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Vom roten Stern zum roten Mond

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Am 7. November dieses Jahres jährt sich zum 40. Male der Tag, an dem der Führer der Bolschewiken, Wladimir Uljanow — in die Geschichte unter seinem publizistischen Pseudonym Lenin eingegangen —, seinen Aufstand im damaligen Petrograd lancierte. Nicht alle seiner Parteigenossen waren mit ihm einverstanden. Viele, unter ihnen seine nächsten Mitkämpfer Z i n o w j e w und Kamenew, die 1938 durch Henkershand starben, sahen die Niederlage kommen. Auch Stalin war damals nicht so „stählern", wie er später, nach seinem ebenfalls angenommenen Namen, von seinen Bewunderern genannt wurde. Denn noch kurz vor dem Eintreffen Lenins im damaligen Petrograd war die Mehrheit der bolschewistischen Parteileitung in der Hauptstadt drauf und dran, einer Regierungskoalition nicht nur mit den anderen sozialistischen Parteien zuzustreben, sondern sogar mit den Bürgerlichen, und gerade Stalin war es, der am meisten von allen auf die Beteiligung seiner politischen Gruppe an der Regierungsbildung drängte. Als Lenin, überall auf russischem Boden von Ehrenkompanien und Behörden feierlich empfangen, am baltischen Bahnhof in Petrograd auf einen Panzer sprang und von dort aus eine Rede hielt, die auch der neuen revolutionären Regierung den Kampf ansagte und das Programm einer neuen „sozialistischen" Revolution proklamierte, da war das nicht nur für die demokratische Regierung, sonv dern auch für die eigenen Anhänger etwas völlig Unerwartetes. Doch zielbewußt und unerbittlich, mit den Scheuklappen eines Genies, das nur das Ziel vor Augen sieht, trieb Lenin auf die zweite Revolution hin.

Jetzt, in der Nacht vom 7. auf den 8. November, war es so weit. Lenin und Trotzkij, sonst in vielem verschiedener Meinung, setzten den Beschluß über den Aufstand gegen die Zweifler durch. Manche von den damaligen Führern, vor allem der Lenin am nächsten stehende Zinowjew, glaubten an eine sichere Niederlage.

Doch das junge demokratische Rußland — ebenso wie vorher das zaristische — fiel wie ein Kartenhaus zusammen. Am Morgen des 7. November setzten die „Roten Garden“, eine Arbeitermiliz, zum Sturm auf das Winterpalais, die letzte Zuflucht und den letzten Stützpunkt der „legalen Regierung" und ihres Ministerpräsidenten Kerenski, an. Das Palais wurde von jungen Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigt.

Zum blutigen Kampfe kam es um das Winterpalais nicht. Die baltische Flotte war bereits vollkommen in bolschewistischer Hand. Stolz und langsam schwamm der Kreuzer „Aurora“ die Newa hinauf. Am Heck wehte die rote Flagge der bolschewistischen Revolution. Der Kreuzer stoppte vor dem Winterpalais. Laut, weithin hörbar, dröhnte ein Schuß aus schwerem Schiffsgeschütz. Ein einziger Schuß I Die bolschewistischen Historiker behaupten, es sei überdies ein blinder Schuß gewesen. Die Roten Garden setzten zum Sturm an. Doch das Winterpalais kapitulierte. Die Regierung war geflohen und konnte sich noch nach dem Osten retten. Auch Kerenski.

Auf dem Roten Platz in Moskau, an der Kremlmauer, gibt es rechts und links vom Lenin - Stalin - Mausoleum einige Ehrengräber. Dort wurden, als Moskau noch kein Krematorium hatte, einige von jenen bestattet, welche die bolschewistische Revolution als besondere Helden ehrte. Ein einziger Ausländer liegt dort begraben, der amerikanische Journalist John Reed. Reed war bei Ausbruch der bolschewistischen Revolution in Rußland. Er trat sofort ideologisch auf die Seite der Revolution und starb den Tod dieser Zeitepoche — an Flecktyphus, der Millionen hinwegraffte.

Seine Tat. wegen der er in nächster Nähe Lenins bestattet wurde, war nur eine dünne Broschüre, die heute noch in allen Schulen der Sowjetunion gelesen wird: „Zehn Tage, die die Welt erschütterten." Und es ist eine Reportage der bolschewistischen Revolution.

