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Volksrecht oder atavistische Politik?

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Die Friedenskonferenz der Außenminister hat begonnen und voraussichtlich wird in ihrem Verlaufe auch die Entscheidung über Südtirol fallen. Wir bangen ui diese Entscheidung trotz allem guten Recht, das wir auf unserer Seite wissen. Wir bangen wie Menschen, deren Vertrauen auf die Gerechtigkeit der Welt erschüttert ist. Seit dreißig Jahren hat Österreich immer nur sein Recht gebeugt gesehen.

Aber doch: Wir glauben ein neues Licht zu erblicken. Eine Hoffnung für alle Unterdrückten leuchtet auf: Die Charta der Vereinten Nationen. Sollte es jetzt noch möglich sein, daß die Ansprüche einer atavistischen Politik stärker seien ab die Anrechte, die uns auf die deutschen Gebiete Südtirols, engste Stammesverwandtschaft, uralte geschichtliche Zusammengehörigkeit und Kulturverbundenheit gewähren?

Südtirol wurde 1919 von Österreich getrennt aus „strategischen Gründen“, im Widerspruch zu dem schon damals anerkannten Recht der Selbstbestimmung. Es ist seitdem der Gedanke nicht tragbarer geworden, ein Verfahren nicht vertretbarer, daß ein Staat, um seine Sicherheit zu erhöhen, den Nachbar dessen beraubt, was er selbst so sehr zu sichern strebt. Eher sollte derjenige den Anspruch auf Respektierung seines eigenen Rechts verlieren, der so des andern Recht mißachtet. Doch wir reden von vergangenen Dingen. Gründe wie diese „strategischen“, um Menschen von ihrem angestammten Lande loszureißen, mochten sich 1919 noch Geltung verschaffen können. Jetzt aber, in der Zeit der Charta der Vereinten Nationen, im neuangebrochenen Zeitalter der Weltdemokratie und Völkerverständigung, kann man doch keine Ansprüche mehr darauf stützen.

Dennoch beruft sich Italien auf dieselben strategischen Gründe. Die Brennergrenze habe sich bewährt und sei deshalb beizubehalten, erklärte Außenminister Degasperi vor einiger Zeit. Auch „Bewährung“ würde Unrecht nie zu Recht machen. Aber in diesem Falle kann- auch von Bewährung nicht die Rede sein. Denn in diesem Kriege bot sich für die Brennergrenze gar keine Gelegenheit, sich zu bewähren. Am Brenner haben keinerlei Kampfhandlungen von Bedeutung stattgefunden. Der Krieg war bereits zu Ende, ehe der Brenner erreicht wurde.

Dagegen sind im vorigen Krieg, als Italien die Brennergrenze nicht besaß alle Düren-bruchsversuche der österreichischen und deutschen Armeen aus Südtirol, aus dem Etschtal und durch die Dolomiten, mißlungen. Die Dolomitenfront erwies sich für Italien somit als vollkommen sichere strategische Grenze. Der Durchbruch unserer Armeen erfolgte vielmehr bei Flitsch-Karfreit und kam am Piave zum Stehen. Bei weiterem Vordringen über den Piave hätte Italien, fall? es damals im Besitz des Brenners gewesen wäre, diesen kampflos räumen müssen, da die Front dort im Rücken gefaßt worden wäre. Der Sicherungswert der Brennergrenze für Italien wurde also weder jetzt noch damals erwiesen. Dagegen müßte Österreich kraft solcher strategischer Gründe zur Sicherung Italiens und des Brenners auch Villach und sein Vorfeld abtreten Denn auch von dort führen wichtige Tore nach Italien Und zur dessen Sicherung die Ebene von Klagenfurt-

St. Veit, die sonst des Gegners Aufmarschgebiet wäre; dies wieder zu sichern, ganz Kärnten bis zu den Alpenkämmen im Norden; um aber die dadurch entstehende lange Ostflanke zu sichern, die Oststeiermark; und dieses nach Osten offene Land wäre nur gesichert durch den Besitz Ungarns bis zu den Karpaten und . Transsylvanischen

Alpen; und so ins Endlose. Die Kette sogenannter „strategischer Notwendigkeiten“ endet heute mit einem Wort erst dann, wenn der Kontinentalblock von Spanien bis Kamtschatka und von Sizilien bis zum Nordkap in einer Hand wäre. Das ist die Logik dieser atavistischen Strategie. Wenn diese Logik in ihrer ersten Prämisse „Südtirol“ anerkannt wird, dann ist auch der ganze Rattenkönig der Folgerungen berechtigt. Die Geschichte hat Beispiele dieser Unersättlichkeit, deren größtes — keineswegs einziges — das Römische Reich, von Latium ausgehend, Sicherung an Sicherung reihte, bis es in Spanien, England, am Limes, in Pannonien, Persien, Ägypten, Afrika angelangt war. Und es hätte auch d? keir Ende gefunden, wenn es nicht an innerem Masmus zerfallen wäre. Und wo etwa Hitler die G-en-

zen seiner Macht gesehen hätte, das läßt sich nur vermuten, auf diesem Planeten jedoch nicht. Es gibt keinen erprobteren Vorwand für Kriege als den der strategischen Sicherung. Würde er anerkannt, dann verabschieden wir alle Gedanken an Weltfrieden und Völkerverständigung.

