6704259-1963_45_01.jpg
Digital In Arbeit

Vor und hinter dem Vorhang

Werbung
Werbung
Werbung

Grundsätzlich und im allgemeinen interessiert den Kunstkritiker nur, was zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Uhr auf dem Konzertpodium und, nachdem sich der Vorhang geteilt, auf der Bühne vorgeht. Wenn besagter Vorhang aber geschlossen bleibt, wie am vergangenen Sonntagabend in der Wiener Staatsoper? Und wenn statt der Akteure der Direktor und der künstlerische Leiter an die Rampe treten, um zu erklären, daß und weshalb die heutige Vorstellung nicht stattfinden könne? Und wenn es sich dabei um eine seit Monaten angekündigte Premiere vor vollbesetztem Haus handelt, in dem sich auch’ der Bundespräsident befindet? Ein ungewöhnlicher Vorfall, ein betrüblicher und blamabler, wie immer die Argumente für diesen verhinderten Premierenabend zu extra erhöhten Preisen lauten mögen!

Die Direktion, durch den Mund des Sektionschefs Dr. Hilbert, neben dem Karajan im Frack posto gefaßt hatte, verlas eine Erklärung, derzu- folge das Personal soeben in den Streik getreten sei, weil der künstlerische Betriebsrat des Hauses die Tätigkeit eines italienischen Souffleurs nicht dulde. Hierüber sei auch schon ein Verfahren beim Arbeitsamt eingeleitet worden, und man habe den zuständigen Stellen Verhandlungen über eine generelle Regelung der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte an der Staatsoper vorgeschlagen, ein Vorschlag, derj, angeblich, nicht akzeptiert wurde. Gleichzeitig müsse die Direktion auf voller Aufrechterhaltung der künstlerischen Freiheit bestehen. Da sie diese nicht garantiert sehe, müssen Direktor und künstlerischer Leiter „in voller Einmütigkeit“ die Verantwortung für die ordnungsgemäße Führung der Staatsoper ablehnen. — Diese von einem Blatt verlesenen Ausführungen wurden von kurzen, aber heftigen Mißfallensäußerungen (hauptsächlich von den oberen Rängen) unterbrochen und am Schluß mit Applaus des Publikums quittiert, das auf diese Weise verabschiedet und nach Hause geschickt wurde. Soweit die Vorgänge vor dem Vorhang.

Was sich hinter den Kulissen abgespielt hatte, erfuhr man aus einem Kommunique der Gewerkschaft. (Beide Parteien gaben am nächsten Vormittag im Rahmen zweier Pressekonferenzen noch ausführlichere Erklärungen ab, bei denen aber keine neuen Argumente auftauchten.) Die Gewerkschaft (Personal der Staatsoper) macht geltend, daß das Arbeitsamt gemäß bestehenden Vereinbarungen die Beschäftigung eines italienischen Souffleurs abgelehnt habe, und zwar auf Grund der Tatsache, daß die Wiener

Staatsoper eigene qualifizierte Souffleure besitze. Da trotz dieses Bescheides die Direktion angekündigt habe, sie würde zurücktreten, falls der italienische Souffleur nicht beschäftigt werde, sehe sich das Personal nun seinerseits zu Kampfmaßnahmen gezwungen, „weil ein österreichisches Institut österreichische Gesetze mißachtet“. Sowohl die Gewerkschaft „Kunst und freie Berufe“ als auch die in der Wiener Staatsoper Beschäftigten bedauern.

Wir müssen uns also, so lästig und kleinlich es sein mag, dem Souffleur zuwenden, den Karajan ä tout prix haben wollte und der zum Streitobjekt wurde. In dem für seinen Freund und Meister Richard Strauss geschriebenen Text zu „Capriccio“ läßt Clemens Kraus den Souffleur sagen, er sei die wichtigste Person im Haus; wenn er nämlich einschlafe und aufhöre zu sprechen, so hörten die Sänger auf zu singen — und das Publikum erwacht. Aber hier handelt es sich um eine noch wichtigere Persönlichkeit, einen von der Scala kommenden „Maestro. suggeritore“, einen „Subdirigenten mit Souffleurtätigkeit“, den italienische Sänger angeblich brauchen,

weil er auch Einsätze gibt, und der

24.0 Schilling im Monat kosten sollte (was ungefähr dem Salär von drei österreichischen Hochschul- ordinarii entspricht). Die Gewerkschaft meint, man hätte auf ihn verzichten können, weil ja kein vollständiges italienisches Ensemble, sondern nur fünf fremdsprachige

Sänger auf der Bühne gestanden wären, und bei den beiden Hauptproben und der Generalprobe sei es ohne Souffleur ganz gut gegangen. Außerdem besitze die Wiener Staatsoper einen ganz ausgezeichneten Mann in diesem Fach, der seit 23 Jahren zu allseitiger Zufriedenheit souffliere (ein Kriegsversehrter übrigens, mit einem Monatsgehalt von etwa 4000 Schilling), der seit sieben Jahren auch fremdsprachige Aufführungen betreue — und auch diese zu voller Zufriedenheit.

