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Von Godesberg nach Genf

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In demselben, grün und gold gehaltenen Sitzungssaal de ehemaligen Völkerbnndpalais, in dem die Regierangschefs im vergangenen Juli tagten, wurde am 27. Oktober in Gent die Konferenz der Außenminister der vier Großmächte eröffnet. Man nimmt an, daß die Sitzungen, die nach der Direktive der „Großen Vier“ die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Sicherheit, die Abrüstungsfrage' und die Intensivierung von Kontakten zwischen West und Ost behandeln sollen, zwei bis drei Wochen dauern werden. Die „Furche“

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In demselben, grün und gold gehaltenen Sitzungssaal de ehemaligen Völkerbnndpalais, in dem die Regierangschefs im vergangenen Juli tagten, wurde am 27. Oktober in Gent die Konferenz der Außenminister der vier Großmächte eröffnet. Man nimmt an, daß die Sitzungen, die nach der Direktive der „Großen Vier“ die Wiedervereinigung Deutschlands und die europäische Sicherheit, die Abrüstungsfrage' und die Intensivierung von Kontakten zwischen West und Ost behandeln sollen, zwei bis drei Wochen dauern werden. Die „Furche“

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Als Eisenhower im Juli aus Genf zurückkehrte, regnete es in Strömen. Trotzdem ordnete Nixon an, daß die auf ihren Meister auf dem Flugfeld wartenden Beamten keine Regenschirme zu tragen hätten; man wollte jeden Anklang an die Heimkehr Chamberlains und seine Politik des „Appeasements“ vermeiden. (Das deutsche Wort „Befriedung“ hat nicht dieselbe politische Färbung angenommen, kann es doch noch in gutem Sinn verwandt werden.)

Es scheint uns, laß die aus der Maßnahme sprechende Wachsamkeit durchaus zu begrüßen ist, wenn auch der Anknüpfungspunkt hier etwas oberflächlicher Natur gewesen war. Es fragt sich nur, ob der amerikanische Vizepräsident da im Grunde genommen viel schlechter abschneidet als andere Politiker, Journalisten und Schriftsteller. Ja, um ehrlich zu sein: wer hätte es noch nicht an sich selbst erfahren? Wir lesen oder hören irgend etwas, das uns irritiert, und plötzlich sagt etwas in uns: „Da ist er wieder, der Geist von München, das Verlangen, die eigene Haut mit schäbigen Opfern zu retten, und die böse Ungeduld mit den Geopferten.“

Und wie ein flimmernder Film tauchen unzählige Bilder und Worte vor uns auf... Da sehreitet die englische Delegation über die regennassen Stufen des Berghofs hinauf... Sir Samuel Hoare spricht vom goldenen Zeitalter, das nun kommen werde, weil die drei Diktatoren und die zwei Premiers es so wollen ... Lord Halifax empfängt gelangweilt die Boten des anderen Deutschlands ... Chamberlain gähnt den unglücklichen Tschechen ins Gesicht... der aalglatte Bonnet führt Ribbentrop im Louvre herum.....on luit fit visiter le Musee du

Louvre“, heißt es in den Memoiren, Halbwahrheit aus der Zeit des Zwielichts!

Aber wo liegt hier die Grenze zwischen zufälliger Assoziation und kausalem Zusammenhang? Wäre es nicht wichtig, Klarheit zu schaffen? Der Westen steht offenbar vor einer Verhandlungsphase mit dem Osten, die sich über Jahre erstrecken kann. Der Weg in eine bessere Zukunft mag steinig und gewunden sein, und es wird die Dinge nicht erleichtern, wenn jeden Augenblick ein Kommentator aus dem Busch springt und „Appeasement!“ schreit.

Das aber wird sich nur vermeiden lassen, wenn man über Wesen und Struktur der „Appea-sement-Politik“ genau Bescheid weiß.

Was zunächst auffällt, ist das eminent persönliche Element dieser Art 'von Außenpolitik. Chamberlain allein war es, der, unterstützt von wenigen Beratern, die als Outsider angesehen werden mußten (wie etwa Ashton Gwatkin), Entschlüsse traf, und diese Entschlüsse basierten wieder auf seiner Einschätzung der Männer der Gegenseite, basierten also auf seiner Meinung, derzufolge Hitler anständig und Mussolini friedfertig waren. Hiermit war eine doppelte Fehlerquelle eingeschaltet worden. Aber das ist keinesfalls alles. Diese Art, auswärtige Angelegenheiten zu führen, zerstört nämlich zwangsläufig den Apparat, auf dem man sich stützen müßte. Es begann in England in der obersten Führungsgliederung. Um gegen den unbequemen, aber durch seine Geltung im Land und Parlament nicht ohne weiteres entbehrlichen Außenminister (Eden) Politik machen zu können, wandte Chamberlain Kunstgriffe an, die er zum Teil einem anderen Jahrhundert mit anderen politischen Anstandsbegriffen entlehnte. Er ging so weit, sich mit dem Botschafter einer potentiell feindlichen Großmacht — Grandi — gegen den eigenen Minister zu verbinden. Dies war damals dem Foreign Office kaum bekannt, die Spannung in den beiden Spitzenpositionen konnte natürlich nicht verborgen bleiben. Der Apparat verspürte daher die ersten Anzeichen eines Loyalitätskonfliktes. Die meisten der Beamten dürften dabei zu Eden gehalten haben, und als Chamberlain den berühmten, ein verschleiertes Hilfsangebot enthaltenden Brief

