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Vor zwanzig Jahren

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Wenn ich, dem Wunsche der „Oester- reichischen Furche“ nachkommend, bereit bin, anläßlich der 20. Wiederkehr eines der schwärzesten Tage in der neueren Geschichte Oesterreichs mein persönliches Erleben am 25. Juli 1934 zu schildern, so gebe ich damit ein Schweigen auf, das ich mir in all den Jahren seither zur Pflicht gemacht hatte.

Ich gehe heute davon in der Ueberzeugung ab, daß ein Geschehen, das 20 Jahre zurückliegt, dem Bereich der aktuellen Politik bereits entrückt und der Geschichte zugehörig ist. Als letzter überlebender Zeuge gewisser Vorgänge vor und an jenem Tage halte ich mich nicht für berechtigt, meinen Beitrag zur Feststellung der geschichtlichen Wahrheit für immer zu verweigern. Dies um so mehr, als mir unter den zahlreichen Darstellungen der Ereignisse jenes Tages keine — die amtliche Publikation des damaligen Bundeskommissariates für Heimatdienst, da sogenannte „Braunbuch“, nicht ausgenommen — bekannt ist, die den Ablauf des Geschehens und seine Hintergründe vollkommen zutreffend schildern würde. Vor allem gibt keine dieser Veröffentlichungen eine befriedigende Antwort auf die Frage, wieso es kam, daß der Anschlag auf das Bundeskanzleramt und damit die Ermordung des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß trotz vorheriger Warnung nicht verhindert werden konnte.

Ich kann nicht vermeiden, daß meine Darlegungen einen Mann schwer belasten, der nicht mehr unter den Lebenden weilt. Es liegt mir daher daran, festzustellen, daß ich die gleichen, das Verhalten des Bundesministers Major Fey betreffenden Angaben, nach Entbindung von der Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit durch den damaligen Regierungschef, zu seinen Lebzeiten anläßlich einer Ehrenaffäre zwischen ihm und dem Fürsten Starhemberg gemacht habe, ohne daß damals eine Reaktion von seiner Seite erfolgt wäre.

Das umfangreiche Protokoll über meine damaligen Angaben wurde in drei Ausfertigungen hergestellt Eine übergab ich dem Bundeskanzler Dr. von Schuschnigg. Es ist mir nicht bekannt, ob sie sich etwa unter den Präsidialakten des Bundeskanzleramtes erhalten ha Mein Exemplar wurde nach der Besetzung Oesterreichs durch die Nationalsozialisten, als ich bereits in Haft war, von meinen Angehörigen nebst anderen Dokumenten vernichtet, um sie dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Vom Schicksal des für den Ehrenrat selbst bestimmten Originales hörte ich unter eigentümlichen Umständen, als ich im Herbst 1938 im Gestapogefängnis in München in Haft war. Damals bedrängte mich ein Abgesandter des Berliner Sicherheits- Hauptamtes in einem stundenlangen Verhör aufs äußerste, um von mir eine Bestätigung jener Version zu erhalten, nach welcher nicht der tatsächliche Mörder Planetta, sondern Fey die tödlichen Schüsse auf Dollfuß abgegeben hätte. Bekanntlich wurde diese Behauptung in einer schon 1934 in Prag erschienenen Broschüre „Wer hat Dollfuß ermordet?“ verbreitet, die einen sozialistischen

Emigranten namens Dr. Kreisler zum Verfasser hatte. Den Nationalsozialisten war es offenbar darum zu tun, Planetta als Opfer eines Justizirrtums zum Märtyrer der Partei zu machen. Das Verhör nahm infolge meiner strikten Weigerung, etwas zu bestätigen, was nach der ganzen damaligen Sachlage völlig ausgeschlossen war, einen derart turbulenten Verlauf, daß der Gefängnisdirektor eingreifen mußte. Zu meiner Verblüffung erklärte der

Gestapomann nun plötzlich, er halte meine Angaben für „hundertprozentig richtig“, sie deckten sich mit seinen sonstigen Erhebungen und seien ihm im übrigen schon seit längerem bekannt gewesen. Auf meine Frage, warum er mir dann so zugesetzt habe und woher er denn meine Angaben bereits gekannt haben wolle, erwiderte er: „Wir besitzen Ihr Protokoll in der Ehrenratssache Fey—Starhemberg.“ Ehe ich mich der Schilderung der Ereig nisse des 25. Juli selbst zuwende, ist es zum Verständnis der Geschehnisse dieses Tages unerläßlich, einiges über die Organisation des Sicherheitswesens zu jener Zeit und die sich daraus ergebenden Befugnisse und Verantwortlichkeiten auf diesem Gebiete zu sagen.

