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Völkerrecht und Recht der Völker

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Die Gegeneinanderstellung dieser Worte spiegelt einen ewigen Gegensatz wider, jenen zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit. — Der Untertan gegen den Staat, das Individuum gegen das Kollektivum, ein Kampf der Interessen und der Notwendigkeiten. ;— Die Rechtsgeschichte zeigt uns, daß dieser Kampf seit Urzeiten im Gange ist. Vorerst' hat er sich auf dem Gebiete des Privatrechts abgespielt. Dieses wurde in den letzten Jahrhunderten immer mehr durch die Einzelwillkür eindämmende oder aufhebende Sätze zwingenden Rechts durchbrochen, die, im Interesse der Allgemeinheit geschaffen, nichts anderes sind als öffentliches Recht. Große Teile des Privatrechts mußten zurückweichen und Gebiete an das öffentliche abgeben. Beispiele: das gesamte Arbeitsrecht und große Teile des Miet- und Pachtrechts. — Doch ist es das große Problem geblieben, in richtig gezogener Mittellinie den harmonischen Zusammenklang zwischen den Rechtsbedürfnissen des Volkskörpers als Ganzes und seiner einzelnen Menschen zu finden; Rechtsfrieden m der Heimat. — Kein anderes Bild zeigt sich uns, wenn wir über die Grenze unseres Landes hinausschaoen. Was in diesem der Einzermensch, das ix im internationalen, die Welt umspannenden Rechte jeder selbständige Staat. Er ist das „Individuum“ mit Eigeninteressen, die er gegen die Völkergemeinschaft als das Kollektivum geltend macht. — Ist dieses ein Rechtssubjekt, das Wort scharf und richtig verstanden? Das ist die große Frage unserer Tage, deren Bejahung nun sichtlich vor uns steht. Die Frage lautet: Wölbt sich über die Staaten des Erdballes ein „Oberstaat“ a 1 s j u r i-stische Organisation? Als Rechtssubjek?? Als übergeordnete, normensetzende Obrigkeit, deren Geboten die Staaten ebenso unterworfen sind wie im einzelnen Lande dessen Bewohner? Ist dieser Weltstaat in statu nascendi? Nicht nur als augenblickliche Eingriffe in die Rechtslage verschiedener Länder, sondern als eben beginnende Dauereinrichtung. Die Menschheit will sich organisieren. Wird es bei einigen zentripetalen Bestrebungen bleiben, die bestenfalls neben den zentrifugalen Einzelstaatlichkeiten sich würden bruchstückweise behaupten können? — Recht ohne Macht, ohne Organe, das ist leeres Gedankengebilde ohne reales Sein. — Wo Organe zur Durchfuhrung des Rechtswollens entstehen, dort

ufet! ewi Rechtssubjekt geboren, das febt, weil es den Willen hat und die Macht übt, Rechtsnormen zu sdiaffen und ihre Befolgung zu erreichen, sei es durch freiwillige Befolgung, sei es durch Zwang Zeigt sich im Bilde unserer Zeit ein solcher sich allem überordnender Wille und Machtkörper, dann ist ein menschlicher Gesamtstaat im Werden.