Roosevelts mit eiskalter Höflichkeit beiseite schob, fuhr einer der „loyalen“ Beamten Eden, der eben auf Urlaub gewesen, entgegen, um ihn zu verständigen. Der Rücktritt des Außenministers folgte. Natürlicherweise blieb dem Premier der Widerstand des Apparates nicht verborgen, damit ergab sich für ihn die Versuchung, auf den personellen Sektor Einfluß zu nehmen. Sucht man aber einmal Botschafter aus, weil von ihnen angenommen werden kann, daß sie Berichte schreiben, die einem gut ins Konzept passen, und kann man solche Botschafter, wenn sie, wie im Falle Sir Nevile Hendersons, grobe Fehler machen, nicht abberufen, so verliert man bald den Ueberblick und muß zu noch fragwürdigeren Kunstgriffen Zuflucht nehmen. So wurde ein die Tschechoslowakei betreffender Beschluß mit dem Runciman-Bericht motiviert, der noch gar nicht vorlag und daher später vordatiert wurde!

Es ergibt sich also die Frage, inwieweit man gegenwärtig mit ähnlichen Fehlerquellen in der Führungstechnik des Westens rechnen muß. Die Antwort ist erfreulicherweise, daß die Voraussetzungen des „Appeasement“ fast völlig fehlen. In den Vereinigten Staaten hat Präsident Eisenhower, um von der zunächst ungewohnten Bürde seines hohen Amtes nicht erdrückt zu werden, einen Apparat aufgebaut, der seinen militärischen Erfahrungen entsprochen hat, wobei Sherman Adams als „Generalstabschef“ fungiert. Man hat eingewandt, daß dieser Apparat in der USA-Verfassung nicht verankert sei und sich an kein bekanntes Vorbild anlehne. Für unsere Betrachtung ist dies von untergeordnetem Interesse, wichtig ist, daß er eine Rückkehr zu der persönlichen Politik Roosevelts — die unter völlig verschiedenen Voraussetzungen und getragen von einem Mann sehr viel größeren Formates, doch gewisse Schwächen aufwies, die auch der Amtsführung Chamberlains eigen waren — höchst unwahrscheinlich macht. Ebenso günstig ist die Lage in England: Es war Tden, gegen den sich damals die Ränke Chamberlains richteten, und Eden ist derjenige unter den Premiers Großbritanniens, der am längsten das Foreign Office geführt hat. Studiert man die Jalta-Dokumente, dann entdeckt man, daß niemand sich auf der Krim den persönlichen Entschlüssen Churchills wie Roosevelts so entschlossen entgegengestellt hat wie er. Sicherlich weiß der heutige Premier Großbritanniens auch besser als irgendein anderer, daß die Führung der auswärtigen Politik bestenfalls ein Prozent genialer Improvisation (zu der meist ein Churchill nötig ist) enthält, daß aber 99 Prozent geduldige, nie abreißende Team-Arbeit sein muß. Was schließlich Frankreich anbelangt, so ist, bei dem raschen Verbrauch von Premiers und ihrer Minister, der Einfluß der hohen Beamten am Quai d'Orsay, die aus den wechselnden Mehrheitsverhältnissen und ewigen Intrigen des Palais Bourbon herausgehalten werden, in den letzten Jahren eher größer als kleiner geworden. Manchmal mag es ihnen so zumute sein wie den Wiener Philharmonikern, die, befragt, was sie unter einem schwachen Dirigenten gespielt hätten, die hochgemute Antwort gaben: „W i r haben die Neunte gespielt.“

Ueberblickt man die gegenwärtige Lage, so ist das Gefühl, das man in einem integralen System operiere, durchaus lebendig. Ja, es macht sogar den Eindruck, daß man sich davon eher überwältigen läßt und vergeblich nach einer Technik sucht, die die Abstimmung der einzelnen Probleme aufeinander möglich machen würde. Nirgends ist dies so klar hervorgetreten wie auf der Abrüstungskonferenz in New York, die das Terrain für Genf abstecken sollte. Die Abrüstung auf dem Atomgebiet setzt eine Abrüstung auf dem konventionellen Rüstusgssektor voraus, diese wird nur in einer Atmosphäre des Vertrauens Wirklichkeit werden, eine solche Atmosphäre wird sich nur einstellen, wenn die Ursachen der Spannung, vor allem also die Teilung'Deutschlands, behoben werden. Wie aber soll dies geschehen, wenn auf beiden Seiten die Atomlager immer rascher aufgefüllt werden, rascher jedenfalls als die Brauchbarkeit der Bomben infolge Nachlassens der Radioaktivität, absinkt? Es ist mit anderen Worten nicht genug, die besten Einzellösungen auszuarbeiten, das Geheimnis des Weltfriedens liegt sozusagen mehr in der Montage, in dem plötzlichen Zusammenschieben und Zusammenpassen der komplizierten Einzelteile der Weltsicherheit.

München lag mit anderen Worten auf einer sehr anderen Ebene als Genf, der böse Klang und die unheilvolle Erinnerung mögen trotzdem eine nützliche Warnung sein, daß die unmoralischen Lösungen meist auch die gefährlichsten Lösungen sind.

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