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Von Kerenski zu Lenin

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Die provisorische Regierung, seit Juli unter Kerenski, war natürlich unfähig, die Situation zu meistern, da sie nicht wußte, was sie wollte, und da sie den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn weiterführte — nichts als Niederlagen einsteckend. Das Volk forderte Frieden und Brot, aber beides kannte oder wollte ihm die provisorische Regierung nicht geben. Die Bolschewisten Lenins hatten dank ihrer zielstrebigen Politik in den Sowjets von Leningrad und Moskau die Mehrheit errungen, und nun erst erachteten Lenin und Trotzfci die Zeit als reif für ihre Revolution: am 6. November schlugen sie los, und da sich die provisorische Regierung ohnehin schon in Auflösung befand und das Militär sich auf die Seite der Revolutionäre schlug, gelangten sie rasch ans Ziel. Freilich bildeten die Bolschewisten im Lande noch immer eine Minderheit: aus den drei Wochen später durchgeführten, schon von der Kerenski-Regierung vorbereiteten Wahlen zu einer konstituierenden

Nationalversammlung gingen die nichtmarxistischen Sozialrevolutionäre mit rund 21 Millionen Stimmen (von rund 36 Millionen) als große Sieger hervor. Die Bolschewisten erhielten nur rund 9 Millionen. Aber die Sozialrevolutionäre Waren innerlich uneinig, und Lenin hatte die Macht: als die konstituierende Versammlung im Jänner 1918 zum erstenmal zusammentrat, wurde sie von roten Truppen gesprengt. Lenin hatte sich für die Diktatur entschieden. Für die Marxsche „Diktatur des Proletariats“, die allerdings vom ersten Augenblick an die Diktatur einer Kaderpartei über das Proletariat war.

Im Widerspruch zu Marx

Hier nun ist eine zweite entscheidende geschichtliche Tatsache zu erwähnen: Die Oktoberrevolution und ihre Entwicklung befanden sich im Widerspruch zu mindestens drei fundamentalen Thesen der Theorie von Marx. Dieser hatte postuliert, daß die proletarische Revolution auf

dem Höhepunkt der Entwicklung des Kapitalismus stattfinden werde. Statt dessen erfolgte die erste sozialistische Revolution in einem unterentwickelten halbasiatischen Agrarland, das noch ganz am Anfang der

Industrialisierung stand und somit auch noch gar nicht über ein nennenswertes Industrieproletariat verfügte. Die erste proletarische Revolution erfolgte faktisch in einem Land ohne Proletarier.

Der zweite Widerspruch zur Marxschen Theorie hängt eng mit diesem Sachverhalt zusammen. Soweit Marx überhaupt von einer „Partei“ sprach, verstand er darunter offensichtlich das sich seiner selbst bewußt gewordene Proletariat in seiner Gesamtheit. Schon allein deshalb war Lenin gezwungen, den Begriff „Partei“ auf eine Kaderelite zu reduzieren, wollte er über ein schlagkräftiges Instrument verfügen, mit dem sich eine Revolution durchführen ließ. Da Lenin weiter — sei es aus Charakteranlage, sei es aus rationalen taktischen Gründen —, diese Partei als eine Befehlshierarchie konzipierte, in der die Willensbildung diktatorisch von oben nach unten und nicht demokratisch von unten nach oben erfolgte, hatte sich die ursprüngliche breite Marxsche Proletariatspartei und -diktatur in eine schmale Funktionärspartei und -diktatur über das Proletariat verwandelt.

War die Diktatur notwendig?

Da nun die russische Revolution nicht, wie Marx gehofft hatte, eine vollentwickelte Industrie übernehmen konnte, erhielt der „Aufbau des Sozialismus“ in Rußland eine Bedeutung, die er bei Marx nicht hatte, ja die der Marxschen Konzeption sogar widersprach: er bedeutete einen von Staat und Partei auf das Volk ausgeübten Zwang, durch Konsumverzicht die Mittel zur Verfügung zu stellen, deren der Staat bedurfte, um das Land industrialisieren zu können. Gewiß war durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, das heißt durch die Verstaatlichung oder Kollektivierung der gesamten Wirtschaft jede Form privatkapitalistischer „Herrschaft des Menschen über den Menschen“ und Ausbeutung beseitigt worden, aber die von Kapitalismus und Feudalismus befreiten Arbeiter und Bauern konnte man nicht sich selbst überlassen. Noch fehlte es in einer weitgehend des Lesens und Schreibens unkundigen Bevölkerung an sozialpolitischem Verantwortungsbewußtsein, ja überhaupt an politischem Bewußtsein. Also waren die Sowjetführer, berücksichtigt man den Zwang zur Industrialisierung und zur kulturellen Entwicklung, bis zu einem gewissen Grade objektiv gezwungen, die auf dem Sektor „Eigentum“ beseitigte Entfremdung auf dem Sektor „Staat und Partei“ wiederauferstehen zu lassen. Der russische Knecht wurde zwar von seinem kapitalistischen oder feudalistischen Herrn befreit, aber nur, um in Staat und Partei einen neuen Herrn zu erhalten. Auf

Staat und Partei hatte der einzelne ebensowenig Einfluß wie früher auf Kapital und Grundbesitz, da Lenin weder im Staat noch innerhalb der Partei eine wahre demokratische Willensbildung zuließ und die So-

wjets bald einmal nur noch dem Namen nach Arbeiterräte waren. Die Entfremdung hatte somit nur die Couleur gewechselt. Von Sozialismus spürte der einzelne wenig.

Hier nun stellt sich die Frage: waren Lenin und Trotzki tatsächlich aus objektiven Gründen gezwungen, derart diktatorisch vorzugehen, oder hätten sie nicht doch von allem Anfang an ein gewisses Maß an Demokratie — im Staat wie in der Partei — einführen und so dieses atemberaubende Sowjetexperiment bewahren können? Diese Frage ist schon unmittelbar nach der Revolution gestellt worden, sehr laut und eindringlich gestellt worden, und zwar nicht etwa von menschewisti-scher oder gar bürgerlicher Seite, sondern aus den eigenen Reihen. Es war Rosa Luxemburg, die sie gestellt hatte, eine der größten Gestalten der Geschichte des neuzeitlichen Kommunismus, eine gelegentlich bis zum Fanatismus gläubige Kommunistin, die 1919 von einer Vorhut des Nationalsozialismus ermordet worden ist. Rosa Luxemburg hatte die Revolution als „das gewaltigste Faktum des Weltkriegs“, die Lenin-Partei als „die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff“, und Lenin und Trotzki als „die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind“, begeistert begrüßt und sich damit eindeutig zu den Bolschewisten bekannt. Aber schon 1904, in ihrer Schrift über „Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie“ hatte sie den „rücksichtslosen Zentralismus“ und das Jakobinertum Lenins kritisiert, von dessen Staatskonzeption sie meinte, diese scheine „vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein“. Die große Auseinandersetzung mit Lenin findet sich jedoch in ihrer Schrift über „Die russische Revolution“ von 1917. Zwar meint sie, „eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Land wäre ein Wunder“ gewesen.

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