Am 10. Juli 1934 hatte Dollfuß sein Kabinett umgebildet. Die hervorstechendste Aende- rung und wohl auch der eigentliche Grund für die Umbildung war die „Entmachtung“ Feys. Dollfuß zog die Leitung des Sicherheitswesens an sich. Fey wurde vom Posten eines Sicherheitsministers enthoben und gehörte dem neuen Kabinett bloß als Minister ohne Portefeuille an. Er wurde zum „Generalstaatskommissär für die Angelegenheiten der Bekämpfung staatsgefährlicher Bestrebungen in der Privatwirtschaft“ ernannt.

Dollfuß war zu diesem Schritt durch das unverhüllte Machtstreben Feys, wie wohl auch durch immer wiederkehrende, nie ganz geklärte Nachrichten über die undurchsichtigen Beziehungen Feys zu nationalsozialistischen Kreisen veranlaßt worden.

Wenige Tage vor dieser Kabinettsumbildung fragte mich Dollfuß, ob ich bereit wäre, die Angelegenheiten des Sicherheitswesens als Staatssekretär unter seiner Oberleitung wieder zu übernehmen. Ich hatte dieses Amt bereits vorher unter dem Kanzler und später unter Fey innegehabt, bis am 1. Mai 1934 dieser die Vizekanzlerschaft an Starhemberg abgeben mußte und als Minister die Führung des Sicherheitswesens allein übertragen erhielt, während ich dem Kanzler und Vizekanzler als Staatssekretär zur Unterstützung in den von ihnen geführten Angelegenheiten beigegeben wurde. In der Zeit der gemeinsamen Arbeit mit Fey hatte ich diesen als einen sehr energischen, persönlich — wie auch seine hohen Kriegsauszeichnungen bewiesen — tapferen Mann kennengelernt, der jedoch allzu leicht bereit war, den Interessen des von ihm geführten Wiener Heimatschutzes und der Verfolgung seines persönlichen Ehrgeizes den Vorrang vor seinen Aufgaben im öffentlichen Dienste zu geben.

Ich gehörte weder einer politischen Partei noch einem der paramilitärischen Selbstschutzverbände an und sah meine Aufgabe ausschließlich darin, der Sache Oesterreichs nach Kräften zu dienen. So mußte sich die Zusammenarbeit mit Fey bald reibungsvoll gestalten. Ich antwortete daher auf die Frage Dollfuß’, daß ich grundsätzlich selbstverständlich bereit sei, seinem Rufe zu folgen, doch müßte ich mit Rücksicht auf gemachte Erfahrungen und den Ernst der Lage vorher die absolute Gewähr dafür erhalten, daß Fey in keiner Weise in Hinkunft befugt sein werde, unter welchem Titel immer in die Angelegenheiten des Sicherheitswesens einzugreifen. In diesem Sinne müßten auch seine Vollmachten in seinem neuen Wirkungskreis als Generalstaatskommissär abgegrenzt werden.

Nach zwei langen und erregten Unterredungen, die sich in den beiden, dem 10. Juli vorhergehenden Nächten im Büro des Kanz-lers abspielten, gab Fey schließlich eine ehrenwörtliche Zusicherung in dem von mir verlangten Sinne sowohl mündlich wie schriftlich ab. Die Verleihung einer hohen Auszeichnung in Anerkennung seiner bisherigen Verdienste und der Titel eines „Generalstaatssekretärs“ an Stelle des zunächst Vorgesehenen „Bundeskommissärs“, beides von Fey gefordert, erleichterten ihm seinen Entschluß.

In seinem Selbstgefühl zutiefst getroffen, Dollfuß und mir grollend, verließ Fey damals das Arbeitszimmer des Kanzlers.

Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens Feys am 2 5. Juli.

Mit der Ernennung des umgebildeten Kabinetts Dollfuß durch den Bundespräsidenten am 10. Juli waren somit die Befugnisse auf dem Gebiet des Sicherheitswesens klar und eindeutig festgelegt: Die oberste Leitung hatte der Kanzler selbst. Ich war ihm zur Unterstützung beigegeben und hatte die Geschäfte nach seinen Weisungen als Staatssekretär zu führen.

Der Apparat, der mir zur Erfüllung meiner Aufgaben unterstellt war, bestand aus der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, einer Sektion des Innenministeriums, in oberster Instanz, den Sicherheitsdirektoren in den einzelnen Bundesländern mit den ihnen unterstellten Polizeibehörden und Landesgendarmeriekommanden nebst den Exekutivkräften an Polizei und Gendarmerie. Außerdem bestand damals noch die Einrichtung des „Freiwilligen Schutzkorps“, einer vorwiegend aus dem Heimatschutz rekrutierten Hilfstruppe, die von der Regierung in Pflicht genommen und den Sicherheitsdirektoren unterstellt war, die allein über dieses Korps zu verfügen berechtigt waren.