In der Tat hat eine Reihe großartiger Zusammenschlüsse das Licht der Welt erblickt. Einige von ihnen gehören nicht in unseren Gedankenkreis. Sie sind weltkaritative Hilfseinrichtungen, Werke wohltätiger Menschlichkeit, keine Organe einer Weltgesamtheit. Die so segensreich wirkende UNNRA ist hier zu nennen. Nichts anderes ist zu sagen von der UNO, von der UNESCO, der SAO. Noch ist kein Organ entstanden als einziges, die Spitze der Rechtspyramide der ganzen Menschheit krönendes Rechtssubjekt. Nur durch Selbstgeburt kann dieses entstehen, die zur Zek herrschenden Großmächte können nur Geburtshelfer sein, nicht die Väter. Schon sehen wir als Vorboten klimmenden Lebens embryonale Bewegungen. Die Initiative konnte während des Krieges und der Zerspaltung aller Völkergemeinschaft nar von den alliierten Mächten ausgehen. Am 14. August 1941 sprachen England und die Vereinigten Staaten in der Atlantik-Charta, Punkt 5, von „weitgehender Zusammenarbeit aller Völker au! wirtschaftlichem Gebiet“. Der Gedanke einer juristisch unterbauten Weltgemeinschaft als selbständiges, übergeordnete Rechtssubjekt tritt noch nicht hervor. Ebensowenig in der von 19 Staaten unterzeichneten ..Erklärung der Vereinten Nationen“ vom 3. Juni 1943 (Ernährungskonferenz), wo die Ernährung der Menschheit als eine Weltgesamtaufgabe aufgefaßt erscheint. — Einen entscheidenden Schritt tat das amerikanische Abgeordnetenhaus durch den „Fulbright-BeschUiß“ vom 21. September 1943. Unter Zustimmung des Senats sprach er aus, die „Schaffung eines geeigneten internationalen Verwaltungsmechanismus“ solle stattfinden, dessen Grundaufgabe es sein werdi, „einen gerechten dauerhaften Frieden zu erhalte n“. Also nicht nur an den einmaligen Rechtsakt der Friedensverträge wurde gedacht, sondern an ein bleibende Organ zw Erfüllung weltrechtlicher Aufgaben. Dadurch haben die Amerikaner zum ersten Male den Gedanken einer selbständigen Rechtssubjektivität der Völkergesamtheit ausgesprochen. — Der „Verwaltungsmechanismus“ dagegen, den der Absatz 8 der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 eingesetzt hat, beschränkte sich auf die gemeinsame Kriegführung, also auf eine vorübergehende Tätigkeit. Dennoch verkündete sie in ihrer „Erklärung über die allgemeine Sicherheit“, Punkt 4, eine „allgemeine internationale Organisation“ sei zu errichten, begründet „auf der gleichen Souveränität aller friedliebenden Staaten, ob groß, ob klein“, die am 30. Oktober 1943 Mitglieder der am 1. Jänner 1941 zu Washington gegründeten Vereinigung von Völkern waren oder es durch Beitritt geworden sind. — Im „Connaily-Beschluß“ vom 5. November 1943 verlangte der amerikanische Kongreß die „Schaffung und A u f r e c h t e r h a 11 u n g einer internationalen Obrigkei t“. — Eine Organisation, wenn auch keine Obrigkeit steht vor uns, die UNNRA (Übereinkommen vom 9. November 1943). Ihr Grundvertrag kann aber (Artikel X) von jeder Mitgliedregierune allzeit und ohne Begründung aufgekündigt werden. Also liegt nur eine Versammlung von Einzelrechtssubjekten vor, nicht ein einheidiches Organ einer Gesamtheit. Die UNNRA ist nur Mandatar, Beauftragter, der Mitgliedstaaten. Denselben Rechtscharakter hatte die „Währungs- und Finanzkonferenz“ von Brettern Woods. Sie schuf eine international arbeitende „Bank für Wiederaufbau und Aufschließung“, gewidmet der Wiederherstellung und dem Schutze des Geldwesens ki Staaten, die sich anschließen; eine Art riesige Kreditgenossenschaft, aber keine Weltgesamteinrichtung, die alle souveränen Staaten der Erde umfassen würde: eine Saiie der Währungszersplitterung ohne den ' Gedanken an eine einheitliche Währung, ein „Weltgeld“ und eine „Weltbank“* wie sie der Schreiber dieser Zeilen 1946 m zwei Veröffentlichungen angeregt hat.

fe den erwähnten Gründungen zeigt sich immer mehr der Wille zu internationaler Zusammenarbeit aller Erdvölker.

— Sogar von eraem „Äf Stimmung sv e r f a h r e n“' war schon die Sprache. Wie im Irrlande der Staat gebietend, normensetzend, zwingend allen übergeordnet ist, so müßte die verkörperte Menschheit allen Staaten übergeordnet sein. Sdiüfe die kommende Zeit eine als bleibend gedachte weltverbindliche Einrichtung, wäre es auch nur für eine gemeinsame Einzelaufgabe, so stünde das oberste Rechtssubjekt vor uns, dem weder etwas übergeordnet noch gleichgeordnet sein kann. Würde man, wenn auch ohne den Gedanken einer zentralen Wcltregierung, Einzelaufgaben in Angriff nehmen und sie in die Hände gewählter Funktionäre oder ständiger Beamter — Weltbeamter! — legen, dann wäre das Rechtssubjekt Menschheit, Corpus humanum, human body vorhanden. — Als vor Jahren Zukunftsschwärmer vom „Weltparlament“ sprachen, verlachte man sie. Weltparlament, etwas Unmögliches! — Aber ist nicht so vieles Unmögliche heute Tatsache, und tägliche Erscheinung? Luftfahrt, Unterseeboot, Fernsprecher, Rundfunk und bald auch Fernsehen, alles hielt man für „unmöglich“. Da sich der zweite Weltkrieg seinem Ende zuzuneigen begann, wuchsen immer kräftiger, drängender die Gedanken eines menschlichen Gemeinschaftsrechtes empor. Man zerbricht sich nicht mit Theorien den Kopf, sondern handelt praktisch. Wir sehen Realitäten vor uns. In Nürnberg tagte und sprach ein internationaler Gerichtshof, er zog Menschen vor sein Gericht, die „internationaler“ Verbrechen angeklagt und für die Verletzung des zwar nicht geschriebenen, aber im Bewußtsein der gerecht denkenden Menschen zutiefst ruhenden „natürlichen“ Rechtes bestraft wurden. Man kann hier von einem aus Richterspruch erwachsenen Strafrecht sprechen, von einem Cases law, wie es seit Jahrhunderten die Entstehungsart des Common law, des gemeinen Rechts, in England und Nordamerika ist, das allen anderen Rechtsqueßen übergeordnet ist. Die Nürnberger Urteile schufen ein Weltstrafrecht. Tathandlungen, die vom alten Völkerrecht nicht nur geduldet waren, sondern geregelt und erlaubt waren, vor allem der kriegerische Überfall, sind heute internationale Verbrechen, strafbar vor einer internationalen Gerichtsbarkeit. Der britische Generalstaatsanwalt Sir Shaw-cross hat recht gehabt, da er von „internationalen Verbrechern“ sprach. In Amerika bezeichnete man es kürzlich als internationales Verbrechen, dringend benötigte Bedarfsgüter aus preistreiberischem Egoismus zu vertilgen, anstatt sie zu gemäßigtem Preis auf den Weltmarkt zu bringen. In meiner Rektorsrede 1924 habe ich schon auf solche Sünden gegen das Menschentum hingewiesen, als in Südamerika Schiffsladungen Baumwolle verbrannt und tausende Säcke Kaffee in das Meet geworfen wurden, damit ein hoher Weltpreis aufrecht bleibe.