Aber Italien führt noch andere Gründe an: Es brauche die Wasserkräfte Südtirols für seine Industrie. Ein verständlicher Grund, wie es scheint. Aber Österreich hat einen ebenso verständlichen dagegen: Es braucht die Getreide- und Reisfelder der Poebene. Denn wie Italien zuwenig Kohle, so haben wir zuwenig Getreide, Gemüse, Obst. Wollen wit also tauschen? Südtirol gegen ein gleich großes Stück der Poebene? Oder machen wir es einfacher, tauschen wir nur die Wasserkraft Südtirols gegen das Getreide, den Reis, das Gemüse der Poebene? Wir glauben, das letztere ist vernünftiger.

Ja, lassen wir die Vernunft sprechen! jedem Volke sind von der Natur Güter gespendet, dazu bestimmt, sein Leben zu erhalten, Österreich Wasserkräfte, Italien seine Sonne. Mag einer mit dem andern

tauschen, einer von seinem Überfluß geben, um vom Überfluß des andern za empfangen; aber dem andern zu nehmen, was jener zum Leben und zum Tausche braucht, ist unerlaubt, ist gegen menschliches und göttliches Sittengesetz.

Österreichs Regierung war mit ihrer Bereitwilligkeit, Italien die Stromlieferungen Südtirols zu garantieren, fast allzu großzügig, wenn es hätte bedeuten sollen, daß diese Lieferung ohne Gegenleistung erfolgen wird. Denn 'unsere Wasserkräfte sind unsere Kompensationsobjekte, die uns verschaffen müssen, was uns fehlt. Und gerade bezüglich der Wasserkraftwerke, die Italien in Südtirol gebaut hat, gilt das Wort Lord Vansittards in der letzten großen Debatte des englischen Oberhauses: „Wenn einer in eine fremde Wohnung einzieht und in Abwesenheit des Besitzers dort einen Eisschrank einbaut, so verschafft ihm das kein Recht auf diese Wohnung.“ Eine „fremde Wohnung“ — das ist Südtirol für Italien Zwar kann es sich auf den Einweisungsschein berufen, den ihm die Friedensverträge nach dem ersten Weltkrieg ausstellten. Aber es war ihm von Anfang an bekannt, daß dies unter Verletzung des Selbstbestimmungsrechtes geschehen war. Wegen 200.000 Pferdekräften 200.000 Menschen zu vergewaltigen, ist eine Ungeheuerlichkeit. Und darum ist diese Begründung des Anspruches auf Südtirol zu niedrig, um zu gelten.

Noch einen letzten Grund für das Festhalten an Südtirol hat Degasperi in einer seiner Reden angeführt: „Die Grenzen großer Staaten werden nicht nach den Bedürfnissen kleiner Volksgruppen gezogen.“ Das aber ist die klare Sprache des „M achtgehtvorRech t“, die Sprache der Hitler, der Mussolini, der Machtbesessenen — des Nazismus und Faschismus. Darüber ist weiter kein Wort zu verlieren.

Italiens Ansprüche auf Südtirol gehören einer Zeit an. die vorbei sein muß, sind Geist von jenem Geiste, der zur größten Katastrophe der Neuzeit geführt hat, einem Geiste, dem in der Ära der Vereinten Nationen kein Lebensrecht mehr zusteht. Der Krieg, den man jetzt in Paris liquidiert, wurde geführt, um den Nazismus jeder Spielart auszurotten. Und die Aufgabe der Friedenskonferenzen ist wie die derUNO: Erziehung zur Demokratie, zur Gewaltlosig-k e i t, zur Verständigungsbereitschaft, und die Charta der Vereinten Nationen, das Grundgesetz der Weltdemokratie, ist das hohe Versprechen, auf das die Welt nun mit Vertrauen blickt. In der Sache Südtirol steht daher diesmal nicht nur unser gutes Recht auf unserer Seite, sondern eine Weltnot-w e n d i g k ei t — die Notwendigkeit, dieses Vertrauen zu befestigen.

Kommen wir zum versöhnenden Schluß: Die neue Welt verlangt ein neues Denken. Auch das neue Italien kann nicht bei seinem alten „Farä da se“ beharren. Vor einem Vierteljahrhundert konnte Südtirol noch aus strategischen Gründen annektiert werden; heute nicht mehr Das neue Italien hat Südtirol gegenüber nur ein Recht, ein große?, erhabenes, edles Recht: das Recht, an diesem Volke gutzumachen, was faschistische Gewaltpolitik an ihm verbrochen hat, das Recht, ihm sein Land wiederzugeben, aus dem man es vertrieben, und — seine Freiheit.

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