In Wien bekleidete damals den Posten des Polizeipräsidenten; mit dem auch die Funktion eines Sicherheitsdirektors für Wien vereinigt war, der frühere Ministerialrat im Innenministerium Dr. Seydl.

Eine der ersten Maßnahmen, die ich dem Bundeskanzler nach meiner Wiederbetrauung am 10. Juli vorschlug, war ein Wechsel in der Person des Wiener Polizeipräsidenten. Schon in der ersten Periode meiner Tätigkeit an der Spitze des Sicherheitswesens hatte ich in Seydl einen persönlich hochanständigen und politisch einwandfreien Beamten kennengelernt, der jedoch keineswegs jenes Maß an Umsicht, Tatkraft und Autorität besaß, wie es für einen so verantwortungsvollen Posten an sich und in jenen Zeiten des latenten Bürgerkrieges ganz besonders gefordert werden mußte.

Dollfuß konnte sich nicht entschließen, meinem Antrag zuzustimmen. Er verwies auf die politische Zuverlässigkeit Seydls sowie darauf, daß an dessen Seite ja der energische Dr. Skubl als Polizeivizepräsident stehe.

Schon wenige Tage später wiederholte ich meinen Antrag in dringlicher Form. Ich konnte nunmehr, es war der 23. Juli, darauf hinweisen, daß gewichtige Anhaltspunkte dafür vorlägen, daß sich innerhalb der höheren Polizeibeamtenschaft einzelne illegale Nationalsozialisten — es handelte sich in erster Linie um Hofrat Steinhäusl — befänden. Diesen Verdacht hatten bisher Seydl und andere leitende Funktionäre nicht wahrhaben wollen, wobei es dahingestellt bleibt, ob Sorglosigkeit oder eine höchst unangebrachte Kamcraderie sie zu dieser Haltung bewog.

Auch jetzt traf der Kanzler die von mir beantragte Verfügung nicht. Er vereinbarte schließlich mit mir eine Zwischenlösung: Vizepräsident Skubl sollte zum Generalinspizierenden für alle Bundespolizeibehörden ernannt und damit in die Lage versetzt werden, auch im Bereich seines eigenen Präsidenten eine Kontrolle auszuüben und die dringlichen Säuberungsmaßnahmen durchzuführen.

Mit der Unterschrift des Kanzlers auf dem die Ernennung Skubls verfügenden Akt und dem Auftrag, hierüber im Ministerrat des bereits anbrechendcn Tages zu berichten, verließ ich in der Nacht vom 24. zum 25. Juli die Wohnung Dollfuß’ in der Stallburggasse. Wer hätte geahnt, daß es der letzte Auftrag war, den ich von ihm entgegennehmen sollte!

Am 25. Juli war der Ministerrat im alten Kaunitz-Palais am Ballhausplatz versammelt und hatte um 11 Uhr unter dem Vorsitz des Bundeskanzlers mit den Beratungen begonnen. Nur der auf einer Auslandsreise be griffene Vizekanzler Fürst Starhemberg und Minister Fey fehlten.

Wenige Minuten vor 12 Uhr erschien Fey, entschuldigte sein Zuspätkommen und bat den Kanzler in eine der Fensternischen des Saales. Dort machte er ihm eine kurze, für niemand anderen vernehmbare Mitteilung. Dollfuß schüttelte zunächst ungläubig den Kopf und wandte sich dann zu den Versammelten: „Fey hat mir eben etwas mitgeteilt, von dem ich noch nicht weiß, ob etwas dahinter ist. Vielleicht ist es besser, wir unterbrechen die Sitzung, jeder geht in sein Ministerium, ich werde die Herren verständigen lassen, wann wir fortsetzen. Fey, Zehner, Karwinsky kommen mit mir in mein Büro.“ Dort angelangt, es war einige Minuten nach 12 Uhr, ersuchte Dollfuß Fey, seine Mitteilung mir zu wiederholen. Die knappen zwei Sätze, die Fey nun von sich gab, habe ich nicht nur bereits am nächsten Tag schriftlich festhalten lassen, ich habe sie mir in den Jahren seither, wenn ich das furchtbare Geschehen dieses Tages in Gedanken durchging, oft und oft wiederholt, so daß ich in der Lage bin, für jedes dieser Worte, ja selbst für den Tonfall, in dem sie gesprochen wurden, einzustehen. Sie lauteten in dem saloppen Wienerisch Feys:

„Ich hab a Meldung kriegt, es soll was gegen den Ballhausplatz beabsichtigt sein. In der Sieben- sterngasse ist eine Turnhalle, die soll dabei eine Rolle spielen.“ Kein Wort mehr, weder in diesem Augenblick noch später. Es sei hier vorweg die Ungeheuerlichkeit festgehalten, daß Fey in diesem Zeitpunkte bereits seit etwa einer Stunde in Kenntnis davon war, daß national-

sozialistische Aufrührer, unter ihnen Polizisten und entlassen Heeresangehörige, sich um 12.15 Uhr in der von ihm genannten Turnhalle sammeln, von dort zum Ballhausplatz fahren, in das Gebäude des Bundeskanzleramtes eindringen und den Ministerrat gefangensetzen sollten.

