uns so recht, was unserem heutigen Völkerrecht fehlt. Diese Feldherren des 16. Jahrhunderts handelten aus einer christlich-humanistischen Gesinnung und ritterlichen Tradition heraus, die Freund und Feind in gleicher Weise band. Wo aber finden wir heute noch Ideale, die den Gegnern unserer Weltkriege gemeinsam sind? Der Wert solcher gemeinsamer Ideale für die Achtung der Völkerrechtsregeln liegt auf der Hand. Aber geht die Aufgabe der Schaffung oder Wiederbelebung solcher für die ganze Welt gültigen Ideale nicht über die Kräfte der Juristen?

Sollten wir Juristen uns nicht vielmehr darauf beschränken, wie Prof. Keeton (London) in seinem Vortrag sich darauf beschränkte, abgeschlossene Erscheinungen des Völkerrechts, also zum Beispiel das Werden und Vergehen der Kapitulationen im Fernen Osten, zu beschreiben? Solche Arbeiten sind aber — wie Professor Keeton betonte — nur als Grundlage für Erkenntnisse sinnvoll, die sich in der Gegenwart anwenden lassen. Ehe Rechtswissenschaft ist doch in erster Linie dazu da, die heutigen Probleme für unsere heutige Zeit zu lösen. Soll man dieser Methode des Registrierens der tatsächlichen Ereignisse aus den gegenwärtigen Vorgängen das geltende Völkerrecht abzuleiten versuchen? Soll man also auch im Völkerrecht Rechtspositivist sein? Dies scheint mir hier — wo so wenig gesalztes Recht besteht — noch gefährlicher als im übrigen Recht. Von einem Völkerrecht bliebe dabei nicht viel übrig, da dann praktisch der Satz gelten würde: „Erlaubt ist, was geschieh t.“ Höchstens könnte man noch die juristischtechnische Seite des Völkerrechtes behandeln, also zum Beispiel wie Professor Sereni (Ferrara) die Wahrnehmung der Interessen dritter Staaten im Völkerrecht besprechen. Selbst da aber müßte man alle unter diesem Deckmantel vorgenommenen zwangsweisen Bevormundungen als völkerrechtsmäßig. ansehen. Dieser Rechtspositivismus führt dazu,, daß Professor Sereni zum Beispiel die Anschauung vertritt, die Haager Landkriegsordnung gelte, wie schon ihr Name sage, nur für die Dauer des Krieges, nachher könne der Sieger mit dem Besiegten tun, was er wolle — wie es ja praktisch auch geschehe. So wohltuend ein drastischer Realismus nach so viel Idealismus, der vor den Tatsachen der Gegenwart die Augetf zu verschließen schien, wirkte, muß man ihn doch als Lösung abUm.en. Das Völkerrecht sänke bei einer solchen Wertung auf die Stufe der Geopolitik herab. Auch hier wäre dann die Politik von heute der wissenschaftliche Grundsatz von morgen, die Politik somit von den letzten schwachen, selbst heute noch bestehenden Fesseln befreit. Das Völkerrecht hätte damit seinen Zweck, die Beziehungen zwischen den Staaten zu regeln, endgültig verloren.

Was bleibt uns also? Die Vortragenden der Haager Academie haben es erkannt. Der von ihnen vertretene Idealismus ist nicht so weltfremd, wie er scheint. Wenn' wir nicht das Völkerrecht ganz aufgeben wollen, müssen wir eben Künder seiner Ideale werden, gerade in einer Welt, die sich so leicht darüber hinwegsetzt. So vertrat Professor Rousseau (Paris) entgegen aller heutigen Praxis die Beschränkung der Souveränität, so trat Professor Salvioli (Florenz) für naturrechtliche Grundsätze im Völkerrecht ein, so entwickelte M. Gutt eine Lösung für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas im Rahmen der UNO. Dieser Idealismus kann auf die Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Mr. Fitzmaurice, der Rechtsberater des Foreign Office, zeigte bei der Besprechung des italienischen Friedensvertrages, welche seiner Bestimmungen dem herrschenden Völkerrecht entsprechen und welche von ihm abweichen. Der praktische Wert der klassischen Lehren des Völkerrechtes liegt hier besonders darin, daß sie zur Auslegung der unklaren Bestimmungen und zur Ausfüllung der Lücken des Vertrages herangezogen werden. Professor Battifol (Paris) betonte wohl, daß das Ideal des Völkerrechts und das Interesse der Einzelmenschen ein einheitliches internationales Privatrecht fordere, hielt aber doch auch das Interesse des Staates am Schutz seiner eigenen Rechtsordnung für verständlich. Mr. Yuen-li Liang (China) sagte über die Arbeit der Kommission der UNO zur Kodifikation des Völkerrechtes, deren Vorsitzender er ist, daß es zwar nützlich sei, die wenigen unbestrittenen Regeln, zum Beispiel die des internationalen Wechselrechtes, zu kodifizieren, die Hauptarbeit sei dies aber nicht. Es sollen vielmehr freie Wissenschaftler die Lehren des Völkerrechtes so aufzeichnen, wie sie nach ihrer Meinung am besten sein sollten, ohne Rücksicht darauf, ob die Tatsachen diesen Idealen zu widersprechen schein en.

Trotz meiner anfänglichen Skepsis sehe auch ich jetzt die Nützlichkeit der weiteren Verkündung der klassischen Ideale des Völkerrechtes ein. Genau so wenig wie Priester dürfen die Verantwortlichen müde werden, diese Ideale des Rechten und Guten zu verkünden, selbst in einer Welt, die hievon anscheinend nichtsmehr wissen will. Die stete Wiederholung dieser Lehren dient dazu, denen, die sich darüber hinwegsetzen, ins Bewußtsein zu rufen, daß sie unrecht tun. Selbst wenn sie sich darum nicht zu kümmern scheinen, wäre ihr Tun vielleicht noch hemmungsloser, wenn sie unwidersprochen der Meinung sein könnten, daß es Recht sei.

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