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Von wem kam das Getto?

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Dieses Südtiroler Volk wird von Gatterer als in einem selbstgewählten Getto eingeschlossen klassifiziert. Das ist eine geschichtliche Fälschung. Nicht die Südtiroler haben das Getto gewählt, sondern — wie auch die ständige Kontrolle aller halbwegs hervortretenden Südtiroler an der Brenner Mauer beweist — der italienische Staat hat sie in das Getto gesperrt. 50 Jahre nach der ersten Besetzung, 20 Jahre nach der” zweiten haben die Südtiroler außer ein paar unbedeutender Zugeständnisse, die, wie die Ergebnisse der 19er Kommission bisher auf dem Papier blieben und die nichts anderes sind als bewußte Verzögerungen, um Zeit zu gewinnen, und die systematische Zermür- bungs- und Zersplitterungskampagne — leider mit Erfolg — durchzuführen. Siehe Raffeiner und Jenny! Welche andere Politik soll denn betrieben werden als bisher? Die beschränkten Rechte des Landtages werden ständig durch die Zweidrittelmajorität in der Region sabotiert; die Abgeordneten im italienischen Parlament können reden und Anträge stellen, was und welche sie wollen, sie werden, abgesehen von ein paar Phrasen, einfach ignoriert; die SVP bekommt auf ihre Vorschläge überhaupt keine Antwort. Unter möglichster Achtung des geltenden Rechtes durchgeführte Willensäußerungen werden als „furchtsame Demonstratiönchen” verhöhnt. Die deutschen Tiroler haben eben nie gegen die italienischen Tiroler in Südtirol gekämpft. Sie wurden immer als gleichberech tigt behandelt. Der nationale Kampf ist in Südtirol erst durch die reichsitalienischen Irredentisten nach Tirol gebracht worden. Ob aber die von Gatterer vorgeschlagenen demokratischen Aktionen, wie Verweigerung der Steuerzahlung, Blockierung der Brennerstraße in der Hochsaison mit Traktoren oder gar die Stürmung des Sitzes des Regierungskommissärs in Bozen, von den Karabinieri als solche aufgefaßt würden? Wahrscheinlich müßte Gatterer als Aufwiegler vor Gericht!

Und wie steht es wirtschaftlich in Südtirol? Tatsache ist, daß das einst blühende Südtirol in Italien in den Zustand eines der wirtschaftlich unterentwickeltsten Gebiete geraten ist. Was tut denn Italien für das kleine, um 70.000 Vertriebene geschwächte Südtirol wirklich? Für die eingeschleusten 130.000 Italiener ist das natürlich anders!

Eine schlecht behandelte Kolonie

Es ist aus der derzeitigen Gesamtsituation heraus unverständlich, wie Gatterer behaupten kann, daß seit 1953 eine Änderung der geistigen Haltung Italiens in Südtirol eingetreten sei. Das Schandurteil von Pfunders 1957 und das noch größere Schandurteil im Karabinieriprozeß 1963 beweisen doch das Gegenteil. Und ist nicht im ersten Mailänder Prozeß gegen die Südtiroler Angeklagten auch von Seiten italienischer Rechtsanwälte eindeutig festgestellt worden, daß einzig und allein Italiens Haltung die Erstursache aller Gewaltereignisse auf

Südtiroler Seite ist. Gatterer bestätigt doch selbst, daß alle Bemühungen, den Südtirolern zu ihrem Recht zu verhelfen, gleich Null sind. Südtirol ist derzeit nichts anderes als eine vergewaltigte, schlecht behandelte Kolonie und nicht ein selbstgewähltes Getto. Unter diesen Umständen von einer humanistischen Demokratie, von Menschenwürde und Menschenrecht zu reden, ohne auch nur mit einem Wort auf die Rückendeckung durch den deutschen Kulturkreis hinzuweisen, ohne für das wirklich gottgewollte Selbstbestimmungsrecht, das ja auch italienische Rechtsanwälte im Südtirolprozeß als ein Recht bezeichnen, auch nur ein Wort zu finden, kennzeichnet die diesbezüglichen Ausführungen als ein intellektuelles Gerede.

Die Schwierigkeiten in Südtirol beruhen einzig und allein darin, daß es ein Fremdkörper im italienischen Staate ist. Das Gerede von der gottgewollten Brennergrenze ist eine Blasphemie. Gottgewollte ewige Grenzen sind nur dem Teufel gesetzt. Dessen sind sich die Italiener voll bewußt. Daher auch das krampfhafte Bemühen, in Südtirol die „Italianità” zu beweisen. Da sie in Wirklichkeit nie vorhanden war, gibt es eben nur den einen Weg, das Land zu italianisieren. Gott sei dank ist die Volkskraft der Südtiroler trotz allem noch nicht gebrochen, wie der Zuwachs von 800 Südtiroler Stimmen in der Stadt Bozen bei den letzten Wahlen beweist. Auch das von Gatterer gebrachte Zahlenspiel, das die Inferiorität der Südtiroler beweisen soll:

1953: 67% Südtiroler, 33% Italiener, 1918: 3% Italiener, dabei 14jährige: 72% Südtiroler, 28% Italiener. 1965: Maturanten: 290 Südtiroler, 524 Italiener bzw. 36% Südtiroler und 64% Italiener, braucht nicht zu entmutigen. Im Gegenteil: es beweist, daß die vertriebene Intelligenz allmählich wieder ersetzt wird, verlangt aber auch kräftigste Unterstützung aus dem österreichischen und deutschen Kulturkreis.

Aber wozu noch Jahrzehnte hinaus die Drangsale, die sich im italienischen Staate nie ändern werden? Da Italien die einzige menschenwürdige und europäische Lösung niemals zu verwirklichen vermag: das Unrecht durch freiwillige Rückgabe des geraubten Gutes gutzumachen, gibt es für die Südtiroler nur einen Weg, sich ihre Existenz, ihre kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung, ihre Wesenheit zu erhalten, nämlich, das zu verlangen, was den Italienern in Triest und mit Gewalt im Trentino recht war: „Durchführung der Volksabstimmung, allerdings unter internationaler Kontrolle.”

Diese durch energische Interventionen beim Europarat und bei den Vereinten Nationen ehestens zu erwirken, ist die durch nichts abdingbare Aufgabe, die der neuen österreichischen Regierung gestellt ist.

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