All diese Angaben hatte einer der Verschwörer, der Polizeirevierinspektor Dobler, von Gewissensbissen getrieben, in den frühen Vormittagsstunden des 25. Juli gemacht und sogar den schriftlichen Befehl, sich um 12.15 Uhr in der Turnhalle einzufinden, vorgewiesen. Das bereits erwähnte amtliche Braunbuch gibt die Kette verhängnisvoller Zufälle richtig wieder, durch die Doblers Meldung statt an eine Sicherheitsdienststelle zunächst in die Hände einer Reihe von Angehörigen des Wiener Heimatschutzes, durch diese an den Adjutanten Feys, den Gendarmeriemajor Wrabel, und schließlich an Fey selbst gelangte.

Dobler hat vier Tage nach dem 25. Juli während seiner Eskortierung in einem Polizeigebäude durch Sprung aus einem Gangfenster angeblich Selbstmord begangen, ein Vorfall, der nie ganz geklärt wurde. Vorher war er jedoch zweimal, darunter auch vom Polizeivizepräsidenten Dr. Skubl persönlich, einvernommen worden. Aus seinen Aussagen ging hervor, daß er alle wesentlichen Elemente des Putschplanes dem Major Wrabel mitgeteilt hatte. Dieser nieder versicherte, daß er alle Angaben Doblers an Fey weitergegeben habe. Auf den Vorhalt, daß er als Adjutant sich auf den Dienst um die Person des Ministers zu beschrähkeh hatte und in keiner Weise befugt gewesen sei, irgendwelche Maßnahmen sicherheitsdienstlicher Natur zu treffen, berief er sich auf Aufträge des Ministers.

So steht fest, daß Fey in voller Kenntnis der Einzelheiten des Putschplanes es vorsätzlich unterlassen hat, diese, wie es seine selbstverständliche Pflicht gewesen wäre, sofort und vollinhaltlich an die zuständige Stelle, sei es dem Kanzler, sei es an mich oder an den Polizeipräsidenten, weiterzugeben. Hätte er dies, wozu ihn überdies noch sein kurz vorher gegebenes Wort verpflichtete, getan, so wäre es ein leichtes gewesen, das Unternehmen der Verschwörer mit dem normalen Sicherheitsapparat rechtzeitig zu vereiteln.

Welche Gedankengänge es waren, die Fey zu seinem gegenteiligen Verhalten und zu seinem Wortbruch bewogen, scheint mir völlig klar: Zwei Wochen vorher durch die Enthebung vom Amte des Sicherheitsministers schwer gekränkt und in seinem Machtstreben weit zurückgeworfen, war er nun durch Zufall in den Besitz einer Meldung gelangt, die ihm Kenntnis von einer schweren Bedrohung der Regierung Dollfuß verschaffte. Gelang es ihm, mit anderen als den normalen Machtmitteln, die ihm ja nicht mehr zur Verfügung standen, diese Bedrohung abzuwenden, so konnte es nicht daran fehlen, daß er ob dieses Verdienstes in seine frühere Position, ja vielleicht in eine noch höhere einrücken würde. Er faßte daher den ebenso unklugen wie unkorrekten Plan, den Ueberfall auf das Kanzleramt mit „seinem“ — weil aus dem Wiener Heimatschutz rekrutierten — Freiwilligen Schutzkorps aufzufangen. Unklug, weil die Mannschaften dieses Korps an jenem Tage vormittags im Prater übten, dort erst alarmiert, gesammelt und in die Stadt gebracht werden mußten, daher notwendigerweise zu spät kommen mußten, wie es ja auch geschah. Unkorrekt, weil ihm eine Befehlsgewalt über das Schutzkorps, das ausschließlich dem Sicherheitsdirektor von Wien zu gehorchen hatte, nicht zustand und er überdies durch sein Wort verpflichtet war, sich jeden Eingriffes in Angelegenheiten des Sicherheitsdienstes zu enthalten. Der einzige Effekt der Alarmierung des Schutzkorps war, daß dessen Kommandant, Oberstleutnant i. R. Pollaczek-Wittek, mit seinem Stab kurz vor dem Eindringen der Aufrührer im Kanzleramt eintraf, um gleich darauf von diesen gefangengenommen zu werden. Ich entsinne mich noch meines Erstaunens, als ich knapp vor diesem Augenblick Pollaczek-Wittek und seine Offiziere im Säulcnsaal des Bundeskanzleramtes, wo sie kurz vorher noch nicht zu sehen waren, um Fey geschart erblickte.

