Von der Geschichte als offener Prozess

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„Spuren einer intellektuellen Reise“ lautet der Titel eines Bandes, der anlässlich des 80. Geburtstages von Gerald Stourzh drei Essays des Wiener Historikers präsentiert. Sie zeugen vom klaren, unideologischen Blick ihres Autors ebenso wie von seinem engagierten Interesse für Politik als Gestaltung öffentlicher Angelegenheiten.

Er ist auch jenseits der Historikerzunft interessierten Zeitgenossen ein Begriff: Vor allem als der Experte für Entstehungsgeschichte und Folgewirkungen des österreichischen Staatsvertrags hat Gerald Stourzh sich einen fixen Platz unter den Geistesmenschen dieses Landes gesichert. Am 15. Mai (sic!) dieses Jahres feierte Stourzh seinen 80. Geburtstag. „Kennzeichnend für seine Urteile war immer das Bemühen, logisch und nicht ideologisch zu analysieren“, schrieb Hubert Feichtlbauer zu diesem Anlass in der FURCHE.

Wer sich dessen noch einmal in einem schnellen Überblick vergewissern will, dem sei ein schmaler, bei Böhlau erschienener Band empfohlen: „Spuren einer intellektuellen Reise“ enthält drei Essays, von denen die ersten beiden hier erstmals in deutscher Sprache publiziert wurden; der dritte dokumentiert Stourzh’ Abschiedsvorlesung an der Universität Wien aus dem Jahr 1997.

„Respekt für geistige Leistung“

Der erste Text, der dem gesamten Band den Namen gab, beinhaltet, wie der Titel vermuten lässt, eine Reflexion des eigenen geistig-biografischen Werdegangs. Stourzh spricht im Zusammenhang mit seinem Elternhaus von einem Klima des „Respekts für geistige Leistung“ – wohl das, was später oft verächtlich als „Bildungsbürgertum“ belächelt werden sollte; vor allem aber betont er die Prägung durch die „starken antinationalsozialistischen Überzeugungen meiner Eltern“ (siehe auch Kasten unten). Den roten Faden in seinem Leben beschreibt er folgendermaßen: „Mein lebenslanges Interesse für öffentliche Angelegenheiten […] wurzelt in meiner frühen Erfahrung des Primats der Politik.“

„… dass ich mich taufen lassen musste“

Besonders am Herzen liegt Gerald Stourzh, wie er bereits im Vorwort erkennen lässt, der zweite, auf einem Vortrag basierende Essay: „Zeit der Konversionen: Gustav Mahler, Karl Kraus und Wien im fin de siècle.“ Am Beispiel der beiden Genannten setzt sich Stourzh ausführlich mit dem Phänomen der Übertritte vom Judentum zum Christentum auseinander. Im Falle Mahlers wird klar, dass dessen Konversion zumindest auch ganz eng im Zusammenhang mit seinen – bekanntlich erfolgreichen – Bestrebungen, Direktor der Hofoper zu werden, zu sehen ist. „Wissen Sie, was mich besonders kränkt und ärgert, ist der Umstand, dass ich mich taufen lassen musste, um zu einem Engagement zu kommen“, wird Mahler zitiert. Das ist beklemmend zu lesen, auch wenn Mahler selbst in weiterer Folge von einer Entscheidung spricht, „der man ja innerlich gar nicht abgeneigt war“. Ganz anders und weitaus diffuser stellt sich die Lage bei Karl Kraus dar. Dieser dürfte, folgt man Stourzh, in einer Loslösung vom Judentum und Hinwendung zum Christentum eine Chance gesehen haben, „den Frieden künftiger Generationen“ zu sichern, deren Leben zu erleichtern: „Durch Auflösung (des Judentums; Anm.) zur Erlösung.“ Auch das ein Gedanke, der einen heute erschauern lässt.

Gefährdete Menschenrechte

Den unmittelbaren Bezug zur Gegenwart stellt Stourzh am Ende dieses Essays in berührender Weise her: Es geht um den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs, auf dem zwischen 1941 und 1945 auf Anordnung des NS-Regimes etwa 800 Personen bestattet wurden, die, wie es auf einem Gedenkstein heißt, „nach den ‚Nürnberger Gesetzen‘ als Juden galten, jedoch nicht der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörten“. Viele davon waren Christen – wovon Grabsteine mit Kreuzen zeugen –, andere konfessionslos; nicht wenige hatten aus Angst vor der Deportation Selbstmord begangen. An der Genese dieses Gedenksteins, der im Rahmen einer jüdisch-christlich-ökumenischen Gedenkfeier 2003 enthüllt wurde, hatte Stourzh maßgeblichen Anteil.

Abgerundet wird der Band stimmigerweise durch die schriftliche Fassung der Abschiedsvorlesung von Gerald Stourzh. Der Titel „Menschenrechte und Genozid“ macht freilich gleich deutlich, dass es dem Autor um mehr als honorige akademische Anmerkungen zu tun war. Im Vordergrund steht auch hier das „Interesse für öffentliche Angelegenheiten“, die reflexive Gestaltung der res publica. Trotz unbestreitbar positiver Entwicklungen im Menschenrechtsbereich seit 1945 – als wichtige Zäsur nennt er etwa die „Versöhnung der katholischen Kirche mit der Idee der Menschenrechte“ in der Enzyklika „Pacem in terris“ (1963, Johannes XXIII.) – warnt Stourzh auch vor gegenläufigen Entwicklungen, vor Rückfall in ethnozentrische Diskurse. Moralisieren ist freilich seine Sache nicht – der nüchterne Blick auf die Geschichte als „einen offenen Prozess“ ist ihm Moral genug. So stellt er denn an den Schluss ein Wilhelm von Oranien zugeschriebenes Diktum: „Man muss nicht Erfolg haben, um ausdauernd zu bleiben.“ Stourzh freilich hatte – ausdauernd – Erfolg.

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