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Von der Poesie des Historischen

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GEORG LUKACS — FESTSCHRIFT ZUM 80. GEBURTSTAG. Herausgegeben von Frank Ben »eie r. Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1965. 11« Seiten. 48 DM. — GEORG LUKACS: PROBLEME DES REALISMUS III: Der historische Roman (Werke, Band 6 . Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1965. 64:! Seiten. 6(1 DM.

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GEORG LUKACS — FESTSCHRIFT ZUM 80. GEBURTSTAG. Herausgegeben von Frank Ben »eie r. Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1965. 11« Seiten. 48 DM. — GEORG LUKACS: PROBLEME DES REALISMUS III: Der historische Roman (Werke, Band 6 . Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1965. 64:! Seiten. 6(1 DM.

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Wenn ein Mann wie Georg Lukäcs seinen Geburtstag feiert, so geht das nicht mit den üblichen Reverenzen und Lobhudeleien ab — nicht einmal dann, wenn es sich bereits um den 80. handelt.

So war denn auch der Verlag sehr gut beraten, die Festschritt für nicht zu einer um Lukäcs zu machen. Es konnte bei diesem ungewöhnlichen Vorhaben, wie der Herausgeber Frank Benseler feststellte, nicht um ein Sammelsurium gelehrter, wohlwollender Beiträge gehen, die den Gefeierten noch zu Lebzeiten zum Ehrentoten ernennen, sondern man wollte „die Energie der Anstöße auf- nehinen“ und zeigen, wo die offenen Fäden weitergeknüpft worden sind, wo nicht. Thema ist nicht die Person Georg Lukäcs, sondern das, was er immer wieder vor allęm seinen jüngeren Zeitgenossen ins Bewußtsein rufen will: der Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft, Philosophie und Politik, Kunst und Wirklichkeit in der Zeit. So gesehen 1st das äußerst ambitionierte Unternehmen gelungen. Es kann natürlich nicht verwunderlich sein, daß dabei meistens jene Leute zu Wort kommen, die „offene Fäden“ weiterknüpfen, weniger solche, die allerdings von Lukäcs angeregt — andere Wege gingen, und überhaupt niemand aus der Reihe der bedeutenden Literaturhistoriker und Ästhetiker, die im späten Lukäcs den „Ton eines Wilhelminischen Provinzschulrats“ zu hören vermeinen und die Veröffentlichungen seiner Werke im Westen während der letzten dreißig Jahre nur den „unterdessen widerrufenen und von seiner Partei mißbilligten Frühwerken zuschreiben (Th. W. Adorno in „Noten zur Literatur II“, S. 152/53). Hans Mayer und Bloch sind ähnlicher Ansicht. Tatsächlich hat sich Lukäcs von seinen bedeutenden, zum Teil genialen Frühwerken entfernt und landete spätestens in „Zerstörung der Vernunft“ unter deutlicher Ablehnung der ästhetizi- stischen, dekadenten und formalistischen Modernen beim sozialistischen Realismus. Der Klassenkampf betrat mangels anderer Betätigung das Agitationsfeld der Kultur. Die verstockten Dekadenten, die kein Einsehen hatten, und denen Lukäcs mit einer für einen Literaturhistoriker großen Ranges atemberaubenden Verständnislosigkeit gegenüberstand, bekamen Prügel. Und die Kulturgenossen rieben sich zufrieden die Funktionärshände...

Davon ist in der Festschrift verständlicherweise nicht die Rede. Nur Emst Fischer erwähnt diese Problematik in seinem sonst recht salbungsvoll-konventionellen Beitrag „Der Lehrer und die Schüler“. Auch sonst schaut noch so manche Katze aus dem marxistischen Sack, die nicht herausgelassen wird. Daß der Herausgeber Frank Benseler in „Ein Lokalpatriot der Kultur“ Budapest die heimliche geistige Hauptstadt Europas nennt, kann man aus der Verehrung für Lukäcs ja noch erklären, daß in einer Geburtstagsschrift das Geburtsdatum des Meisters ebenso wenig zu finden ist wie eine etwas ausführlichere Biographie, bleibt unverständlich. Dem gegenüber ist die Bibliographie höchst lobenswert.

Im dreigegliederten Hauptteil — Ideologie und Politik; Philosophie; Literatur und Kunst — geht es ziemlich bunt zu: Hochinteressantes

(Hans Mayer: Rhetorik und Propaganda; Frank Benseler: Sprache und Gesellschaft; Paolo Rossi: Über die Geschichtlichkeit der Philosophie; Rosario Assunto: Schönheit ohne Anmut: Notizen zur Ästhetik Kants und andere) steht neben relativ Langweiligem oder Banalem (Wolfgang Abendroth: Soziale Sicherheit in Westeuropa nach dem zweiten Weltkrieg; Harry Pross: Ansichten zur zeitkritischen Funktion der westdeutschen Literaten; Rolf Hochhuth: „Die Rettung des Menschen“ u. a.). Ės geht um viel Ideologisches und wenig um die Kunst. Eine Literaturbetrachtung, die sich mit den modernen Problemstellungen befriedigend auseinandersetzen könnte (wobei mit dem Modernen hier groteskerweise bereits beim Expressionismus begonnen werden müßte), hat in dieser Konzeption natürlich keinen Platz. Die Stärke und die Grenzen Georg Lukäcs’ sind also offensichtlich und entgegen anderen Beteue rungen auch die Starke und die Grenzen eiiner Festschrift für ihn ...

