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Vor den Toren des „verbotenen Landes“

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Am 21. Dezember 1929 schrieb Bischof de Guebrians an den Propst Bourgeois vom Großen St. Bernhard aus Paris einen dringenden Brief. Der Bischof hatte durch 31 Jahre das Apostolische Vikariat von Kientschang, der entlegensten Provinz Chinas, geleitet, die sich an den Grenzen durch ein rauhes Hochgebirgsland erstreckt. In seinem Brief empfahl er die Gründung eines Bernhardiner Hospizes auf einer der hohen nach Tibet führenden Paßstraßen, über die unter großen Mühseligkeiten, oft unter Todesopfern, die Karawanen ihren Weg nehmen. Hier zeige sich den Mönchen von St. Bernhard „ein neuer Weg, um ganz im Rahmen ihrer jahrhundertealten bewährten Tradition ein segensreiches Apostolat auszuführen“.

Im Februar 1930 wurden von Paris aus die ersten Vorbereitungen für die Erkundungsfahrt, welche die Inangriffnahme des Plans einleiten sollte, getroffen. Schon am 31. Dezember 1930 entstiegen zwei Mönche von St. Bernhard, die Patres Melly und Coquorz, in Yünnanfu dem Zuge, um ihre abenteuerliche Reise in die tibetischen Hoch-gebirgswildnisse anzutreten. Beide Söhne des Schweizer Wallis, ausgezeichnet trainierte Berggeher und Skifahrer, brachten sie die denkbar besten Eigenschaften für die Lösung ihrer Aufgabe mit. 600 Kilometer weit kam ihnen auf ihrem Wege P. Viktor Nußbaum entgegen, der als Pfarrer der Station Siao Weisi am Oberlauf des Mekong, eines der vorgeschobensten Posten gegen das verbotene Tibet, aus Paris von der Leitung der Gesellschaft für Auswärtige Missionen den Befehl erhalten hatte, die beiden Schweizer in ihr Unternehmen einzuführen. Viktor Nußbaum lebte seit 23 Jahren in dem gefahrenreichen Lande — „ein echter Robinson“, sagt von ihm Pierre Croidys, der uns in seinem spannungsreichen Buche über das tibetanische Unternehmen der Mönche von St. Bernhard berichtet. Nußbaum, einer der Pioniere, die, auf sich allein gestellt, unter unsäglichen Strapazen, von tödlichen Gefahren umringt, das Kreuz in eine heidnische, von Dämonenfurcht gepeinigte Umwelt getragen haben, riet den beiden Schweizer Kundschaftern für das geplante Hospiz den von vielen Karawanen benützten Latsapaß zu wählen, einen Gebirgsüber-gang, der, 3800 Meter hoch, das den Salwen, einen Parallelfluß des Mekong, entlangstreichende Bergmassiv überquert. Bei 2000 Menschen gehen jährlich auf dieser Wegroute zugrunde. Am 15. Februar 1931 hatte sich die kleine Karawane der Erforscher bereits an ihr Ziel nahe herangearbeitet und war in der Station Siao-Weisi, östlich des Mekong, eingetroffen. Nur so gestählte Naturen hatten den Anstrengungen des beschwerlichen winterlichen Marsches gewachsen sein können.

