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VON NEUEN BÜCHERN

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Böhmische Tragödie. Das Schicksal Mitteleuropas im Lichte der tschechischen Frage. Von Hermann Münch. Verlag Georg Westermann, Braunschweig. 802 Seiten

Das Buch von Münch, das die Geschichte der böhmischen Länder zwischen 1848 und 1914 behandelt, führt mit Recht den Titel .Tragödie“. Denn ein ungeheures Trauerspiel spiegelt jede Seite dieses Buches wider: sie besteht in dem Sichnichtverstehen zweier Völker, die sich doch so nahe waren durch gemeinsame Geschichte, gemeinsame Kultur, gemeinsamen Lebensstil, gemeinsames Vaterland. Die Schuld lag sicher auf beiden Seiten, doch war 6ie auf der einen Seite — leider — wesentlich größer.

Ernst von Plener, einer der führenden Köpfe der sudetendeutschen Politik innerhalb der Donaumonarchie, hatte knapp nach dem ersten Weltkrieg, in Erinnerung an die Kämpfe zwischen Deutschen und Tschechen, den resignierten Ausspruch getan, daß die Deutschen sich wahrscheinlich doch zu intran-6igent gegenüber den tschechischen Forderungen verhalten hätten. Ein sehr mildes Urteil über eine Politik, die in ihrer Auswirkung den Untergang der Habsburgermonarchie mit verschuldet hatte. Denn die sudetendeutsche Politik hatte es immer wieder verhindert, daß die Tschechen die Gleichberechtigung erhielten, sie hatte es zuwege gebracht, daß die Tschechen mit dem Odium einer zweitklassigen Nation in der Monarchie behaftet waren, sie hatte es verschuldet, daß 6ie — lange vor 1914 — als AntiÖsterreicher galten.

Worin bestanden nun die wirklichen .Vergehen“ der tschechischen Nation in Österreich? Daß 6ie einmal den .deutschen“ Charakter der Donaumonarchie ablehnte und die Habsburgermonarchie in ein beileibe nicht slawisches Reich umgewandelt wissen wollte, in dem sich alle Nationen heimisch fühlen sollten. Wenn dies ein .Vergehen“ war, dann hatte Kaiser Franz Joseph als erster es begangen, als er im Throhbestei-gungsmanifest von 1848 dies den Völkern der Monarchie zugesichert hatte. Der „deutsche“ Charakter der Monarchie wurde ohnedies von Jahr zu Jahr mehr eine Fiktion. Von 52 Millionen Einwohnern waren über die Hälfte Slawen. In den böhmischen Ländern lebten neben 3,5 Millionen Tschechen nur 2 Millionen Deutsche. Es wäre auf die Dauer unmöglich gewesen, daß eine Minorität über Majoritäten herrschte. Dank ihres kulturellen, Wirtschaft-

liehen und sozialen Besitzes hätten die Deutschen immer einen überragenden Einfluß in der Monarchie behalten, auch dann, wenn sie sich auf ihr eigenstes Besitztum zurückgezogen hätten und nicht einer Fiktion nachgegangen wären.

Das zweite „Vergehen“ der Tschechen war, daß sie die Gleichberechtigung verlangten. Aber auch dies war kein Vergehen“, denn die Verfassung von 1867 hatte 6ie ausdrücklich allen Nationen zuerkannt, und sie forderten eigentlich nur, was legal war.

Ihr drittes „Vergehen“, daß sie den „böhmischen“ Staat forderten. 1867 hatten die Ungarn ihren Staat erhalten, die Kroaten etwas Ähnliches, in Galizien wurde via facti 6o etwas wie ein polnischer Staat, geschaffen. Bosnien-Herzegowina hatte eine weitgehende Selbständigkeit. Wenn dies alles kein Unrecht war, warum sollte die Forderung nach dem „böhmischen“ Staat eines sein? Die Tschechen waren dabei viel maßvoller als die Magyaren. Während diese einen rein ungarischen Staat sich schufen, wollten die Tschechen einen böhmischen, keinen tschechischen, in dem beide Nationen gleichberechtigt seien. Zahlreich waren die Angebote der tschechischen Politiker an die Deutschen gewesen, durch Gesetze jede Majori6ierung, jede Entnationalisierung unmöglich zu machen. Die Deutschen hatten beharrlich „nein“ gesagt, weil s i e immer die erete Geige spielen wollten, allein, ohne eine andere Nation neben sich. Die Forderung nach dem „böhmischen“ Staat war — psychologisch verständlich — am stärksten nach dem Ausgleich mit Ungarn erhoben wordeh. Später verblaßte diese Forderung immer mehr, wenn sie auch nie ganz fallen gelassen wurde.

Die „Vergehen“ der tschechischen Nation waren somit alle keine Vergehen, und schon gar kein Hochverrat an Österreich. Natürlich' gab es innerhalb dieser Nation Leute, die gegen die Monarchie waren. Aber die gab es in jeder Nation der Monarchie. Der Franzose Cheradame, der zu Beginn des Jahrhunderts eines der bedeutendsten Bücher über die Monarchie schrieb, schätzte die Zahl der „Pangermanisten* auf 3 Millionen. Die waren sicher keine Anhänger Österreichs. Der tschechisch Feudaladel war nicht gegen

Österreich. Die tschechischen Katholiken noch weniger. Die sozialistischen Arbeiter ebenfalls nicht. Die Bauern 6ohon gar nicht, wußten sie doch sehr das große Absatzgebiet zu schätzen. Aus dem gleichen Grund waren die tschechischen Großindustriellen für die Monarchie. Wie immer war es die kleine Schicht von chauvinistischen Studenten, Mittelschulprofessoren, Lehrern, die gegen die Monarchie waren. Die überwältigende- Mehrheit des Volkes war für ihre Erhaltung. Wer die Reden tschechischer Politiker, angefangen von Palacky, über Rieger; zu Kramäf und Masaryk bis 1914 liest, der wird ehrlicherweise feststellen müssen, daß sie immer für die Monarchie eintraten. Ja, der wird mit Betrübnis feststellen müssen, daß sie wohltuend abstechen von den Hetzreden eines Wolf, Schönerer und Konsorten, die immer wieder den Frieden zwischen den Nationen verhinderten.

Allen Torpedierungen zum Trotz aber kam der Friede zwischen den beiden Nationen doch immer näher. Die besten Köpfe der Monarchie — und sie hatte nicht wenige — verwendeten alle ihre Mühe daran, diesen Frieden herbeizuführen. Leider war der Weg nicht immer das beste. Oft war es nur eine .Brosamenpolitik“, die den Tschechen gab, was ihnen rechtens gebührte. Oft wurden ihre Erwartungen überspannt, wie im Falle der nie erfüllten Krönungsversprechen, oft wurde bereits Gewährtes wieder zurückgenommen, wie im Fall Badeni. In den letzten Jahren der Großmacht trennte nur mehr eine „hauchdünne“ Wand die beiden Nationen. E6 i6t die ungeheure Tragik, daß zweimal innerhalb des letzten Jahrzehnts die Deutschen die letzte Verständigung zunichte machten. Nur in Mäh-

ren kam 1905 die endgültige Versöhnng zustande. Wäre der Krieg nicht ausgebrochen, der Friede zwischen beiden Nationen wäre dennoch eingetreten und die Umwandlung der Habsburgermonarchie zu einem Commonwealth of nations vollzogen worden. Zum Segen nicht nur der Völker der Monarchie, sondern der ganzen Welt. So aber mußte die Monarchie, beladen mit dem deutsch-tschechischen Gegensatz, in den Krieg treten, um von hier aus schließlich zersprengt zu werden.

Neben den Magyaren waren jene deutschen Politiker, die den Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen verhinderten, die Totengräber des Hab6burgerreidies. Dies zu leugnen, wäre unmöglich. Es ist der große Irrtum sowohl der Magyaren als jener Deutschen gewesen, daß 6ie glaubten, als Minorität über eine Majorität herrschen zu können. Daß sie vermeinten, wohlbegründete Ansprüche übergehen zu können. Daß sie vergaßen, daß sie, als die Reichen, als die „Besitzenden“, die Pflicht gehabt hätten, zu geben und nicht zu nehmen.

*

Das Werk von Hermann Münch, das diese böhmische Tragödie zwischen 1848 und 1918 behandelt, ist in gewissem Sinne eine Überraschung. Es ist das Werk eines NichtFachmannes. Es ist das Werk eines Nicht-Österreichers. Außer Flüchtigkeitsfehlern, außer einer zu geringen Gliederung des Stoffes wird der Fachmann kaum Einwände dagegen haben. Der Österreicher wird sich freuen, daß ein solches Verständnis auf reichs-deutscher Seite zu finden ist. Er wird es bedauern, daß von österreichischer Seite diese Arbeit noch nicht geleistet wurde. Dieses Werk kann allen, die mit dieser Tragödie verknüpft 6ind, also allen Sudetendeutschen und Tschechen, nur wärmstens empfohlen werden.

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