Doch John Reed irrte sich. Es blieb nicht nur bei den zehn Tagen der bolschewistischen Revolution. Vierzig Jahre wird die Welt dauernd von Rußland aus erschüttert, seit jenem blinden Schuß, den der Kreuzer Aurora auf das Winterpalais abfeuerte.

Es ist besonders interessant, festzustellen, daß ein großer Teil der bolschewistischen Führung dem Aufstand Lenins ablehnend gegenüber-stand. Kamenjew, der später stellvertretender Regierungschef, Vorsitzender des wichtigen Rates für Arbeit und Verteidigung und Stadtpräsident von Moskau wurde, trat aus Protest gegen den Beschluß der Partei, den Aufstand auszulösen, aus dem Zentralkomitee aus. Jahre später, als er noch unter den ersten Männern der Sowjetunion war, optisch viel höher als selbst Stalin, im Jahre 1924, sagte er in einem Anfall von Aufrichtigkeit dem Schreiber dieser Zeilen: „Es ist eigentlich ein Wunder, daß wir damals nicht bereits nach einer Woche hinweggefegt wurden. Und es ist auch heute noch ein Wunder, daß wir uns an der Macht halten. Ihr ausländischen Beobachter bei uns versteht eines nicht — daß wir uns täglich und stündlich in tödlicher Gefahr befinden. Alles, was wir tun und was euch so mißfällt, ist nichts wie Notwehr.“

Kamenew hatte schon den richtigen Instinkt. Doch sah er damals, 1924, nicht voraus, daß er 1936 durch die Hand eines kommunistischen Henkers sterben würde. In einem hatte er schon damals recht. Die Erscheinungen des sowjetischen politischen Lebens, die uns meist so unverständlich sind und die im Ausland oft recht primitiv erklärt werden, beruhen psychologisch immer noch auf dem Gefühl der Beteiligten, daß von dieser oder jener Maßnahme, von dieser oder jener Schwenkung Sein oder Nichtsein, Tod oder Leben abhängen. Das schafft auch nach 40 Jahren die Spannung, auch jene Verbissenheit, mit der jeder seine Ansicht vertritt. Die sonst psychologisch unerklärliche Erscheinung, daß immer wieder der eine oder andere, der an der Spitze der Macht steht, der alles hat, was man haben kann, plötzlich dies alles Erreichte, in Jahrzehnten Erreichte, auf eine Karte setzt, hur dm seine Meinung in der Sowjetpolitik durchzusetzen.

Nur Lenin hatte merkwürdigerweise weder Aengste noch Skrupel. Wieso es zur bolschewistischen Revolution kam, war klar. Der Zarismus, morsch und unfähig, fiel, eigentlich elementar und von keiner Partei gestürzt. Man erinnere sich: eines Tages im Februar verloren die Frauen, die vor den Lebensmittelgeschäften Schlange standen, die Geduld und begannen zu randalieren! Die Unruhen erweiterten sich. Plötzlich, als die Polizei sich bereits anschickte, dagegen anzugehen, kamen die Soldaten mit ihren Offizieren aus den Kasernen und traten auf die „Seite des Volkes“. Von da an entwickelte sich alles in stürmischem Tempo, heute noch unklar und unübersichtlich. Der Zar und Alleinherrscher hatte abgedankt, der „Zarismus“, schon 1905 angeschlagen, war gestürzt. Für die weitesten Massen war das natürlich die Revolution. Und jeder und jede Schicht erhofften sich von dieser Revolution die Erfüllung aller ihrer Wünsche. Die Intelligenz: Demokratie und geistige Freiheit und daß sie, an Stelle des Großgrundbesitzes und des Adels, die Führung des Staates und damit die Staatsposten bekommt. Die Industrie und das Kapital waren auch dafür, daß die feudale Schicht ganz hinweggefegt wird, um endlich einer weiten Entwicklung der Wirtschaft den Weg frei zu machen. Das, was in Europa schon etwa 1848 geschehen ist. Diese beiden Schichten wollten eigentlich nur das, was man die „bürgerliche Revolution" nennt, den Sieg des Bürgertums über den Feudalismus. Die Schlagworte der großen Französischen Revolution waren für sie revolutionäre Postulate.

