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Vor allem in Budapest

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So war es in Budapest, in einer Diskussion mit dem ungarischen Journalistenverband. Anwesend waren Redakteure der großen ungarischen Zeitungen, darunter solche, die auch schon in der Bundesrepublik waren, sich ein eigenes Bild von der geistig-politischen Situation Westdeutschlands hatten machen können. Nur eine Frage schien sie wirklich zu interessieren: Ist ein deutsch-amerikanischer Alleingang in Sachen MLF möglich? Man meinte, geradezu einen Seufzer der Erleichterung zu hören, als wir glaubten, diese Frage verneinen zu können.

und in Erivan

So war es hinter dem Kaukasus, In der armenischen Hauptstadt Erivan. Von Westeuropa aus gesehen war es ein bißchen „Ende der Welt”. Man fliegt von Moskau in einigen Stunden hin, gerät noch Ende Oktober — trotz tausend Meter Höhe — in sommerliche Wärme, die persische und türkische Grenze sind zum Greifen nahe, der orientalische Einschlag unverkennbar, die Menschen von süditalienischer Vitalität. Hier, am Fuße des Berges Ararat, erschienen uns alle weltpolitischen Probleme in eine unend liche Ferne entrückt. Abends waren wir von den Schriftstellern und Komponisten Armeniens eingeladen. Es wurde — ohne einen Tropfen Alkohol — der fröhlichste Abend der ganzen Reise. Aber kaum hatten wir begonnen, Politik zu diskutieren, als wir auch schon mit der Bitte überfallen wurden: „Sagen Sie uns Ihre Meinung über die deutsche Frage, über den deutschen Revanchismus, das ist es, was uns hier vor allem interessiert.” Man spürte, es handelte sich um eine echte persönliche — und nicht bloß „parteiliche” — Sorge, und wir konnten den guten Leuten gar nicht genug von Deutschland berichten. Als wir dann unser Erstaunen darüber bekundeten, daß sogar hier, hinter dem dicken Wall des Kaukasus, tausende Kilometer von Westeuropa entfernt, die Hauptsorge der politisch Interessierten der deutschen Frage gelte, erhielten wir zur Antwort: „Sie dürfen nicht vergessen, daß auch wir Armenier in den Krieg ziehen mußten — und allzu viele sind nicht mehr heimgekehrt.”

Gespräche in Moskau

In Moskau begannen dann die eigentlich politischen Diskussionen.

Zunächst saßen wir unter anderen mit Leitartiklern der „Prawda” und der „Iswestija” zusammen. Es ging um die Fragen: MLF — Nichtverbreitung der Atomwaffen durch die Nuklearmächte — Atomwaffenfreie Zonen in Europa. Von sowjetischer Seite wurde sogleich ein enger Zusammenhang zwischen diesen drei Problemkreisen hergestellt: Wegen des Dranges Bonns nach Atomwaffen, wie er sich in dem MLF-Pro- jekt — das in Europa einzig und allein von Bonn vorbehaltlos unterstützt werde, bezeichnenderweise — manifestiere, sei die Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Atomwaffen und die Schaffung atomwaffenfreier Zonen besonders akut geworden. Gegenüber den USA wurde der Vorwurf erhoben, sie suchten die Sowjetunion durch die Alternative zu erpressen: „Entweder nationale westdeutsche Atomstreitmacht oder MLF — ein Drittes ist nicht möglich.” Das schaffe in Europa eine sehr ernste Lage. Man unterstütze deshalb vorbehaltlos den Rapacki- und den Gomulka-Plan, die zunächst ein „Einfrieren” des gegenwärtigen Nuklearpotentials in Europa und später die Schaffung atoniwäff enfreier1 Zonen vorsehen. Diese Zustimmung’ gelte auch den vorgesehenen Kontrollmaßnahmen.

Weiter sei man bereit, vorbehaltlos den Kampf für ein Abkommen über die Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen zu führen, und zwar nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Dabei verliere man auch Israel und Ägypten nicht aus dem Auge. Gerüchte, wonach sowjetische Wissenschaftler an Atomrüstungs- oder Raketenprojekten in fremden Ländern — zum Beispiel in Ägypten — mitarbeiten, wurden dementiert.

Auf unsere direkte Frage, ob die Sowjetunion bereit wäre zu irgend welchen Konzessionen, um dadurch das MLF-Projekt überflüssig werden zu lassen, wurde geantwortet, es gehe hier nicht um Konzessionen. Und Pjotr, der junge, grundlautere, unendlich hilfsbereite und gewissenhafte Dolmetscher und Cicerone, der sich als Mechaniker aus Sibirien bis zum Sprachenstudium an der Moskauer Universität durchgearbeitet hatte, ein überzeugter Kommunist, meinte ehrlich entrüstet nach der Diskussion: „Die MLF ist doch einfach ein Verbrechen, wie können Sie da von uns noch Konzessionen verlangen?”

„Wir sind alle Europäer”

Noch ein Intermezzo muß hier wiedergegeben werden. Der Präsident des sowjetischen Friedenskomitees hatte uns mit den Worten begrüßt: „Wir sind alle Europäer”, was uns dann zu der Frage veranlaßte, ob die Sowjetunion als Ganzes sich wirklich als Bestandteil Europas betrachte. Wir verknüpften diese Frage mit dem Gedanken, es könnte vielleicht die Organisation der europäischen Sicherheit und die Institutionalisierung des Friedens in Europa erleichtern, wenn die Europäer etwas selbständiger handeln, wenn sie sich etwas von der Vormundschaft durch die Supermächte in Ost und West emanzipieren, so etwas wie den Beginn einer europäischen politischen Aktionsgemeinschaft über den Eisernen Vorhang in Europa hinweg anstreben könnten. Aber dafür hatte man auf sowjetischer Seite gar kein Gehör. Der anwesende Ilja Ehrenburg fuhr auf: Ob die Sowjetunion zu Europa gehöre? Als er die Frage gehört habe, sei es ihm gewesen, er träume. Die Sowjetarmee habe Hitler gebunden, habe mitgeholfen, Europa am Leben zu erhalten. Rußland habe eine europäische Kultur. Gebe es eine europäische Prosa ohne Tolstoj, Dostojewskij, Tschechow? Die Frage sei schlechthin absurd und es sei phantastisch, die Sowjetunion von Europa ausschließen zu wollen.

Ähnliche Antworten erhielten wir auf dieselbe Frage in Budapest und Warschau. In Budapest etwa meinte man, eine europäische Konföderation ohne die Sowjetunion wäre unhistorisch, gestrig, unmöglich. Der Gedanke an ein selbständiges Europa als eine Art „Dritten Blocks” — wohlverstanden immer unter

Beibehaltutng der gegenwärtigen politischen und sozialen Struktur — führe zurück, nicht vorwärts. Freilich konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß dies eine offizielle Stellungnahme war, der nicht alle Gesprächspartner mit dem Herzen zustimmten. Aber soviel ist gewiß: Die Europaidee hat im Osten heute noch keinen Boden und es scheint sich kaum jemand Gedanken über die Möglichkeit einer gesamteuropäischen Ordnung zu machen.

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