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Von Wien in die Welt

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Zwei regnerische Tage. Unfreundliches Wetter. Dann hellt sich der Himmel etwas auf. Zeit für einen kürzeren Spaziergang, im Garten der amerikanischen Botschaft. Wien, am Beginn seiner Festwochen, am 3. und 4. Juni 1961. Ein Mann von siebenundsechzig Jahren trifft sich mit einem Vierundvierzigjährigen, spricht mit ihm etwas über zwölf Stunden. Etwas mehr als eint usendfünfhundert Journalisten warten auf Nachrichten über diese Gespräche. Sie erfahren fast nichts.

Wien stellt für diese Gespräche Räume zur Verfügung. In-der Hofburg schaut Maria Theresia auf die beiden Männer und ihre Frauen herab. Im Schloß Schönbrunn empfängt sie der Glanz und die Glorie der Vergangenheit, ein Schimmer von Kunst und Kultur, dazu Weine, Küche und Keller des Landes. Die Gespräche aber finden in Wien in Amerika.und Rußland statt: auf dem exterritorialen Boden der Botschaften. Der ältere der beiden Männer hat davon ein starkes Bewußtsein: „Herzlich willkommen“ heißt er seinen Gast auf dem „kleinen . Stück sowjetischen Boden“ und erinnert an ein ukrainisches ■Sprichwort „Der Becher ist klein, doch die Gefühle sind groß“, paßt es dem Augenblick an: „Das Stück Erde ist klein, doch unsere Gefühle sind groß“. Beide Männer sprechen die Sprache ihres Landes, bleiben auf dem Boden ihres Landes.

Müde, abgespannt kommen die beiden Männer aus ihren Gesprächen. Der ältere greift sich an den Leib, der jüngere an den Hemdkragen, sucht ihn zu lockern. Kann man, auch bei „Überschreitung“ der vorgesehenen Zeiten — um Stunden und Minuten! —, einander den je gegensätzlichen Standpunkt in einem Dutzend großer weltpolitischer Probleme klarmachen? Können zwei Männer die Last der Weltgeschichte tragen? Wenige Stunden nach Beendigung der Wiener Gespräche traf Kennedy in London, trafen seine Beauftragten in Paris und Bonn ein. um die wichtigsten europäischen Partner zu informieren. Chruschtschow ließ sich etwas mehr Zeit, folgte erst am nächsten Tag nach Moskau. Kettenreaktionen haben begonnen. Die Regierungen und die Parteisekretariate in Warschau, Prag, Budapest, Bukarest, Belgrad. Tirana, in Moskau und Peking, in den Ländern mit kommunistischen Regimen und die Zentralkomitees der kommunistischen und assoziierten Parteien in Südamerika, Afrika, Asien und Europa prüfen die Meldungen über die Wiener Gespräche. Dasselbe tun auf ihre Weise die Regierungen des Westens und die Regierungen der Staaten, die vom Westblock und Ostblock Unterstützung wollen, in Afrika und Asien.

Die Wiener Gespräche im frühen

Juni 1961 fanden zwanzig Monate nach dem Treffen Eisenhower-Chru- schtschow in Camp David statt. Mit sehr viel gutem Willen und sehr geringer Sachkenntnis in bezug auf die einzelnen Konflikte und Probleme hatte da der früh gealterte Eisenhower den sowjetischen Staatsführer empfangen. Mit gutem, aufrichtigem Willen und viel Sachkenntnis ist in Wien Kennedy Chruschtschow entgegengetreten. Ernst, Nüchternheit, Offenheit, die Härte der Wirklichkeit hat die Wiener Gespräche geprägt. Beiderseitiger Verzicht auf Propaganda. Das gemeinsame Kommunique hält fest: „Präsident Kennedy und Ministerpräsident Chruschtschow haben zweitägige nützliche Begegnungen abgeschlossen, bei denen sie das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, sowie andere, beide Länder ¡interessierende Fragen erörterten.“‘

Halten wir dazu fest — es ist immer schwierig, einfache Tatsachen in ihrer ganzen Schwere und Reichweite zu erfassen: vierundvierzig Jahre nach dem Sieg der kommunistischen Revolution in Rußland (Kennedy wurde geboren, als die Sowjets zur Macht kamen), dreizehn Jahre nach dem offenen Ausbruch des kalten Krieges (1948: Februar: kommunistische

Machtergreifung in Prag, März: Brüsseler Verteidigungspakt, Juni: Titos Abfall von Stalin), zwölf Jahre nach der kommunistischen Machtübernahme in China, treffen sich die Staatschefs Amerikas und Rußlands zu einer zwölfstündigen Aussprache hinter verschlossenen Türen.