Doch die große Masse des Volkes, die russischen Bauern und auch die Arbeiter, erhofften von der Revolution etwas ganz anderes. Zuerst einmal, daß alles, was sie bisher als Fesseln betrachtet hatten — die Polizei und die militärische Disziplin —, hinwegfällt. Demokratie und bürg liehe Freiheiten interessierten die Masse nicht nut wenig, sondern gar nicht. Das hafte der große revolutionäre Publizist T s c h e r n i 's c h e w s k i'j bereits in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gesagt.

Was die Bauern vor allem von der Revolution erwarteten, war die Stillung des Landhungers, die Verteilung des Großgrundbesitzes. Das verlangten sie seit vielen Jahrhunderten, darum hatten sie unzählige Revolutionen und Rebellionen, blutig niedergeschlagen, in der Vergangenheit versucht.

Und hinter allem, was die große Masse fühlte und tat, stand der nationale, unbändige, jahrhundertealte Haß gegen die „Herrenklasse“. Dieser Haß sah nicht auf Banknoten, er sah nicht in die Pässe nach dem Adelstitel. „Herr“ war jeder, der Hut, Kragen und Krawatte trug, der die Schriftsprache der Gebildeten und nicht die des Volkes sprach. Insbesondere konzentrierte er sich auf die Offiziere, die so deutlich das „Herrenabzeichen“, die goldenen Schulterstücke, trugen. Obwohl gerade damals die Mehrheit der Offiziere durchaus demokratischer Abstammung war.

Mehr als drei Viertel der Bevölkerung des Reiches waren damals Bauern, die Arbeiter waren noch gestern Bauern, und die ganze Armee waren Bauern in Uniform.

Die Partei, die vor allem seit Jahrzehnten die Aufteilung des Bodens unter die Bauern gefordert hatte, deren Parolen diesen Bauern klar waren, war die Sozialrevolutionäre Partei. Sie kam auch in der Person Kerenskis an die Macht. Sie wußte aber mit ihrer Macht nicht viel anzufangen. Sie sah den Sinn der Revolution in einer energischen Kriegsführung, in einem Kampf an der Seite der Alliierten um den Sieg der Demokratie in der ganzen Welt. Alles sollte bis nach dem Sieg verschoben werden. Vorläufig alles für den Sieg. Auch die Aufteilung des Grundes und Bodens sollte erst dann erfolgen. Nach einem demokratisch beschlossenen Gesetz in „Ruhe und Ordnung". Vom Gesetz wollten jedoch die Massen nichts hören. Von Ruhe und Ordnung hatten sie unzählige Male von der zaristischen Regierung gehört und meinten dann immer, betrogen worden zu sein. Bei den Wahlen in die verfassungsgebende Nationalversammlung eroberten noch die Sozialrevolutionäre die überwiegende Mehrheit der Sitze. Doch die Nationalversammlung wurde nicht einberufen.

Da begannen die Bauern, sich den Grund und Boden selbst zu nehmen. Das Chaos begann. Die Bauern in Uniform interessierte nicht mehr Serbien, nicht der orthodoxe Glaube, nicht die Weltdemokratie, sie interessierte nur der Boden. Er war hier in Schützengräben — und zu Hause wurde ohne ihn der Boden verteiltf Das Chaos begann! Der Terror begann! Monate vor der bolschewistischen Revolution wurden Kommissare der Regierung, Offiziere von den Soldaten ermordet, auf die Bajonette gespießt. Die Gutsbesitzer, die nicht flohen, wurden von den Bauern ermordet, die Herrenhäuser geplündert und verbrannt.

Die Armee strömte ins Hinterland. Es war schon so, wie Lenin sagte: „Das Volk hat mit den Beinen für den Frieden gestimmt.“

Als Lenin in Petrograd eintraf, .ar er ja schon von vornherein entschlossen, die Revolution weiterzuführen, sie zu vertiefen. Für ihn begann die Weltrevolution in Rußland. „Das schwächste Glied in der Kette bricht zuerst." Rußland war für ihn das schwächste Glied in der Kette des Weltkapitalismus. Doch in Rußland angelangt, sah er deutlicher als alle, was vor sich ging. Er hetzte gegen die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie, die Masse verstand darunter ihren Haß gegen die „Herren“ und jubelte ihm immer mehr zu. Er versprach Frieden, Brot und sofortige Aufteilung des Bodens unter die Bauern, und die Masse wurde noch wilder.