Doch kehren wir nun in das Arbeitszimmer des Kanzlers zurück: Sofort nach der Mitteilung Feys rief ich, es war zwischen 12.10 und 12.15 Uhr, am Schreibtischtelephon des Kanzlers den Polizeipräsidenten an, wiederholte die eben von Fey gemachten vagen Angaben und erteilte den Auftrag, sofort ein Auto mit Kriminalbeamten unter Führung eines Konzeptsbeamten in die Siebensterngasse zu entsenden, um festzustellen, was es für eine Bewandtnis mit der von Fey erwähnten Turnhalle habe. Der Beamte sollte sodann nicht erst der Polizeidirektion berichten, sondern seine Meldung, um jeden Zeitverlust zu vermeiden, unmittelbar im Büro des Bundeskanzlers erstatten. Des v eiteren beauftragte Ich den Polizeipräsidenten, auf alle Fälle für eine erhöhte Sicherung der Gebäude des Bundeskanzleramtes am Ballhausplatz und in der Herrengasse zu sorgen.

Fey stand während dieses Gesprächs neben dem Schreibtisch des Kanzlers und — schwieg. Mit keinem Worte deutete er an, daß man sich diese Erhebungen ersparen könne, denn er wisse ja, wer sich dort in der Turnhalle sammle und zu welchem Zwecke.

Ich hatte kaum ausgesprochen, als Major Wrabel eintrat und meldete, Marek, einer der beiden Kriminalbeamten, die Fey, so wie jedem anderen Regierungsmitglied, zur Begleitung zugeteilt und von Fey in die Siebensterngasse entsendet worden waren, habe telephonisch berichtet, daß Soldaten, Polizisten und Zivilisten ihren Weg in die Turnhalle nähmen. Wenige Minuten darauf ergänzte ein neuerlicher Anruf Mareks seinen Bericht dahin, daß der Zuzug anhalte und daß ein vor dem Eingang der Turnhalle stehendes Lastauto mit Kisten beladen werde.

Als vom Zuzug von Militärpersonen die Rede war, warf Staatssekretär General Zehner ein, das sei unwahrscheinlich, denn Soldaten hätten um diese Zeit in ihren Kasernen zu sein. Dollfuß forderte daraufhin Zehner auf, sich in das Heeresministerium zu begeben, von dort aus zu überprüfen, was es mit den angeblichen Soldaten auf sich habe und ihm sodann telephonisch zu berichten. So entging Zehner der Gefangennahme.

Gleich nach der zweiten Meldung Mareks hatte ich neuerlich den Polizeipräsidenten angerufen, ihm von dem Gehörten Mitteilung gemacht und gefragt, ob meine Aufträge durchgeführt seien, da noch keine Meldung des in die Siebensterngasse beorderten Beamten erfolgt sei, ich aber bei raschester Durchführung meines Auftrages eine solche schon erwarten könne. Nun gestand Seydl zögernd und in merkbarer Aufregung, daß er noch nichts veranlaßt habe. Unmittelbar vor unserem ersten Gespräch hätte er eine Konfidentennachricht erhalten, daß ein Attentat auf den Kanzler für den Zeitpunkt geplant sei, in dem er, wie alltäglich, auf dem Wege vom Bundeskanzleramt in die Stallburggasse zur Mittagszeit den Michaelerplatz passiere. Er habe davon im ersten Gespräch nichts erwähnt, um den Kanzler, den er in meiner unmittelbaren Nähe vermutete, nicht zu beunruhigen. Er bat mich dringend, zu verhindern, daß der Kanzler das Haus verlasse, ehe alle Vorkehrungen gegen den geplanten Anschlag beendet seien. Er habe „den ganzen Apparat der Polizeidirektion auf den Michaelerplatz eingestellt“ und kein Auto gehabt, um es in die Siebensterngasse zu entsenden! Ich hielt ihm die Haltlosigkeit einer solchen Rechtfertigung vor und bemerkte daß die Polizeidirektion wohl über genügend Mittel verfüge, um beiden Aufgaben eerecht zu werden. Mit den Worten:„Tempo,

Tempo!“ trieb ich ihn zur Eile an. 15 bis 20 Minuten waren vertan. W i e kostbar sie waren, sollte uns erst später klar werden. Einer allerdings wußte es schon damals und dieser eine — schwieg beharrlich. Fey, der all diese Bemühungen, Licht in eine Angelegenheit zu bringen, die er durch sein Verschweigen verdunkelt hatte, mitanhörte, blieb stumm und gab sein Wissen nicht preis.