Der historische Roman in seinem vielfältigen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Problemen liegt Lukäcs natürlich besonders am Herzen. Das zeigt sich bereits beim ersten Teil seiner „Probleme des Realismus III“ im Kapitel über Walter Scott. Fundierte Sachkenntnis vereint sich hier mit einer aktionsfähigen marxistischen Dogmatik zur Suche nach dem — allerdings recht willfährigen — „wahren Historischen“. Denn nach Lukäcs ist Scott nicht nur eine eminente epische Begabung, sondern ermöglichte auch als einer von wenigen eine „objektive“ Gestaltung des historischen Stoffes. Sein Konservativismus wird ihm vergeben und als Größe uminterpretiert. Trotz einiger Einwände im einzelnen überzeugt Lukäcs’ philoso- phisch-marxistisch gestützte Methodik.

Das kann allerdings nur so lange gut gehen, als er nicht im linientreuen Kathederton ans Massenschlachten ganzer Literaturepochen geht: der „reaktionären Romantik“ zum Beispiel. Oder des „bürgerlichen Realismus“. Später sollte sich noch die dekadente Moderne zur Herde der schwarzen Schafe gesellen.

Pflückt man hier so manche seltene Blüte, dann möchte man beinahe wirklich in den Chor der sehnsuchtsvollen Rufer nach der guten alten Zeit einstimmen, in der Georg Lukäcs noch Frühwerke geschrieben hat. Sicherlich: Wenn er Reaktionäre tadelt oder — was noch schlimmer ist — sie zu erklären versucht („Die Romantik hat gegen die Häßlichkeit des kapitalistischen Lebens mit einer Flucht in das Mittelalter protestiert“ S. 282), wenn er Stifter als solchen abtut, wenn er C. F. Meyers „willkürliches“ Gestalten der Geschichte und seine Sentenz von der Unerkennbarkeit des Menschen als „soziale Impotenz“ verurteilt oder wenn er sich genötigt fühlt, in der dramatischen Ästhetik die Komödie von der Tragödie zu trennen, weil sie nach seiner Darstellung nicht in einen dogmatischen Hut passen wollen, so hat das alles den tieferen Grund in seiner marxistischen Bestimmung von Realität und Geschichte. Hartnäckig verlangt er die Widerspiegelung der „objektiven Wirklichkeit“ im Sinne des Vulgärmaterialismus und sucht die „eigentliche, spezifische, wirkliche Poesie des historischen Lebens“

(S. 93). Er unterscheidet originellerweise eine wirklichkeitsgetreue und eine reaktionär romantische Geschichtsdarstellung. Wirklichkeitsgetreu ist dann stets der Kampf der Proletarier gegen die jeweilige Reaktion. Metaphysik, Poetisierung, Privatisierung, die gesellschaftliche Probleme nicht einbezieht, und Erfindungen sind unerwünscht, die Kunst soll Gesellschaft und Realität identifizieren.

Am eindeutigsten hat hier wieder Adorno gegen Lukäcs Stellung bezogen: „Kunst selber hat gegenüber dem bloß Seienden, wofern sie es nicht, kunstfremd, bloß verdoppelt, zum Wesen, Wesen und Bild zu sein. Dadurch erst konstituiert sich das Ästhetische; dadurch, nicht im Blick auf die bloße Unmittelbarkeit, wird Kunst zur Erkenntnis, nämlich einer Realität gerecht, die ihr eigenes Wesen verhängt und was es ausspricht zugunsten einer bloß klassi- fikatorischen Ordnung unterdrückt. Nur in der Kristallisation des eigenen Formgesetzes, nicht in der passiven Hinnahme der Objekte konvergiert Kunst mit dem Wirklichen. Erkenntnis ist in ihr durch und durch ästhetisch vermittelt“ (Noten, zur Literatur II, S. 164).

Das, was den Begriff der Ästhetik von dem Realitätsbegriff Lukäcs’ trennt, ist zu groß, als daß man es trotz unbestritten großer Leistungen (auch in diesem Buch außer acht lassen könnte. Daß seine Ergebnisse oft verblüffend und viele Einzelheiten wertvoll sind, ja, daß man seinen Werken eine intensivere Diskussion mit Hilfe einer größeren Verbreitung wünscht, ist schon erstaunlich genug am widersprüchlichen Phänomen Georg Lukäcs.

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