Er versprach vielen etwas. Den fremden Völkern Rußlands das Selbstbestimmungsrecht bis zur völligen staatlichen Loslösung von Rußland. Die Fremdvölker begannen mit dem Bolschewismus zu sympathisieren. Er versprach so manches, was er später nicht hielt. Lenin fürchtete nicht das Chaos, er rief es herbei, denn nur so konnte nach seiner Meinung der alte, verhaßte Staat völlig zertrümmert werden.

Die Beratungen der Parteizentrale standen zu dieser gigantischen, scheinbar völlig furchtlosen Propaganda in krassem Gegensatz. Manche Memoiren bezeugen das. Es wurde peinlich genau verhandelt. Man beschäftigte sich mit Kleinigkeiten. Zuallererst, wie eigentlich die Regierung und ihre Mitglieder heißen sollten. Man suchte bei Karl Marx. Bei Marx fand man keine Hinweise darauf, wie die Regierung eines sozialistischen Staates, heißen sollte. Sie konnte aber doch nicht dieselben Namen besitzen wie eine zaristische oder kapitalistische! Jemand griff auf die französische Revolution zurück und das von ihr so geliebte Wort „Kommissar". Nach längerer Debatte fand man die Bezeichnung „Volkskommissar“, „Beauftragter des Volkes.für, ausw.Anqgejjhfitfin' däjs. war-,ZBt?uri langatmig, :ab?r klang .doch. aevoJu-. tionär. Tt o t z k i.j ■ wurde Äußenkpmmissar. - Er wat bestimmt ein kluger Mann,- doch von diplomatischer Technik, vom Protokoll verstand er nichts. Er verachtete sie. Und doch wollte er sofort und ohne Unterbrechung die Geschäfte aufriehmen. Das kaiserliche Außenministerium auf der Mölskaja lag völlig verlassen da. Bis eine Abteilung roter Matrosen es besetzte. Kein einziger der alten Beamten erschien, nur die alten Kanzleidiener. Der neue rote Außenminister ging durch die leeren Kanzleien, durch hallende Säle, bis er in das Arbeitszimmer des Ministers kam. Auf dem Schreibtisch lag ein Akt. Trotzkij beschloß, sofort weiterzuarbeiten, als ob es gar keine Revolution gegeben hätte. Der Akt war eine niederländische Note in irgendeiner Routineangelegenheit. Trotzkij beantwortete selbst handschriftlich die Note und adressierte sie. „An den Herrn holländischen Botschafter.“ Dann klingelte er. Der alte Kanzleidiener erschien. „Expedieren!“ befahl der neue Volkskommissar. Der alte Kanzleidiener sah sich den Brief an und meinte dann. „Eure Ehrwürden er wußte, daß man die neuen Männer nicht so, wie er gewohnt war, mit Exzellenz anredete, und gab ihm den Titel, den man im alten Rußland bei reichen Kaufläuten anwandte, holländischen Käse gibt es, holländische Heringe auch, aber einen holländischen Botschafter gibt es hier nicht; es gibt nur einen niederländischen Gesandten!“ So erzählt die Anekdote, wie die Bolschewisten den ersten Unterricht in Diplomatie erhielten.

Das Chaos aber ging weiter. Lenin versprach Frieden, doch es wurde ein langer, blutiger und grausamer Bürgerkrieg, dein sich beinahe ohne Unterbrechung auswärtige Kriege anschlossen. Gegen die Entente, gegen Polen, gegen Japan, bis in den zweiten Weltkrieg hinein. Lenin versprach Brot,' aber Rußland ging in eine Hungersnot hinein, wie sie selbst die an Katastrophen reiche Geschichte Rußlands nicht kannte.

Die Bauern nahmen sich den Grund und Boden. Doch sie hatten nicht lange Freude daran.

Rückblickend kann man eigentlich feststellen, daß alles anders kam, als Lenin voraussagte. Wer heute etwa das Programm der Bolschewiken liest, das sie vor der Machtergreifung aufstellten, wird erstaunt sein: so bescheiden erscheint es heute. Manche westliche Staaten, wie etwa England oder Oesterreich, sind heute in der Verstaatlichung der Industrie und der Kontrolle der Banken viel weiter gegangen, als es einst Lenin plante. Lenin hoffte sogar noch in den ersten Tagen und Wochen des neuen Staates, daß es zu einer Zusammenarbeit mit dem Bürgertum kommen würde, trotz „Diktatur des Proletariates“.