In Nürnberg sprachen Verteidiger dem Gerichtshofe den Besitz der Gerichtsbarkeit ab'; die Angeklagten hätten ihre Taten als deutsche Reichsbürger auf deutschem Staatsboden begangen, unterlägen also nur einer deutschen Gerichtsbarkeit. Die Richter bejahten aber ihre Gerichtsbarkeit; sie waren nicht deutsche Richter, waren internationale Richter. Via facti entstand ihre Gerichugewalt. Weltiustiz wird eine bleibende Einrichtung sein.

Eine zum Rechtskörper gewordene Menschheit kann nur Totalität sein. Vorläufig nimmt die UNO nur die „friedliebenden“ Staaten in sich auf Wer sind diese? Wer hat dieses Grundmerkmal sicher und anerkannt festzustellen? Oder wird man wieder den Fehler des Völkerbundes begehen, der ursprüngliche und zugelassene Mitglieder hatte; die übrigen Staaten waren Nichtmitglieder. Sind die zur UNO nicht hereingenommenen Staaten die „kriegsliebenden“? Gibt es solche? — Ein anderes Gebrechen des Völkerbundes war, daß seine Beschlüsse der Einstimmigkeit bedurften. Die Gesamtheit mußte vor der Stimme eines einzigen, wenn noch so unbedeutenden Staates zurückweichen, das von der größten Mehrheit ausgesprochene Weltinteresse blieb unbefriedigt. Die Minderheit konnte ihren Willen der Mehrheit aufzwingen. Dabei wurden die Stimmen gezählt, nicht gewogen: bürokratische Schablone. Ähnlich liegt jetzt ein Stein des Anstoßes quer über dem Weg, das vielbesprochene Vetorecht der Großmächte. Ein Weltparlament ohne Abstimmung ist sinnlos, wäre nur ein Sprechklub. Abstimmungen, die- nichts bedeuten, weil ein Nein dazwischen fährt, nehmen der ganzen Organisation Ansehen und Wert. Neuestens wird von einer Abgrenzung des Vetorechts gesprochen. Angrenzend wäre eine andere Frage, ob für wichtige Beschlüsse der UNO eine erhöhte Mehrheit der Stimmen, Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit, gefordert werden sollte, auch ob die Großmächte ein besonderes Stimmengewicht anstreben werden. Wie es auch sei, nur wenn die Beschlüsse der Weltversammlung die Einzelstaaten binden, ihre Befolgung Rechtsgebot ist, steht ein oberstes Rechtssubjekt vor uns, die organisierte Menschheit. Sie ist das aber nur, wenn ihr alle selbständigen Staaten der Erde, weil sie solche sind, von selbst angehören, nicht erst auf Grund einer Zulassung, die auch verweigert werden könnte. Nur dann ist der Weltrechtsbund das Corpus humanum, die naturwissenschaftlich zu verstehende Einheit der Gattung: Mensch, der Gotteswelt des Erdballs. Wenn er das ist, würde von selbst ein Rechtsgrundsatz wieder gelten, der einst geherrscht hat: Reichsrecht bricht Landesrecht. Dieser oberste Leitsaz der Weltrechtsordnung würde nun lauten: Das Völkerrecht geht dem Rechte der Völker vor.

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