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Vor einer Wende in der Behandlung des Vertriebenenproblems

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Der nachfolgende Beitrag von Waldemar Quaiser, dem langjährigen Generalsekretär des „Demokratischen Minderheitenverbandes für Europa“, möge als Stimme eines Mannes gehört werden, der an diesem für die innereuropäische Auseinandersetzung von 1918 bis 1938 schicksalsschweren Disput mit an erster Stelle beteiligt war und dadurdi dem heute aktuellen Problem in besonderer Weise nahesteht. „Die Furche'

Ein Ereignis von noch nicht abzuschätzender Bedeutung ist der Bericht des demokratischen Kongreßabgeordneten Francis D. Walter, Lutheraner der St.-Johns-Kirche in Easton (Pennsyl-vanien), über das deutsche Flüchtlingsproblem. Er faßt die Ergebnisse jener Studienreise durch Deutschland und Österreich zusammen, die im Herbst vom 1. bis 21. September vorigen Jahres eine neungliederige Kongreßdelegation unter der Führung des erwähnten Politikers unternommen hatte. Diese Delegation, die zum Schluß auch .in Genf weilte, dort unter dem beklemmenden Eindruck des festgestellten Elends unter anderem mit dem ERP-Administrator Paul G. H o f f m a n konferierte und eine nicht minder wichtige Verhandlung mit Doktor Stewart H e r m a n hatte, dem damals neu ernannten Leiter des Flüchtlingsdienstes des Lutherischen Weltbundes, stellte ihre sorgfältigen Erhebungen als Material einem Ausschuß des Repräsentantenhauses zur Verfügung.

Dieses Gremium, der sogenannte Walter-Ausschuß, brachte nunmehr — vor einigen Wochen — als Report Nummer 1841 den zitierten Bericht dem amerikanischen Unterhaus und damit der Weltöffentlichkeit zur Vorlage.

Dieser äußerst wichtig Bericht wird in der internationalen Diskussion über die deutsche Vertriebehenfrage zunächst auf lange Frist eine ausschlaggebende Rolle spielen; er wird eine geschichtliche Dokumentation zum Teil umstrittener Art abgeben und schließlich, wenn die praktische Politik noch als ein wesentliches Element des europäischen Stabilisierungsprozesses angesehen werden kann, hiezu einen beachtlichen Beitrag liefern,

Jenseits dieser Feststellungen liefert aber dieser Bericht einen neuerlichen Beweis dafür, daß die Träger der mitteleuropäischen Demokratie von den Machtrepräsentanten beider Hemisphären in einer geradezu unwahrscheinlichen Unkenntnis maßgebender Konferenzen, Tatsachen und Entwicklungen während und nach dem letzten Krieg gehalten worden sind und noch immer gehalten werden.

Von dem Potsdamer Abkommen vom August 1945, zu dessen Signatarmächten bekanntlich die Regierungen der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens zählen, mußte — bis zur Publikation des Walter - Rapports — angenommen werden, daß die Sowjetunion das Potsdamer Abkommen in allen seinen Teilen anerkannt habe. Nun aber erfahren wir aus der Walter-Veröffentlichung, daß die Sowjetunion den Potsdamer Akkord annahm, ausschließlich des Artikels XIII, der erklärt, „daß die Umsiedlung von Deutschen und Deutschstämmigen, die sich noch in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn aufhalten, vorgenommen werden muß. Ebensowenig liegt die Anerkennung dieses Artikels seitens der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns vor.

Die dadurch entstandene Erkenntnis, 'durch den Walter-Bericht authentisch erhärtet,' ist erregend. Die ganzen bisherigen Diskussionen über das Potsdamer Abkommen, geführt von einer zum Teil unrichtigen Grundvoraussetzung, sind nahezu wertlos, nachdem sie die Stellung der Sowjetunion und der Oststaaten ganz anders betrachteten.

Die Bagatellisierung einer kulturell, sozial und wirtschaftlich so wichtigen Kernfrage des europäischen Kontinents, 12 bis 15 Millionen expropriierte Menschen betreffend, ist nicht verständlich zu machen.

Die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn haben also, ohne Verletzung des Potsdamer Akkords, jederzeit freie Hand, die Deutschen zurückrufen zu können, insbesondere dann, wenn die „tiefste Erbitterung gegen die Deutschen“ nicht mehr besteht.

Von dieser Möglichkeit macht bereits die Ungarische Volksrepublik Gebrauch, mit dem Ergebnis, daß in diesen Monaten ein paar tausend ausgesiedelter Ungardeutscher in ihr ungarisches Geburts- und Heimatland zurückkehren wollen. Diese Rückkehrer, die die Brücken zum Westen abbrechen, verlassen ein zweites oder gar ein drittes Mal, meist unter schweren Verlusten materieller Art, ihr Wohn- und Aufenthaltsgebiet. Ihre Einstellung zum Leben, vor allem auf Grund der gemachten Erfahrungen, ist nicht ideologisch-politisch, sondern praktisch-existenziell bestimmt. Trotz der maßlosen Enttäuschung jedoch, die ihnen die nazistische Umsiedlung oder die demokratische Vertreibung brachte, dürften sie im Väterglauben — meist handelt es sich um gläubige Katholiken — tief verankert bleiben, soweit Erwachsene in Frage kommen. Sie werden, darüber besteht für die Kenner kein Zweifel, als Arbeitsbauern, Handwerker und Industriearbeiter das Ihre tun. Der Antrieb zu ihrer Rückkehr liegt in der Treue zur angestammten Heimat und im ausgesprochenen Familiensinn. Befragt, warum sie zurückgehen, antworten sie nahezu duKhwegs: „Wir wagen est Wir gehen heim zu unseren Leuten, zu unseren Kindern!“