In Chruschtschows Jugendzeit und schwierige politische Anfänge fallen die eben vor kurzem von George Kennan meisterhaft dargestellten Versuche der Amerikaner, in Verbindung zeitweise mit mehr als einem Dutzend anderer Armeen, das neue Regime in Rußland zu zerschlagen; wobei einige europäische Verbündete der Amerikaner das russische Imperium zerstückeln und aufteilen wollten. In Kennedys Jugendzeit fällt der internationale Machtaufstieg der Sowjetunion: breit drückt der Schatten Stalins und das Vordringen kommunistischer Invasionen auf Amerika. Als der Millionärssohn geboren wurde, war Rußland ein aus tausend Wunden blutendes Nichts, war Chruschtschow ein junger Mann aus der Millionenmasse der russischen „Seelen“, der Söhne von Leibeigenen, die im Bürgerkrieg um ihr nacktes Leben kämpften. Heute stehen dem jungen Präsidenten der USA gegenüber: die Weltmächte Rußland und China, die kommunistische Weltbewegung, die in Südamerika und Kuba vor den Toren der USA steht, und diese selbst und ihre engsten Verbündeten, wie die letzten großen Spionageaffären in England zeigen, von innen her zu packen suchen. Für Kennedy muß aus dieser Lage sich die Parole ergeben: „Bis hierher und nicht weiter.“

Eben das haben Vertreter Amerikas und des Westens Männern des Ostens einige hundert Male bei großen und kleineren Konferenzen und durch die Schallmühlen ihrer Propaganda, millionenfach lautstark, gesagt. Teilweise mit geringem Erfolg. Kennedy weiß, daß nicht nur sein persönliches politisches Schicksal davon abhängen wird, ob es ihm gelingt, den Russen klarzumachen: der von ihm vertretene Westen ist eine lebensstarke, lebenswillige Realität, ist ein Großkörper, der atmet und lebt und keinen weiteren Eingriff und Angriff von außen mehr vertragen kann. Dieser Großkörper ist bereit, aller Welt Frieden zu geben, muß aber auch Frieden for dem; nicht zuletzt, um selbst für den Frieden in der einen Welt wirken zu können. Dieser eine große Körper ist, wie alle Lebewesen, tausendfach verletzbar, und besonders verwundbar an einem halben Dutzend Stellen, dort, wo er besonders mit anderen Großkörpern zusammenstößt, angrenzt, ln Laos etwa. In und um Berlin etwa. In Persien. In Südamerika.

Das ist der Glaube, der politische Glaube Kennedys, ist sein Selbstverständnis als Amerikaner und Mann des Westens.

Chruschtschow seinerseits wird in den Wiener Gesprächen versucht haben, Kennedy seinen eigenen Glauben zu verdolmetschen, wie er es kurz zuvor in den leider noch viel zuwenig studierten Schwarzmeergesprächen mit Walter Lippmann getan hat; dieser grauhaarige, gedrungene, „kleine“ Mann ist überzeugt — und dieser Glaube bildet, formt seinen Personkern und bildet sein Selbstverständ- nis: die Weltgeschichte ist auf dem Wege zum. Kommunismus. Nichts, keine Dummheit, kein Fehler, keine Schwächeanfälle auf kommunistischer Seite und keine Stärke auf der anderen Seite können diesen Fortschritt der Menschheit auf die Dauer behindern.

