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Vom Zynismus der Siegermächte

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Zehn Jahre nach Jalta wußte die Welt zwar aus den Ergebnissen, was damals auf der Krim ausgehandelt worden war. Als aber Mitte März 1955 die streng geheimen Aufzeichnungen und Telegramme bekannt wurden, lief eine Welle der Empörung vor allem durch Deutschland und Frankreich, aber auch durch die USA. Roosevelt und Stalin waren zu diesem Zeitpunkt längst tot - und Winston Churchill trat drei Wochen später als Premierminister zurück, aus „gesundheitlichen Grünen”, aber doch wohl kaum unbeeindruckt von der Veröffentlichung der Vorgänge von Jalta.

Die Szene ist bekannt: Im Oktober 1944 war der britische Premierminister Winston Churchill nach Moskau gekommen, um mit Josef Stalin über die Gestaltung Europas nach dem Endsieg der Alliierten zu sprechen. Auf einem Stück Papier skizzierte er, wie er sich die Machtverteilung im Raum zwischen Ostsee, Adria, Agäis und Schwarzem Meer vorstellte: in Griechenland 90 Prozent für Großbritannien, in Rumänien 90 Prozent für die Sowjetunion, in Ungarn und Bulgarien je 80 Prozent für die Sowjets, in Jugoslawien 50 zu 50. Damit schuf man die Grundlage für das Schicksal Südosteuropas in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts .

Vier Monate später kamen die „Großen Drei” - Stalin, Churchill und US-Präsident Franklin D. Boo-sevelt erneut zusammen, um aktuellere Fragen zu besprechen. Stalin bestand darauf, auf der Krim zu tagen, nachdem die erste Zusammenkunft im November 1943 in Teheran abgelaufen war. Churchill opponierte -„Wir könnten zehn Jahre suchen, ohne einen derart abscheulichen Ort zu finden”, telegraphierte er an Roosevelt. Aber der, obwohl bereits vom Tod gezeichnet - er starb knapp zwei Monate nach Jalta -, gab dem Drängen seines „Freundes Joe” nach und zwang auch seinen ebenso kranken Berater Harry Hopkins mitzukommen.

Für Roosevelt ging es vor allem

Vor 50 Jahren: Jalta besiegelt das Schicksal Europas. Vor 40 Jahren: Veröffentlichung der Jalta-Geheimdokumente. Die Sieger agierten zynisch. darum, Stalin zum Kriegseintritt gegen Japan zu bewegen und seine Zustimmung zur Gründung der Vereinten Nationen zu erhalten. Für Churchill standen zwei andere Probleme im Vordergrund: Polen und Frankreich.

In den von den Sowjettruppen im Sommer 1944 besetzten Gebieten Polens amtierte bereits das „Komitee der nationalen Befreiung” als moskautreue Regierung, von der aber die nichtkommunistische Untergrundbewegung ebenso wenig wissen wollte, wie die Exilregierung Mikolajczik in London. Stalin erklärte, er wünsche ein „starkes, demokratisches Polen”. Das bedeutete im Klartext die Ausdehnung Polens auf Kosten Deutschlands bis zur Oder (und bei Stettin darüber hinaus), um für den Verlust der Ostgebiete zu entschädigen. Diese waren 1939 auf Grund des Paktes mit Hitler von den Sowjets besetzt worden. Stalin dachte nicht daran, sie wieder herauszugeben. Churchill mußte ~ gegen den Protest der Exilpolen - zustimmen. Dafür versprach Stalin, das Befreiungskomitee durch Vertreter des Untergrundes und des Exils zu ergänzen und freie Wahlen durchführen zu lassen. Beides unterblieb.

Für Frankreich hatte General Charles de Gaulle bereits in Casablanca im Gespräch mit

Churchill und Roo-sevelt und in Moskau mit Stalin vergeblich versucht, sein Land gleichberechtigt unter die Großmächte aufnehmen zu lassen. „In Casablanca verglich er sich mit Jeanne^Afc und Clemenceau”, berichtete Churchill in Jalta, und Stalin ergänzte: „Mir hat er in Moskau erklärt, die natürliche Grenze Frankreichs sei der Rhein.

Stalin lehnte es ab, die Franzosen bei der Aufteilung Deutschlands (und Österreichs) in Besatzungszonen mitzubeteiligen und ihnen Sitz und Stimme im Kontrollrat einzuräumen. Hier aber setzte sich Churchill durch. Er sah kommen, daß Europa nach der Ausschaltung Deutschlands ohne ein halbwegs sicheres Frankreich ein Vakuum darstellen würde, das die sowjetischen Aspirationen anziehen mußte.

Die neuen Grenzen

In Teheran war noch die Aufteilung Deutschlands beschlossen worden. Hierzu schwebte Churchill eine Konföderation aus Süddeutschland, Osterreich und allenfalls Ungarn mit Hauptstadt Wien vor. Aber das wollte in Jalta eigentlich niemand mehr.

Jalta habe hundert Millionen Europäer dem Bolschewismus ausgeliefert, lautete später der Vorwurf an die Führer des Westens. Das stimmt nur symbolisch, schreibt Raymond Cartier. Um diese Zeit - Februar

1945 - stand die Rote Armee bereits in Rumänien und Bulgarien, in Jugoslawien und Ungarn, in der Ostslowakei, in Polen, Ost- und Westpreußen. Churchill sagte nach der Bückkehr von Jalta zu Freunden: „Die Bussen sind nicht nur sehr mächtig. Sie sind auch an Ort und Stelle. Selbst die ganze Majestät des Britischen Empire würde nicht dazu helfen, sie von dort zu verdrängen.”

Roosevelt fuhr optimistisch heim. Er hatte Garantien für die ost- und mitteleuropäischen Völker erhalten. Stalin stimmte sogar einer Deklaration „über das befreite Europa” zu, obwohl darin vom Recht aller Völker die Rede war, jene Form der Regierung zu wählen, unter der sie leben wollten. Die in den besetzten Ländern gebildeten Volksfrontregierungen wurden verpflichtet, freie Wahlen durchzuführen.

Der „Eiserne Vorhang”

Roosevelt hatte Stalins Zusage zum Beitritt der Sowjetunion zu den Vereinten Nationen - mit nur drei Sitzen statt der ursprünglich geforderten 16 (dies hatte Boosevelt mit dem Hinweis abgewehrt, dann würden alle 48 US-Staaten einen Sitz beanspruchen). Und „in zwei bis drei Monaten” wollten die Sowjets in den Krieg gegen Japan eintreten -sobald der Krieg gegen Deutschland gewonnen wäre. Hierfür mußte Roosevelt Stalin die Kurilen, Südsachalin, Port Arthur und Dairen zusagen, sowie die Verwaltung der ostchinesischen und der mandschurischen Eisenbahnen - obwohl diese zum Herrschaftsbereich seines Verbündeten Tschiankaischek gehörten.

Die Euphorie hielt nicht lange an. Am 29. März, zwei Wochen vor seinem Tod, warnte Roosevelt Stalin in einem Telegramm vor einer Fortsetzung des gegenwärtigen Warschauer Regimes. Das müßte das amerikanische Volk veranlassen, die Jalta-Ver-einbarung als einen Fehlschlag zu betrachten. Und am 12. Mai sprach Churchill in einem Telegramm an Harry S. Truman, Roosevelts Nachfolger, erstmals vom „Eisernen Vorhang”, der vor der Front der sowjetischen Truppen niedergegangen sei.

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