Überdies gehöre der von Karajan gewünschte italienische Souffleur nicht zu jenem Kreis von Künstlern (Sängern und Dirigenten), für die auf Grund eines Übereinkommens zwischen dem Sozial- und dem Unterrichtsministerium keine Sondergenehmigung erforderlich sei. (Für alles andere Personal gilt das Arbeitsgesetz beziehungsweise die Entscheidung des Landesarbeitsamtes.) Soweit die rechtliche Lage. Trotzdem wäre den Bühnenangehörigen — wenn wir ein etwas milieufremdes Bild gebrauchen dürfen — kein Stein aus der Krone gefallen, wenn sie ein Auge zugedrückt hätten

Ein Prestigefall also. Kein Unfall. Wobei wir den Männern von der Gewerkschaft zubilligen wollen, daß spezielle nationale Ressentiments keine Rolle — oder nur am Rande — spielten. Ergo eine Explosion, ein Resultat des „Unbehagens“, das man schon seit Jahren beobachten kann. Es geht dabei in erster Linie um die Person des künstlerischen Leiters, denn Dr. Hilbert ist noch viel zu kurz in seinem neuen Amt, als daß sich an ihm die Opposition entzünden könnte.

Muß man es an dieser Stelle und bei dieser Gelegenheit wiederholen, daß wir Karajan als Dirigenten hochschätzen? Man kann ihm auch einige geglückte Inszenierungen bestätigen, auf deren Gesamtbild (Bühne, Kostüm und Lichtregie) er weitgehend Einfluß genommen hat.

Man kennt und anerkennt auqh die Attraktion, die er nicht nur für das Publikum, sondern auch für erstklassige Künstler bedeutet, die über ihn, und weil sie die Arbeit mit dem Maestro schätzen, immer wieder den Weg in unser schönes Haus finden. Karajan macht volle Säle — was bei einem so kostspieligen Institut wie der Wiener Staatsoper sehr wichtig ist. Aber — und da beißt sich die Schlange in den Schwanz — er kostet auch viel. Wobei wir nicht in erster Linie seine eigene Gage im Auge haben. Sein Betrieb ist kostspielig — und einseitig. Wir haben diese Bedenken wiederholt und eingehend vorgetragen, sie aber in letzter Zeit, während des Verdi-Gedenkjahres, zurückgestellt. Das im Spielplan allzusehr dominierende italienische Repertoire mit seinen vielen teuren Scala-Sängern müßte an einem deutschsprachigen und zugleich europäischen Opernhaus zumindest ein Äquivalent finden. Da wurde während der letzten Jahre eine lange Reihe von deutschen, französischen und slawischen Meisterwerken, älteren und neuen, systematisch vernachlässigt. Da tritt kaum mehr ein ausländischer Dirigent, er sei denn Italiener, ans Pult. Wo blieben Ansermet, Cluytens, Klemperer und Knappertsbusch — um nur einige große Männer aus der älteren Generation zu nennen? Da gehen viele der besten „hauseigenen“ Sänger wochenlang spazieren oder singen auswärts Und ist es zu verantworten, daß man dem interessantesten Regisseur unserer Zeit, Wieland Wagner, noch keine Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper anvertraut hat? Nach jahrelangem, entmutigendem Zuwarten und Zögern hat endlich das Ballett einen künstlerischen Leiter erhalten. Aber die Ballettabende sind nach wie vor dünn gesät, und — rebus sic stantibus — wird es noch lange zu keiner eigenständigen Wiener Ballettkultur kommen.

Auch hat es Karajan seinen Protektoren und den ihm vorgeordneten Instanzen nicht leicht gemacht in all den Jahren. Der Unterrichtsminister mußte wiederholt eigenhändig eingreifen und setzte sogar einen Sonderbevollmächtigten ein, . den Zürnenden zurückzuholen. Die weitgehende Herauslösung der Staatsoper aus dem Verband der , Bundestheaterverwaltung war ein gewagtes Experiment: ein den Wünschen des künstlerischen Leiters bewiesenes Entgegenkommen, für das man eigentlich eine gewisse Erkenntlichkeit (und Nachgiebigkeit in nebensächlichen Dingen) erwarten dürfte. In der Person des dem künstlerischen Leiter zur Seite gestellten Direktors Dr. Hilbert hat Karajan einen wertvollen Mitarbeiter erhalten, dessen zwar bedeutende, aber keineswegs unerschöpfliche Energie nicht überfordert, vor allem aber nicht auf Extratouren vergeudet werden sollte, wie sie der, wie uns scheint unnötige, Konflikt um einen italienischen Souffleur ist.

Aber kann man jemanden dazu bringen, ein für allemal und bei allen seinen Handlungen die Sache über die Person zu stellen? In einem sehr ernsten Brief vom 1. August 1918 schrieb Hugo von Hofmannsthal an seinen langjährigen Freund und Mitarbeiter Richard Strauss, der sich um die Stelle eines Direktors der Wiener Oper bewerben wollte, daß seine Berufung „dem Institut einen äußeren Glanz in der Gestalt eines bedeutenden Dirigenten, aber keinen wahren entscheidenden inneren Nutzen bringen würde und daher letzterdings im Interesse des Instituts, wenn man dieses wohl und gewissenhaft erwägt, abzulehnen ist. Mir ist alles Persönliche ein Greuel, und die in einem Institut verkörperte Idee ist mir alles.“

Darum aber geht es. Das ist es, worauf es ankommt. Wir sind nicht der landesüblichen und so überaus populären Idolatrie verfallen, der- zufolge die Wiener Staatsoper das Zentrum und das Herz von Wien und Österreich symbolisiert. Sie ist ein wertvoller Bestandteil unserer Kultur, ein Schmuckstück, das wir uns fast nicht mehr leisten können. Möge sie nicht zum Auslagefenster mit stets wechselndem und zweifelhaftem Dekor werden. Denn auch als Auslage ist sie zu schade für so blamabel-provinzielle, deprimierende und kostspielige Spektakel, wie sie sich vor kurzem ereignet haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung