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Von Tyburn nach Westminster

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Die harte und oft blutige Unterdrückung, der die Katholiken Englands seit den Tagen Heinrichs VIII. mit kurzen Unterbrechungen ausgesetzt gewesen waren, hatte sie nach anderthalb Jahrhunderten so sehr geschwächt, daß sie unter dem toleranten Regime der Königin Anna und der ersten Herrscher aus dem Hause Hannover nicht mehr die Kraft besaßen, den Kampf auch nur um ihre bürgerliche Gleichberechtigung fortzuführen. Zu einer kleinen Minderheit geworden, die zeitweise kaum mehr als 100.000 Seelen zählte, und ohne zielbewußte Führung, blieben sie das ganze 18. Jahrhundert hindurch eine Quantite negligeable, auf die keine Partei und kein Politiker jener Zeit irgendeine Rücksicht nehmen zu müssen glaubte. Erst unter den Nachwirkungen der Napoleonischen Kriege und unter dem Druck der irischen Volksbewegung, die in Daniel O'Connor einen ebenso mitreißenden wie unerschrockenen Führer gefunden hatte, fügte sich das Parlament von Westminster der Einsicht Wellingtons und Peels und beseitigte mit dem Widerruf der diskriminierenden Test Actes von 1673 und der Verabschiedung der Catholic Emancipation Bill im Jahre 1829 die gesetzliche Schranke, die den Katholiken als einen BÜTger zweiter oder dritter Klasse von den vollwertigen britischen Untertanen getrennt hatte.

Aber, wenn nun dem katholischen Bevölkerungsteil, theoretisch wenigstens, der Weg in den öffentlichen Dienst und ins politische Leben offenstand, auf sozialem Gebiet hatte sich in der bisherigen Diskriminierung noch wenig geändert. Im Gegenteil, gerade der Umstand, daß die Katholiken vor dem Gesetze nicht mehr als „Unberührbare“ galten, verstärkte das Mißtrauen und die offene Gegnerschaft jener, die in jeder katholischen Manifestation, ja in jedem einzelnen Katholiken auf englischem Boden eine Gefahr für die anglikanische Staatskirche und sogar für den Bestand des britischen Weltreichs erblickten. Denn daß jeder Katholik ein politischer Emissär des Papstes sei und der Papst selbst sein ganzes Sinnen und Trachten darauf richte, das bodenständige Christentum und auch die weltliche Macht Englands zu zerstören, das galt für so manche als ein Dogma, an das sie fester glaubten als an irgendeinen der Artikel, die im anglikanischen Book of Common Prayer verzeichnet sind. Und sie sahen ihre Befürchtung durch die Tatsache bestätigt, daß nach der Emanzipation und namentlich im Zuge der „Oxfordbewegung“ zahlreiche Ubertritte zum Katholizismus erfolgten, darunter auch die des späteren Kardinals Newman, von dem man sich in seinen jungen Jahren große Dinge für die anglikanische Kirche versprochen hatte.

Gegen Mitte des Jahrhunderts erhielten die tiefgewurzelten antikatholischen Ressentiments einen neuen Auftrieb durch das Gerücht, der Heilige Stuhl beabsichtige die Errichtung' von Bistümern an Stelle der Apostolischen VIkariate, die bis dahin die englischen Katholiken in der Diaspora betreut hatten; und als tatsächlich, am 29. September 1850, die päpstliche Bulle erschien, mit der die Wiederherstellung der englischen katholischen Hierarchie, wenn auch in beschränkterem Umfang als vor dem großen Abfall, bekanntgegeben wurde, erscholl der alte und nie ganz vergessene Ruf „No Popery!“ in einer schon lange nicht mehr vernommenen Stärke. Die Regierang, das Parlament, fast die gesamte Presse und zahlreiche Organisationen und Einzelpersonen erhoben geharnischten Protest, und was damals gegen den Papst als .den Sendboten und Vertreter des bösen

Feindes“ gesagt und geschrieben wurde, hätte die Seiten eines dicken Buches füllen können. Man sprach sogar von strafrechtlichen Verfahren gegen die „hochverräterischen“ katholischen Prälaten, die „sich anmaßten, über die Teilgebiete des Königreiches, auf die sich ihre usurpierten Titel bezogen, namens einer auswärtigen Macht Jurisdiktion auszuüben“. Namentlich, daß es jetzt ein römisch - katholisches Erzbistum von Westminster geben sollte, also auch den Bezirk umfassend, in dem sich das britische Parlament und der Sitz der Regierung befand, betrachtete man als eine Herausforderung.

Weder Pius IX. noch die ausgezeichneten Männer, die an die Spitze der neuen Diözesen traten, waren durch In-vektiven und Drohungen irre zu machen, und nach und nach glätteten sich die

Wogen der Empörung. Die katholische Minderheit war nun einmal zu einem beachtlichen Element im englischen Volkskörper herangewachsen, und allmählich begann man auch in betont antikatholischen Kreisen ihre Bedeutung, zwar nicht in der politischen, wohl aber in der kulturellen und sozialen Sphäre, zur Kenntnis zu nehmen. Zum Teil gebührte das Verdienst hiefür den Mitgliedern des Episkopats, die sich jeder parteipolitischen Stellungnahme strikte enthielten, aber immer bereit waren, mit Vertretern gleich welcher Konfession für kulturelle, caritative und ähnliche Zwecke zusammenzuwirken; und zu einem guten Teile auch den hohen Leistungen der Katholiken auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts. Mehr als ein Viertel aller nichtstaatlichen Elementar-und Mittelschulen — das ist auch heute noch ungefähr ein Achtel der Gesamtzahl — entstand aus den freiwilligen Beiträgen der katholischen Bevölkerung und ist auch heute noch in katholischen Händen. Nichts könnte deren Qualität besser illustrieren als die Tatsache, daß viele darunter auch In der Zeit der schärfsten antikatholischen Stimmung einen erheblichen Prozentsatz nichtkatholischer Schüler aufweisen.

Der erste Weltkrieg, in welchem die englischen Katholiken die überzeugendsten Beweise ihres patriotischen Opfermutes geliefert hatten, ließ kaum mehr Raum für die Meinung, ein Katholik müsse kraft seines Glaubens ein minder zuverlässiger Staatsbürger sein, und tatsächlich kann seither von einer prinzipiellen Zurücksetzung der Angehörigen des katholischen Volksteiles, auf welchem Gebiete immer, kaum mehr gesprochen werden. Wohl bestehen noch Vorurteile in der religiösen Sphäre. Vof allem ist es die päpstliche Suprematie, die noch immer als Anlaß für Ausfälle genommen wird. Aber selbst in solchen Attacken schwingt nicht selten ein leiser

Unterton des Respekts für die päpstliche Autorität mit.

Nun rüsten sich also die Katholiken Englands — ihre Zahl beträgt heute mehr als drei Millionen — das Jubiläum ihrer Hierarchie festlich zu begehen. Und wenn am Nachmittag des 1. Oktober eine große Menschenmenge in die größte Arena des Landes, das Stadion von Wembley, strömt, um dort einem Pontifikalamt unter freiem Himmel als Höhe- und Schlußpunkt der Feierlichkeiten beizuwohnen, wird jeder Anlaß gegeben sein, um mit tiefster Dankbarkeit die heutige Lage der Kirche in England mit jener, noch nicht gar so fernen, zu vergleichen, da die Massen der englischen Hauptstadt auf Tyburn zusammenliefen, um sich am Schauspiel der Hinrichtung katholischer Märtyrer zu ergötzen.

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