Die Kritik am Walter-Bericht hindert keineswegs, zu ihm eine positive Grundeinstellung zu finden. Sie kommt grundsätzlich daher, Repräsentanten der Hauptmacht der westlichen Hemisphäre ata der Bereinigung des Vertriebenen-problems tätig zu sehen. Ihnen unsere positive Bereitschaft zur Mitarbeit zu dokumentieren, muß selbstverständlich sein. Wir ergreifen jede Bereitschaft und jede Hand, bereit, Wunden zu heilen und Unrecht in der Welt zu tilgen. Unser guter Wille zur Mitarbeit kommt hauptsächlich in der restlosen Bejahung der vorgeschlagenen Internationalen Organisation für die Vertriebenen zum Ausdruck. Diese Organisation, außerhalb der UN stehend und dem Vetorecht der UN-Mitglieder entzogen, könnte, wird sie vom Präsidenten Harry S. T r u m a n bald ins Leben gerufen, Schäden heilen, die sonst den europäischen Wiederaufbau verzögern, wenn nicht gar unmöglich machen.

Viel, wennn nicht alles, wird darauf ankommen, welche Persönlichkeit an die Spitze dieser Organisation berufen wird. Sollte es tatsächlich Odd Nansen sein, dessen Name bereits einige Male genannt wurde, so wäre dies zweifellos ein gutes Omen für die zukünftige Arbeit der Organisation. Man hat Odd Nansen als wahren Freund und guten Kameraden im Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg kennen und schätzen gelernt.

Zum Walter-Bericht sei noch abschließend gesagt: Neben der Erklärung, daß die Rückkehr in. die alte Heimat zur Zeit Theorie sei, neben der vorgeschlagenen Internationalen Vertriebenenorganisation, spielt die Frage der Auswanderung eine Rolle. Mit Recht wird kundgetan, daß trotz des bedeutsamen Bevölkerungsdrucks im mitteleuropäischen Räume, der vornehmlich durch den Ver-triebenenzuwachs entstand, die Auswanderung der so dringend benötigten Fach- und Spezialkräfte sinnlos wäre. Andererseits kommt der Bericht zu dem Ergebnis, daß aus Westdeutschland zumindest eine Million Menschen bäuerlicher Herkunft nach Ubersee auswandern müßte, da es in Deutschland für Landwirte „weit weniger Raum und Arbeitsplätze gibt als für Angehörige anderer Berufe“. Unmöglich erscheint uns indessen eine solche Massenauswanderung von bäuerlichen Menschen, wenn die Aufnahmeländer, wie bis jetzt, d i e geschlossene Siedlung verweigern. Die geschlossene Siedlung ist nicht vom Standpunkte nationalistischer Ideologie aus zu bewerten, sondern als realer Faktor, mit dem Hintergrunde der Familien- und Nachbarschaftshilfe und dem selbstverständlichen Respekt vor der nationalen Kultur eines Volkes. Das schließt unter Umständen einen praktischen Assimilierungsprozeß ohne Verlust der Kultursubstanz durchaus nicht aus. Er kann aber nicht als Bedingung aufgestellt werden.

Im Walter-Bericht kommt weiter zum Ausdruck, daß die heutigen Standortsländer grundsätzlich die große Masse der Vertriebenen einzugliedern hätten. Das würde in der Praxis bedeuten, daß Westdeutschland nach Durchführung des Bevölkerungsausgleiches etwa sieben bis acht Millionen aufzunehmen hätte und Österreich etwa 300.000 bis 500.000. Zur Durchführung dieser Seßhaftmachung wird eine Anzahl anzuwendender Vorschläge gemacht, die auch für Österreich wichtige Hinweise beinhalten, um auch hier rascher als bisher zum notwendigen Ziele zu kommen.

In finanzieller Hinsicht sollen ECA-Gegenwertmittel im großen Ausmaße für die Lösung des Vertriebenenproblems bereitgestellt werden, und es ist daher nicht uninteressant, daß gleich am Beginn der amerikanischen Hilfstätigkeit die Fühlungnahme mit dem ERP-Administrator Paul G. Hoffman stattfand, der, soviel man hörte, auch durchaus positiv diese Angelegenheit beurteilte. Noch immer gibt es aber — auch in Amerika — zahlreiche Menschen, die die Tätigkeit eines

Demokraten vom Schlage des Abgeordneten Francis D. Walter oder des Republikaners William H. Langer mit Mißtrauen verfolgen und nur darauf warten, ihre Absichten und Arbeiten, besonders im Interesse der Vertriebenen, scheitern zu sehen. Die Vertriebenen selbst und jene europäischen Kreise, die an einer möglichst baldigen Flurbereinigung Europas wirkliches Interesse haben, müssen daher eine erhöhte Verantwortung an den Tag legen. Es geht nunmehr darum, das Vertriebenenproblem nicht nur international zu diskutieren, sondern, wie einsichtige Kreise hoffen, noch in diesem Jahre durch eine großzügige Planung der endgültigen Lösung näherzubringen. Zu dieser Planung ist der Walter-Bericht zweifelsohne die Vorlage. Er muß als ernste und verantwortungsbewußte Arbeit beurteilt werden. Man muß zweifellos mit Bundesminister Dr. Hans Luka-s c h e k (Bonn) übereinstimmen, der kürzlich über diesen Rapport folgendes Urteil fällte:

„Aus ihm spricht der amerikanische Vorsatz: Wir wollen helfen! Der erste große Schritt in die Weltöffentlichkeit ist getan. Dafür müssen wir den Amerikanern dankbar sein.“

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