Da die Schneeverhältnisse nicht erlaubten, die Erkundung des Latsapasses zu beginnen, für den Niederlassungsplan aber auch der Bergübergang über den Silapaß in Betracht kam, beschlossen die beiden Chorherren, zunächst auf diesem die Niederlassungsmöglichkeiten zu prüfen. Begleitet von einem jungen Priester, den sie erst für den in Tibet zu dieser Zeit noch unbekannten Skilauf geschult hatten, und einigen Trägern, die bis zur Schneegrenze mitgehen sollten, brachen sie am 8. April 1931 auf. Am oberen Ende der Talfurche, die sie zum Aufstieg gewählt hatten, zeigte ihr Höhenmesser 3800 Meter. Eine steile Felswand, sagt ihr Bericht, stieg vor ihnen zum Himmel. Auf 4000 Meter Höhe fiel dichter Nebel ein, der jede Seht unmöglich machte. Sie erreichten um Mittag die Paßhöhe. „Der Höhenmesser meldete 4200 Meter. Ein starker Südweststurm, vermischt mit Hagel und Schnee, erlaubte keine Rast. Der dichte Nebel verhüllte alles. Die Schneedecke mochte hier eine Tiefe von acht bis zehn Meter haben.“ — Über den Abstieg auf der anderen Seite hatte keine Karte Auskunft gegeben. Sie hatten nur gehört, „daß der Abstieg ungeheuer steil sei und schroffe Felswände durchquere, die senkrecht zum Talboden stürzten. Sie banden ihre Skier zusammen, Pater Melly entrollte das Seil, pflanzte ein Paar Skier tief in den Schnee und ließ beide Gefährten gesichert auf Seillänge absteigen. Dann kletterte er seinen beiden Gefährten vorsichtig ohne Sicherung nach“. Das sich oft wiederholende Manöver war mühsam und zeitraubend und dabei mußten die drei daran denken, vor einbrechender Dunkelheit ein Tal und dort eine Nächtigungsmöglichkeit zYi erreichen. Wieder begann es zu schneien, der steile Felskamin, den sie durchmessen hatten, hörte auf. Schon glaubten sie, den Paßweg erreicht zu haben, als eine riesige Eiswand sie zwang, einen anderen Abstieg zu suchen. Der vorliegende Bericht fährt fort: „Die Nacht brach herein und noch immer waren sie keine 200 Meter unter der Paßhöhe. Mit Mühe konnten sie etwas feuchtes Holz zusammentragen und anzünden. Es entwickelte mehr Rauch als Helle und Wärme. Dann wurde das Lager eingerichtet: eine Schicht Tannenzweige, zwei Schneemauern, ein Dach aus Segeltuch. Kleider und Decken waren so durchnäßt, daß keiner ein Auge schließen konnte.“ Am andern Morgen schneite es immer noch. Der Proviant ging allmählich zu Ende. Endlich erreichten sie in stiebender Fahrt ein Tal, aus dem sie, um aus dieser Wildnis zu ihrem Ziel zurückzufinden, noch den „Gelben Bambuspaß“ überschreiten- mußten. Abermals aufwärts, wie die Karte sagte, zu 3900 Meter Höhe. Dort, wo sie den Scheitelpunkt dieser Höhe erreicht zu haben glaubten, überfiel sie ein Schneesturm. „Auf dem nächsten Halt zeigte der Höhenmesser anstatt 3900 4100 Meter. In der Richtung Nordwest, in welcher der Paß liegen sollte, erhob sich aus brodelndem Nebel eine himmelhohe Wand. Vorsichtig stiegen sie deshalb über eine lawinengefährdete Halde gegen Süden ab — um, auf sicherem Boden angelangt, zu ihrer Enttäuschung festzustellen, daß dieser Abstieg wieder in das Tal zurückführe, das sie verlassen hatten. Bis zum Mittag versuchten sie umsonst einen Durchbruch nach Nordwesten zu erzwingen. Mit dem Mut der Verzweiflung rückten sie an der steilen Flanke des Berges entlang, um den gesuchten Übergang zu finden. So marschierten sie zwei Stunden. Plötzlich standen sie wieder vor einer lotrechten Wand, versuchten diese an ihrem Fuß zu umgehen und sahen sich vor einer zweiten Felswand, die sich noch unheimlicher emportürmte.“ Zwischen den beiden Wänden zog ein enger Kamin in die Höhe, durch dessen Rhododendrongebüsche sich die drei zum Grat aufwärtsstemmten und die Paßhöhe erreichten. Auf der andern Seite ersahen sie endlich die Richtung, die sie' nach der erstrebten Niederlassung Balang, 1200 Meter tiefer, nehmen konnten.