Es war 12.30 Uhr als eine dritte Meldung Mareks einlief, die besagte, daß weitere vier Lastwagen vor der Turnhalle vorgefahren seien. Knapp darauf meldete der zweite Beobachter, daß Marek von Polizisten festgenommen und in die Turnhalle gebracht worden sei. Diese Meldung war für den Kanzler und mich der erste Beweis dafür, daß sich dort etwas Gesetzwidriges vorbereite.

Da der Polizeipräsident nicht sofort erreichbar war, ließ ich mich mit dem Leiter der Staatspolizei Hofrat Dr. Presser verbinden. Nach den Worten: „Es ist ein Skandal, daß ich noch immer keine Meldung aus der Siebensterngasse habe“, erteilte ich den Auftrag:

„Ich warte nicht mehr länger. Sie schicken sofort einen Zug der Alarmabteilung in die Siebensterngasse und lassen die Gesellschaft, was immer es ist, hoppnehmen. Ein zweiter Zug der Alarmabteilung kommt hierher ins Kanzleramt." Diensteifrig wiederholte Presser: „Jawohl, hoppnehmen wird das Beste sein. Wird sofort durch geführt." Es war 12.35 Uhr. Nach den Alarmdispositionen hätte der angeforderte Zug den Weg von der Marokkaner- kaserne zum Ballhausplatz in vier Minuten zurücklegen müssen. Es vergingen mehr als fünfzehn Minuten, bis er im Inneren Burghof beim dortigen Sicherheitswachzimmer eintraf — zu spät.

Auch die angeordnete Festnahme der in der Turnhalle Versammelten durch die Alarmabteilung kam nicht zur Durchführung. Es ist mir heute nicht mehr erinnerlich, ob und wann diese Abteilung dort eingelangt ist. Tedenfalls konnte sie das Nest nur noch leer finden, denn als der von mir um 12.15 Uhr zur Aufklärung dorthin beorderte Konzeptsbeamte mit seinen Kriminalbeamten endlich mit einer halbstündigen Verspätung sich der Halle näherte, fuhren von dort gerade acht Lastautos stadtwärts. Es ist völlig unverständlich, wieso der leitende Beamte und seine Begleiter später angeben konnten, sie hätten die Autokolonne für eine Assistenzabteilung des Bundesheeres gehalten und sich daher nicht weiter um sie gekümmert. Der Eindruck, den ich wenige Minuten später selbst gewinnen sollte, wies eindeutig auf ein illegales Unternehmen hin.

Nach dem Gespräch mit Dr. Presser ließ ich den Kriminalbeamten Bezirksinspektor Göbel, der den Sicherheitsdienst im Gebäude des Bun deskanzleramtes zu leiten hatte, kommen, teilte ihm mit, daß mit der Möglichkeit eines Anschlages auf das Gebäude — Näheres sei nicht bekannt — zu rechnen sei. Ich beauftragte ihn, die im Hause verteilten Sicherheitsorgane hievon zu unterrichten, sie zu besonderer Aufmerksamkeit anzuweisen und für die Sicherung des Tores zu sorgen. Diese „Sicherung des Tores" wurde stets so gehandhabt, daß in unruhigen Zeiten die Tore der öffentlichen Gebäude bis auf einen etwa fußbreiten Spalt geschlossen wurden, so daß niemand das Gebäude betreten konnte, ohne vom Torhüter oder den diensthabenden Sicherheitsorganen kontrolliert zu werden.

In der Erwartung, daß nun jeden Augenblick die Ueberfallsautos der Alarmabteilung herankommen mußten, stand ich am Fenster. Neben mir blickte, verbissen schweigend, Fey zum Fenster hinaus. Auch er wartete — jedoch auf etwas anderes. Eben war Dollfuß zu uns getreten und hatte, zum sonnenbeschienenen Heldenplatz hinüber deutend, zweifelnd gesagt: „Was soll denn da schon gegen den Ballhaus platz unternommen werden?", als, vom Mino- ritenplatz anmarschierend, ein Zug Infanterie im Tor des Bundeskanzleramtes verschwand. Es war die jeden Tag zur gleichen Zeit, um 12.50 Uhr eintreffende Ablösung für den Zug, der die Ehrenposten vor dem Gebäude zu stellen hatte. Wie Inspektor Göbel später berichtete, hatte er in Ausführung meines Auftrages die Schließung des Tores bereits angeordnet, doch konnte sie wegen des Einmarsches der Wachablösung noch nicht durchgeführt werden. Im übrigen hätte das Tor, wenn es bereits geschlossen gewesen wäre, für diesen Zweck wieder geöffnet werden müssen.