Chruschtschow si ht es U seine Lebensaufgabe an, diesem Sieg des Kommunismus durch friedliche Mittel Bahn zu brechen. Für seine Auffassung will er die Partei und das politische Bewußtsein seines Landes gewinnen — durch das in diesen Sommermonaten auszuarbeitende neue Parteiprogramm, das im Herbst auf dem XXII. Parteikongreß sanktioniert werden soll. Durch seine Auffassung will er den für ihn wichtigsten Gegner, Amerika, als Partner gewinnen: dieser soll Ruhe geben, bis die Evolution in den zum Teil sehr zurückgebliebenen Ländern, wie in Afrika und Südamerika, soweit gediehen ist, daß ohne Krieg und Kriegsgeschrei die „sozialistische Gesellschaft" etabliert werden kann. Ja, Chruschtschow ist überzeugt, daß gerade die Mitarbeit, eine gewisse wirtschaftliche Mitarbeit Amerikas, in den unterentwickelten Ländern, deren Entwicklung zum „Sozialismus“ beschleunigen wird. Denn: „alle Wege führen nach Rom", das heißt, führen zum „Sozialismus“, da alle diese anderen keine Pläne für die eine Menschheitsgesellschaft der Zukunft haben; ihnen allen fehlt der ernste Wille zur Zukunft, fehlt die Planung, fehlt die Tat, die Zukunft schafft.

Hier ergibt sich für Kennedy eine große Schwierigkeit: der Westen hat keine „Ideologie“, kann sie seinem besten Selbstverständnis nach gar nicht haben; die Pläne und Planungen für die Zukunft sind im Westen verschieden, wie alles, was da lebt und webt, bunt, sehr differierend ist. Ist es möglich, Chruschtschow und den Männern, die hinter ihm stehen, klar, lebensklar, vital einleuchtend, bis tief unter die Haut, eben dies vorzustellen: Mitten in vielen Gegensätzen, sichtbaren und unsichtbaren Schwächen bildet die atlantische Gemeinschaft den Prozeß eines starken Lebens Leben, das leben will. Leben, das strahlen kann, ein freies Leben, das den Menschen aller Völker reiche Hilfe zur eigenen Reifung leisten kann. Dieser „Westen“ ist mehr, weit mehr als Schlachtschiffe, Raketen. Automobile, Waschmaschinen.

Wenn es Kennedy gelungen ist Chruschtschow diese, Realität leibhaftig darzustellen, dann ergeben sich schlicht und schlechthin folgende Direktiven und Perspektiven: die großen Konflikte und Gegensätze bleiben als solche erhalten; sie sind unlösbar, unauflösbar. Kindisch und ein Zeichen von Denkschwäche und mangelnder Vitalität des Geistes und Glaubens wäre es, sie „lösen“ zu wollen. Der römische und der griechische Genius stehen sich heute gegenüber, wie vor mehr als 2000 Jahren. Das römisch-katholische und das protestantische Prinzip, das Prinzip der Konservation und Revolution, stehen sich in Europa gegenüber seit Jahrhunderten. Nicht auf „Lösung“ und „Auflösung" .der großen Gegensätze kommt es an, sondern auf ein Fruchtbarmachen der Konflikte im konkreten persönlichen und geschichtlichen Leben. Für den Weltkommunismus und für Chruschtschow und sein neues Parteiprogramm würde dies bedeuten: die Anerkennung der nützlichen, positiven, „nichtantagonistischen Gegensätze“, wie die sowjetische Ideologie sie sieht, die das Leben in der kommunistischen Gesellschaft beleben und fördern, auch für die nichtkommunistische Gesellschaft und für die Aus einandersetzung mit dieser. Für beide, für Chruschtschow und Kennedy, heißt das schlicht: Gegner sein, nicht Todfeind. Gegner, der nüchtern und wach Rücksicht nimmt auf Größe und Schwäche, auf das Leben der benachbarten Großkörper.

Konkret weltpolitisch heißt das: über die großen Gegensätze und Konflikte immer wieder Zusammenkommen, und streiten. Kleinere Konflikte gemeinsam entflechten (auch sie können nicht „ganz gelöst“ werden!).

Das amerikanisch-russische Kommunique über die Wiener Gespräche hält fest: Kennedy und Chruschtschow erörterten die Fragen der Kernwaffenversuche, der Abrüstung und Deutschlands. Sie „bekräftigten ihre Unterstützung eines neutralen und unabhängigen Laos .. „Der Präsident und der Vorsitzende vereinbarten in allen Fragen, die für beide Länder und für die ganze Welt von Interesse sind, Kontakt zu halten.“

Wien würde sich freuen, einige der bevorstehenden Zusammenkünfte in seinem Raum beherbergen zu dürfen.

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