Aber der Paß führte nicht umsonst seinen Namen. Wald machte bald einem Bambusdickicht Platz, das dem Durchstieg die schwersten Hindernisse bot. Mit dem Buschmesser mußte der Weg durch das immer dichterwerdende Gestämm gebahnt werden. Man befand sich noch immer auf 3300 Meter Höhe und mitten in diesem wassertriefenden Bambusdschungel, als die Nacht hereinbrach. Es blieb in der stocktiefen Finsternis den im Dickicht Gefangenen nichts übrig, als sich mit dem Buschmesser einen Lagerplatz zu hauen und aus Bambusblättern eine Matte zu flechten, auf der sie neben einem kümmerlichen Feuer versuchen konnten, zu ruhen. Am nächsten Morgen hieben sie sich durch den Bambus zu einem steilen Schneehang, über den sie die Waldgrenze und bald die Talsohle erreichten, hier umweht von den großen Blütenblättern im Blühen prangender Magnolienbäume. Als der Missionär, der sie in Bahang aufnahm, erfuhr, wo sie genächtigt hatten, sagte er kopfschüttelnd: „Ausgerechnet dort halten sich gewöhnlich die Tiger auf.“ Auf ihrer abenteuerlichen Erkundungsfahrt hatten sie nur zuweilen in der Nähe das Fauchen oder das Gebrüll großer Katzen gehört.

Es ist bei diesem Erlebnis der Kundschafter verweilt worden, weil es eine beiläufige Vorstellung von den Schwierigkeiten gibt, die vielgestaltig und zahlreich sich den Mönchen in ihrem Unternehmen entgegenstellten. Insgesamt hatten die Pioniere seit 5. Jänner ungefähr 2500 Kilometer zurückgelegt, zumeist zu Pferd, aber auch zu Fuß auf Skiern.

Der Gedanke, auf dem Silapaß das Hospiz zu bauen, fiel nach den Erfahrungen aus. Ende Juli 1931 erstatteten die beiden Kundschafter, nach St. Bernhard heimgekehrt, dem Orden Berichf. Ihr Antrag ging auf die Errichtung des Hospizes auf dem Latsapaß. Sofort begann die Vorbereitung zur Verwirklichung des Antrags. Die Durchführung wurde einer siebenköpfigen Mannschaft von Bernhardiner Chorherren anvertraut, die in zwei Gruppen — die erste, geführt von P. Melly und P. Coquorz, im Jänner 1933 — abgehen sollten. Ihr Hauptquartier schlugen sie in der Station Siao-Weisi auf, die ihnen P. Nußbaum übergab, um selbst aus dem chinesischen Tibet in das „verbotene“ Tibet vorzurücken und sich in Jerkalo, nahe zweien Lamaklöstern, niederlassen. (Der kühne Missionär wurde am 18. September 1939 ermordet, der siebente Blutzeuge der tibetanischen Mission.) In Weisi setzten die Schweizer aus der Heimat mitgebrachte Kartoffeln und sogar Walliser Rebenschößlinge aus, die im Sommer 1934, in einer Seehöhe von 2350 Meter, schon Blätter ansetzten. Auf dem Latsapaß begannen im Sommer 1935 auf 3800 Meter Höhe die Bauarbeiten für das Hospiz; 1939 waren die mächtigen

Granitmauern, die gegen Wetterunbill und räuberische Überfälle schützen sollten, bis zur Mitte des ersten Stockwerks gediehen. Der zweite Weltkrieg unterbrach diese Arbeiten, ohne aber den mit zäher Tatkraft begonnenen Plan zu zerstören. 1947 sind von St. Bernhard vier Chorherren als neue „Mannschaff.“ in Weisi eingetroffen, um bald bei der Bauführung und in den drei bereits inmitten starker Christengemeinden blühenden Missionsstationen ihren Dienst aufzunehmen. „Die große Sorge der Chorherren, der alten wie der jungen“, berichtet Pierre Croidys, „ist und bleibt der Latsapaß. Die Mauern des Klosters sind noch erhalten. Aber sogar in Tibet sind die Preise und Arbeitslöhne so gestiegen, daß die Missionäre auf die Hilfe der Schweizer Katholiken angewiesen sind. Mit Mut und Gottvertrauen schauen sie in die Zukunft.“

Tapfere, großherzige Schweizer!

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