Kaum hatte der letzte Mann das Tor passiert,

als von der anderen Seite, aus der Löwelstraße um die Ecke biegend, mehrere Lastautos in rascher Fahrt in das Tor einfuhren. Ein Blick hatte genügt, um mir zu sagen, daß es sich um einen Ueberfall illegaler Elemente handle. Auf alten Plateauwagen, deren Bordwände Firmenaufschriften trugen, standen vermischt Polizisten und Leute in Militäruniform. Diese trugen die blauen Aufschläge der Deutschmeister, waren aber auffallend unvorschriftsmäßig adjustiert. Manche trugen Karabiner, manche ‘Pistolen, einige Riemenzeug, andere keines, mehrere hatten die Pistolen bloß an den schwarzen Fangschnüren umgehängt. Mitten unter ihnen stand ein Mann in Stabsoffiziersuniform mit dem Orden der Eisernen Krone an der Brust.

In der Toreinfahrt und bald im ganzen Hause erhob sich lautes Lärmen. Die Uefoer- wältigung der militärischen Wache — sie hatte, entsprechend dem Reglement, die Schußwaffen nicht geladen, da sie nur als Ehrenwache verwendet wurde — und der im Harne verteilten Sicherheitsorgane schildert das Braunbuch,

Dollfuß, Fey und ich traten aus dem Arbeitszimmer des Kanzlers in den anstoßenden Säulensaal. Mein erster Gedanke galt der Sicherheit des Kanzlers. Ich kannte das weitläufige Gebäude und seine Möglichkeiten nur wenig, doch kam mir ein im dritten Stock gelegenes Büro in den Sinn, das ich vor nicht langer Zeit benützt hatte. Ueber eine Nebenstiege erreichbar, wies es, in einem Alkoven eingebaut, von der Eingangstür her nicht sichtbar, einen Garderobe- und Waschraum auf, der durch eine unauffällige Tapetentür abgeschlossen war. Dorthin wollte ich den Kanzler bringen.

Mit den Worten: „Komm, Kanzler, in den dritten Stock, dort bist du sicher!" ergriff ich Dollfuß’ Hand und eilte mit ihm durch den Säulensaal, um durch das anstoßende Zimmer, in dem der Sekretär des Kanzlers, Dr. Krisch, arbeitete, und die angrenzenden Räume einen Seitengang und die erwähnte Nebentreppe zu gewinnen. In der Tür zum Sekretärszimmer holte uns Hedvicek, der treue Türhüter des Kanzlers, ein und ergriff den Kanzler am anderen Arm. Er hatte den Plan gefaßt, Dollfuß durch die Räume der Präsidentschaftskanzlei in das Staatsarchiv und von dort zu einem auf den Minoritenplatz führenden Seitenausgang zu bringen. Weder Hedvicek noch ich konnten uns später erinnern, ob hiebei irgendwelche Worte gewechselt wurden. Ich glaube, daß der Kanzler instinktiv bei Hedvicek eine größere Vertrautheit mit den Oertlichkeiten des Hauses annahm und deshalb nun ihm zu folgen bereit war. Er machte sich von meiner Hand los und eilte mit Hedvicek den Weg, den er eben mit mir gekommen war, zurück. Einen Augenblick stand ich überrascht da, dann wollte ich nach- eilen. In diesem Moment drang vom Vorzimmer her eine Gruppe der Aufrührer in den Säulensaal ein und schnitt mir den Weg zum Arbeitszimmer Dollfuß’, den ich eben in dessen Tür mit Hedvicek verschwinden sah, ab.

Von diesem Zeitpunkt an ist mir über das Schicksal Dollfuß’ aus eigenem Erleben nichts mehr bekannt geworden. Bekanntlich fiel der Kanzler den Kugeln Planettas, der mit einer anderen Gruppe vom Stiegenhaus in das Eckzimmer neben dem Arbeitszimmer Dollfuß’ eingebrochen war, in dem Augenblick zum Opfer, als er die zum Kongreßsaal führende Türe öffnen wollte. Der Hergang des Mordes, das tragische, einsame Sterben des Kanzlers, dem die Attentäter ärztlichen und geistlichen Beistand verweigerten, sowie die letzten Gespräche, die Dollfuß führte, gibt das Braunbuch wieder.