Doch die elementaren Stürme der Massen, der Bürgerkrieg und die Not zwangen die neue Regierung, viel weiter zu gehen. Zur Beschlagnahme und Verstaatlichung alles und jedes, bis zum letzten Paket Zahnpulver oder alten Zylinderhüten. Um im Chaos der wild gewordenen Massen an der Macht zu bleiben, mußte die neue Sowjetregierung eine Demagogie betreiben, welche die Wirtschaft beinahe vollständig ruinierte. So war es eigentlich selbstverständlich, daß Lenin dem Drucke der Bauern nach dem Bürgerkrieg weichen mußte und die neue ökonomische Politik verkündete: die wirtschaftliche Freiheit des Bauern und als Folge dessen: die Freiheit des Privathandels, der Kleinindustrie und des Gewerbes. Ein Schritt zurück, wie es not tat.

Nach seinem Tode begannen die Meinungsverschiedenheiten in der Partei. Sie steigerten sich dann zu erbitterten Fraktionskämpfen, die schließlich mit der blutigen Vernichtung der Unterlegenen endeten. Eigentlich waren und sind solche Kämpfe nur die direkte Folge der falschen Theorie Lenins von der Weltrevolution. Daher steht immer wieder die Frage über den weiteren Weg.

Wo steht Rußland am Tage der vierzigsten Wiederkehr jener Stunde, als der Kreuzer „Aurora" seinen blinden Schuß auf das Winterpalais abgab? Die Sowjetunion ist eine Weltmacht! Sie ist auch nach Amerika der größte Industriestaat der- Welt. Doch kein Volk der Welt hat in der Vergangenheit seine Industrialisierung mit soviel Blut, Tränen und unermeßlichen Leiden bezahlt’wie das russische Volk.

Rußland ist mächtig und groß, aber die Weltrevolution kommt immer noch nicht. Denn die vierzig Jahre haben bewiesen, daß es zwar in Rußland eine große, eine sehr große Revolution gegeben hat, aber sie war nicht der Auftakt zur Weltrevolution, sondern eine nationale russische Revolution. Jeder russische Nationalist der Vergangenheit wird mit den Resultaten dieser Revolution heute zufrieden sein. Rußland ist zum alten imperialen, um nicht zu sagen imperialistischen Denken zurückgekehrt. Bis zu den äußeren Symbolen an den Uniformen, bis zum System der Staatsbürokratie.

Es hat alle seine Provinzen wieder, die es in den letzten Jahrzehnten des Zarentums verloren hat. Es hat das panslawistische Programm der Vergangenheit beinahe verwirklicht, beinahe alle slawischen Völker gruppieren sich um Moskau. Selbst Jugoslawien wendet sich wieder Moskau zu. Ja, das Maximalprogramm der Zaren ist beinahe erfüllt. Moskau ist, obwohl die Revolution die Kirche geschwächt hat, für die byzantinische Welt zu einer Art drittem Rom geworden. In diese Konzeption paßt natürlich Ungarn nicht hinein. Kein Zar hat darauf Anspruch erhoben. Das hat sich auch gezeigt. Doch in keinem dieser Länder gab es eine kommunistische Revolution. Höchstens in China. Schon gar nicht, wie Lenin es sich vorgestellt hatte. In alle diese Länder brachten russische, also fremde Bajonette den Kommunismus.. Jeder sieht: wäre Rußland heute noch eine Monarchie, dann würden eben auf dem Hradschin in Prag, in den Königsschlössern von Bukarest, Sofia und Warschau, ja selbst im Konak von Belgrad russische Großfürsten als Könige sitzen. Weltpolitisch wäre das Bild dasselbe. Gerade, wie der Kommunismus in Osteuropa siegte, zeigt am besten, wie falsch die Weltrevolutionstheorien Lenins waren.

Die Absetzung des Marschalls Schukow zeigt wieder, daß die Richtungskämpfe in der Sowjetunion immer noch weiter gehen. Daß das große, mächtige Rußland seinen Weg immer noch nicht kennt. Daß die Frage, die der große russische Dichter Nikolaj Gogol vor mehr als hundert Jahren, einer Trojka nachsehend, stellte: „Wohin eilst du, Rußland?" immer noch nicht beantwortet werden kann.

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