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Völkerrecht und Sowjetunion

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Mit der Oktoberrevolution 1917 gerieten die Geistes- und Sozialwisscnschaften Sowjetrußlands mehr oder minder entscheidend unter den Einfluß des Marxismus. Im Laufe der 30jährigen Geschidite des Sowjetstaates haben jedoch eine Reihe von eigenen, praktischen Erfahrungen der Sowjetleitung diese offiziöse Linie etwas abgelenkt und die bekannte „Evolution“ bewirkt vom orthodoxen Marxismus zum „Stalinismus“'. Dieser Wandel verdient gerade in einer Wissenschaft, die der Politik besonders nahesteht, das allgemeine Interesse.

Wie die gesamte Innen- und Außenpolitik so war audi die Völkerrechtstheorie der Revolutionäre in den ersten zehn Jahren vorwiegend ideologisdi beeinflußt, daher sahen sie, bestärkt durch die damalige Situation, die Außcnbeziehungen der Staaten lediglich als klassenbedingt an. Die vom Westen geförderten Versuche, mit Blockade und bewaffneter Intervention die Diktatur des Proletariats zu brechen, die Wiederanerkennung des Privateigentums in Rußland zu erzwingen, hoffte der damalige Außenkommissar Trotzki dadurch zu parieren, daß er über die Köpfe der Regierungen hinweg direkt an das Weltproletariat appellierte, es solle die junge Republik durch Widerstand unterstützen.

Diese ideologische Grundeinstellung, welche im Staat nicht die rechtliche Verkörperung der Staatsbürger sieht, sondern nach dem Leninwort „ein Instrument der Unterdrückung einer Klasse durdi die andere“, wurde in der völkerrechtlichen Theorie zuerst von dem Moskauer Professor E. A. Korowin in seinem Werk „Das Völkerrecht der Übergangszeit“ (1924) entwickelt. Korowin bemühte sich, die Kompromisse aufzuzeigen, die seiner Ansicht nadi in der Überganszeit, das ist in der „Zeit bis zum Triumpf der Weltrevolution in den Staaten des kapitalistischen Westens“, notwendig wären, um in beiderseitigem Interesse den offenen Kampf zwischen den beiden antagonistischen Systemen zu vermeiden. Diese beiden Systeme sind (nach Korowin) die Organisation des „internationalen“ Proletariats auf Sowjetgebiet, genannt Sowjetrußland, einerseits und die örtlichen, „bourgeoisen Ausbeutungstrusts“, wie dort die kapitalistischen Staaten, andererseits genannt werden. Bezüglich der Sowjetdiplomaten schreibt Korowin wörtlich: „Der Vertreter Sowjetrußlands, wie er auch tituliert wird, personifiziert nicht die halbmythische Gestalt des staatlichen Levia-than, sondern erscheint als nicht mehr und nicht weniger denn als der Bevollmächtigte der in der Republik herrschenden Kla^e, genauer gesagt, ihres führenden Teils, der Kommunistischen Partei.“ Ganz offen tritt Korowin auch für das Recht des Sowjetstaates ein, in die inneren Angelegenheiten anderer Länder zugunsten des Proletariats einzugreifen. Es handle sich hier nur um eine Verschiebung proletarischer Kräfte von einem Kriegsschauplatz auf einen anderen, der besonders bedroht sei.

Mit der allgemeinen Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion (1924) trat eine grundlegende Änderung in den völkerrechtlichen Auf'assungen des Sowjetstaates ein. Es erwies sich bald, daß ideologische Konstruktionen kein Recht zu schaffen vermögen. Das Eintreten der Sowjetvertreter für die öffentlichen Kommunistischen Parteien bildete die Ursache von unaufhörlichen Streitigkeiten, ganz zu schweigen von der offiziellen Rechtfertigung der Anullierung der russischen Auslandsanleihen als „ersten Sdilag gegen das internationale Finanzkapital“. Als Fehlgriff erwies sich auch das Sowjetdekret, welches die Titel „Botschafter“ und „Gesandter“ abschaffte, um so zu dokumentieren, daß der marxistische Sowjetstaat keinen Unftr-schied zwischen großen und kleinen Staaten mache. Der polnisdie Präsident weigerte sich den „Bevollmächtigten Vertreter“ zu empfangen, da ein solcher Titel nur einem Geschäftsträger zukomme und daher beim Außenminister zu akkreditieren sei. In China hatte 1925 der Sowjetvertreter L. M. Karakhan die größten Sdiwierig-keiten als Doyen anerkannt zu werden, wiewohl er der am längsten in Nangking akkreditierte Missionschef einer Großmacht war. Die Sowjetdiplomaten erkannten Korowins völkerrechtliche Theorien als für die Praxis völlig unbrauchbar.

Die radikale Wandlung im völkerrechtlichen Denken ist besonders aus dem Lehrbuch „Grundzüge des Völkerrechts“ zu ersehen, welches 1935 im Moskauer Staatsverlag erschienen ist. Verfasser dieses Werkes ist Professor E. B. Paschukanis in Kollektivarbeit mit 18 anderen führenden Sowjet-rechtsgclehrten. Er sieht im Völkerrecht kein einheitliches System von Normen, sondern eine Summe einander widersprechender Sätze, deren Autgabe es ist, die Politik zu unterstützen. Das Völkerrecht dürfe niemals von der Außenpolitik getrennt werden, sondern sei eine Waffe im Kampfe der Staaten. Diese Waffe der Sowjetdiplomatie werde jedoch nidit durch scholastische Konstruktionen ä la Korowin geschmiedet, sondern durch genaue Erforschung der europäischen und amerikanischen völkerrechtlichen Praxis. Paschukanis fordert also Anerkennung der äußeren Formen des allgemeinen Völkerrechts, die sich von dem bourgeoisen Inhalt, der dem Völkerrecht oft beigemessen wird (nämlich, der Erhaltung der bestehenden Staaten zu dienen), sehr wohl trennen lassen.

Die Einheit des Staates nadn außen wird von Paschukanis als objektive historische Tatsache anerkannt. In dem Kapitel über den völkerrechtlichen Vertrag lesen wir: Die Kraft der völkerrechtlichen Verträge beruht einzig auf dem Gewicht der materiellen Interessen und gewisser Kräfte, die hinter diesen Interessen stehen. Die verpflichtende Kraft eines Vertrages dauert so lange, wie diese Interessen und diese Kräfte vorhanden sind. Besonders betont Paschukanis, daß das Recht niemals den mensdilichen Fortschritt behindern dürfe: daß unter diesem Fortschritt die kommunistische Idee zu verstehen sei, ergibt sich aus dem ganzen Inhalt des Buches.

Paschukanis* Theorien sind von der Sowjetpresse und Literatur der letzten Jahre in zweifacher Hinsicht scharf kritisiert worden. Einmal wird seine opportunistische Behandlung der Vertragsverpflichtungen mit dem Argument bekämpft, daß gerade solche Ansichten den Faschisten in ihrer Angriffslust zugute kämen, nicht aber der Sowjetunion, die ein Muster loyaler Vertragserfüllung sein wolle. Zum anderen Male wird die Sonderstellung der Sowjetunion nidit nur in klassenmäßiger, sondern auch in nationaler Hinsicht heute immer stärker betont. Der „Zweite Vaterländische Krieg“ hat einen großen Einfluß auf die Einstellung der Sowjetunion zur Außenwelt geübt. Er war ein allzu deutliches Exempel vom beschränkten Wert der internationalen Klassentheorie als Grundlage einer vorteilhaften Außenpolitik. Wie unbeachtlich war der innere Wille der deutschen Proletarier gegenüber einer gut durdiorganisierten Staats maschinerie! Wie günstig ist es, beizeiten durch ein geordnetes System von Staats vertragen für Verbündete zu sorgen! Manche Wandlung des Sowjetstaates der letzten Zeit ist sicher auch darin begründet, daß nunmehr die junge Generation, die in 30 Jahren Kommunismus aufgewachsen ist, zur Führung gelangt. Für sie ist der Kommunismus ein patrioti-sdies Postulat. Daher beginnt nunmehr eine dritte Phase der Stellung der Sowjetunion zum Völkerrecht sich abzuzeichnen, in welcher nationale Gesichtspunkte gegenüber ideologischen vorherrschen. Deutlich kommt dies in dem berühmten Interview zum Ausdruck, das Stalin einem Korrespondenten der „Prawda“ am 13. März 1946 gewährte:

„Infolge der deutsdien Invasion hat die Sowjetunion gegen sieben Millionen Menschen verloren. Die Deutschen unternahmen ihre Invasion über Finnland, Polen, Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Die Deutschen konnten dies nur deshalb, weil die damaligen Regierungen dieser Länder der Sowjetunion feindlich gesinnt waren. Die Sowjetifnion hat nun das Bestreben, zu erreichen, daß in diesen Ländern Regierungen bestehen, die mit der Sowjetunion loyal zusammenarbeiten werden.“

Mit anderen Worten, die Sicherheit der UdSSR erfordert diesen Vorbehalt gegenüber den Nadibarstaaten. Dieser Mangel an Vertrauen in das System der kollektiven Sidierheit und das daraus folgende Bestreben, die eigene „Sicherheit“ durch zeitweise Überprüfung der Nachbarn zu garantieren, sind das Charakteristische Merkzeichen der gegenwärtigen Einstellung der Sowjetunion zur Außenwelt.

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