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Von Genf nach Genf

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Am 20. Juni hat sich die Genfer Konferenz bis zum 13. Juli vertagt. Das kurze Schlußkommunique meldet: „Auf der Außenministerkonferenz, die in Genf am 11. Mai 1959 begann, fand ein ausgedehnter Meinungsaustausch über die zur Diskussion stehenden Fragen statt. Die Minister sind der Auffassung, daß weitere Gespräche und Verhandlungen notwendig sind.“

Der Westen hat sich, was seine Verhandlungstaktik betrifft, in Genf nicht schlecht gehalten. Der neue amerikanische Außenminister Herter hat seine Feuerprobe auf dem Parkett bestanden; er ließ es weder an Klarheit der Vorschläge noch an persönlichem Einsatz fehlen. Immer wieder ging er in die Höhle des Löwen.

Die letzten Angebote des Westens enthalten sehr weitgehende Konzessionen, die in der Zukunft bedeutsam werden können. In der Berliner Frage gestehen sie die Ausklammerung Berlins aus dem NATO-Bereich zu, bieten die Kontrolle der Zufahrtswege nach Berlin „deutschem Personal“, also den ostdeutschen Behörden an. Da diese Angebote der Westmächte die freien Wahlen in Deutschland jetzt an das Ende der Entwicklung, nicht an den Anfang der Wiedervereinigung stellen und auch einen gesamtdeutschen Ausschuß akzeptieren, in dem die Vertreter der Ostzone ein Vetorecht haben sollen, sind hier, ob man es zugeben will oder nicht, bedeutsame Schritte auf dem Wege zu einer Anerkennung Pankows als zweitem deutschem Staat getan.

In eben dieser Richtung stößt Chruschtschow weiter vor. Am selben Tag, an dem die Außenminister in Genf auseinandergingen, konnten in Ost-Berlin die eben aus Moskau zurückgekehrten Führer des ostdeutschen Regimes, Ulbricht und Grotewohl, in der Stalinallee erklären, daß Chruschtschow sie in allen deutschen und inter nationalen Fragen mit Nachdruck unterstütze. Alle Rohre der russischen Diplomatie schießen auf Bonn. Auf ein Bonn, in dem die Konflikte zwischen Adenauer und Erhard sowie zwischen dem Kanzler und seiner Partei, täglich überbrückt und täglich wiederbelebt, das erhöhte Maß an Unsicherheit anzeigen, das für das politische Klima der Bundesrepublik im ersten Jahr ihres zweiten Jahrzehnts charakteristisch ist.

Die Sowjets suchen — das ist in Genf klargeworden—die Deutsche Demokratische Republik als feste Bastion zur Sicherung ihrer europäischen Interessen zu halten, ja auszubauen, gewitzigt durch ihre Erfahrungen in Ungarn, Polen, auch des 17. Jüni 1953, an dem sich die Arbeiterschaft der deutschen Ostzone erhoben hat. Immer deutlicher zeigt sich auch, daß sich die Deutsche Demokratische Republik ausgezeichnet für politische Vorstöße in die Deutsche Bundesrepublik eignet, in der ein erschreckendes inneres Vakuum herrscht: je reicher gewisse Schichten werden, je höher der materielle Lebensstandard wird, um so deutlicher wird das Unbehagen sichtbar, das — anders als 1932 — nicht aus der unbewältigten Not, sondern aus dem unbewältigten Wohlstand herrührt: Kleiner, allzu rasch reich gewordener Mann, was nun?

Mit dieser Nervosität operiert Chruschtschow. Es wird für die westlichen Verbündeten, vor allem für Herter, nicht leicht werden, diese unruhigen, das heißt zutiefst unsicheren Deutschen zu beruhigen und gleichzeitig mit den Russen zu verhandeln. In dreiundzwanzig Tagen lassen sich keine Lösungen der Berlin-Frage, des deutschen Problems finden, fehlt doch das notwendige Gegengewicht gegen den russischen Vorstoß in Europa. Das aber heißt: Haben bis jetzt die Sowjets hinhaltend gefochten, dann fällt jetzt diese Rolle dem Westen zu. Er muß Zeit gewinnen, um im globalen Maßstab seine Gegengewichte auszubauen: durch Proklamation und beginnende Verwirklichung des neuen „Marshall“-Planes für die unterentwickelten Völker Afrikas und des nichtkommunistischen Asiens; durch die Ausarbeitung einer Charta für die nichtrussischen Völker Osteuropas: diese müssen endlich erfahren, daß der Westen bereit ist, ihnen zu helfen und für sie international einzutreten, ohne mit der Bombe und der Rebellion zu kokettieren.

Das Wichtigste, weltpolitisch gesehen, scheint uns aber in einem Auftrag zu liegen, den die Weltsituation eben jetzt den Westmächten zuschanzt: jetzt ist es an der Zeit, die Friedensoffensive zurückzurollen. Jahre hindurch haben die Sowjets mit ihrer Weltfriedensbewegung Erfolg gehabt. Nach den Ereignissen in Ungarn aber, in Tibet, zuletzt in Kerala, dem kommunistischen Teilstaat der indischen Repubfik, aber auch im arabischen Nahen Osten ist es dem Ostblock immer schwerer geworden mit seiner Visio'n des Weltfriedens in Afrika, Asien, ja der ganzen Welt zu überzeugen. Eben das ist der Zeitpunkt, an dem der Westen seine Friedensbewegung starten müßte; mit der ganzen Kraft der Wahrheit und selbstsicheren Ueber- zeugung: Wir freien Frauen und Männer der westlichen Welt sind bereit, euch, unseren Brüdern in Afrika und aller Welt, nach bestem Wissen und Gewissen mit allen Mitteln zu helfen beim Aufbau eurer Wirtschaft, eures Staates, eurer Freiheit, eurer Unabhängigkeit.

Nicht zuletzt für die freie Stadt Berlin wäre dies lebenswichtig, ja ein Fanal: wenn durch eine solche Hilfe, erstmalig in nüchterner Interessengemeinschaft verbunden, außereuropäische Völker in ihrem Notstand sich verbrüdert erfahren mit einem Volk im Herzraum des alten Europa…

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