Ich selbst hatte in dem allgemeinen Tumult, der im Hause herrschte, und durch drei Räume getrennt, die Schüsse Planettas nicht gehört. Da der Säulensaal von den Eindringlingen, die sich dort mit Fey und seiner Umgebung befaßten, besetzt war, wandte ich mich in das Sekretärszimmer, ergriff das Telephon Doktor Krischs, um mit der Polizeidirektion Verbindung zu erhalten. Es funktionierte nicht. Ein gleicher Versuch im benachbarten Zimmer des Präsidialvorstandes, Sektionschef von Chavanne, blieb ‘ebenfalls erfolglos — die Putschisten hatten die Leitungen zerstört. Ich orientierte Chavanne mit wenigen Worten über das Geschehene und trat dann in den Vorraum vor seinem Büro, wo ich in die Hände eines weiteren Trupps der Rebellen fiel, der eben, vom großen Vorzimmer kommend, dort einlangte. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß der Weg, den ich mit Dollfuß nehmen wollte, zu jener Zeit noch frei gewesen wäre, wenn wir ihn fortgesetzt hätten. Anderseits hätte vermutlich auch der Plan Hedviceks — ich halte ihn für den besseren, da sein Weg möglicherweise ins Freie geführt hätte — die Rettung gebracht, wenn nicht durch das Zusammentreffen beider Bemühungen wenige, aber entscheidende Minuten verloren gegangen wären.

Ich wurde zunächst allein in einem Hoflokal, dann im Ministerratssaal festgehalten und schließlich in den Säulensaal gebracht. Dort saßen um den runden Tisch in der Mitte des Raumes bereits Fey, Chavanne, andere Beamte des Hauses und der Kommandant des Freiwilligen Schutzkorps Pollaczek-Wittek mit einigen Offizieren seines Stabes. Ich mußte gleichfalls an dem Tisch Platz nehmen. Hinter uns standen Putschisten mit schußbereiten Pistolen. Die Rollos an den Fenstern waren herabgelassen, so daß wir von den Vorgängen außerhalb des Hauses nichts wahrnehmen konnten. Man hörte Räderrollen und Marschtritte. Einer der Rebellen sah zum Fenster hinaus und sagte dann zu uns: „Wenn etwas gegen das Gebäude unternommen wird, wird hier alles niedergemacht." Diese Drohung wiederholte sich später noch einige Male.

Es dürfte etwa 14 Uhr gewesen sein, als ein aus dem Zimmer des Kanzlers kommender Anführer der Putschisten mich aufforderte, ihm in eine Ecke des Saales zu folgen. Dort sagte er mir: „Sie wollen mit uns sprechen", ich erwiderte kurz: „Nein." Darauf wiederholte er mit eindringlicher Betonung: „Aber ja, Sie wollen doch mit uns sprechen!" Aufgebracht über diese Zumutung, sagte ich brüsk: ..Ich habe mit Ihnen überhaupt nichts zu reden!" Daraufhin wies er mich barsch an, meinen Platz am Tisch wieder einzunehmen. Bald darauf wurde Fey hinausgeführt.

Die Erklärung für diesen Vorfall ergab sich später aus der Aussage des Oberwachmannes Greifenedei, eines der beiden treu gebliebenen Wachebeamten, die sich um den schwerverwundeten Kanzler bemühten. In dem Protokoll hierüber heißt es: „ Der Kanzler wiederholte seinen Wunsch, Dr. Schuschnigg sprechen zu wollen, der ,Major’ sagte aber: ,Schuschnigg ist nicht hier.’ Sodann verlangte der Kanzler nach Karwinsky, darauf erwiderte der ,Major’ überhaupt nichts. Er stand dann auf Und brachte Bundesminister Fey, was aber längere Zeit gedauert hat." Offenbar wollten sich die Putschisten, ehe sie mich zum Kanzler führten, vergewissern, ob sich mit mir paktieren lasse. Nicht ahnend, worum es sich handeln könnte, hatte ich mir durch die Weigerung, mit ihnen zu sprechen, die Möglichkeit, zu Dollfuß zu gelangen; verscherzt.

Fey kam nach einer Weile zurück und nahm seinen Platz neben mir wieder ein. Er machte keinen Versuch, mir mitzuteilen, daß. er beim Kanzler gewesen sei und diesen sterbend angetroffen habe. Wohl war es uns untersagt zu sprechen, doch fand sich immer wieder eine Gelegenheit, seinem Nachbarn einige Worte zuzuflüstern, ehe die Wachtposten dagegen einschritten.

So waren wir über das Schicksal des Kanzlers gänzlich im unklaren. Ich selbst unterlag einer Gehörstäuschung: Aus der halboffenen Tür des Kanzlerzimmers hörte man durch längere Zeit eine Stimme in ruhigem Tonfall sprechen, die ich, ohne den Inhalt verstehen zu können, für die Stimme Dollfuß’ hielt, Später wurde ich aufgeklärt, daß es die Stimme eines Radiosprechers gewesen sei. Etwa um 16 Uhr kam aus dem Zimmer des Kanzlers einer der Aufrührer, trat an jeden der Posten heran und wiederholte für jeden die Mitteilung: „Rintelen Bundeskanzler." Die Posten reagierten darauf teils mit „Heil Hitler", teils bloß mit Zusammenschlagen der Hacken. Ich wechselte mit dem mir gegenüber sitzenden Sektiönschef Chavanne Blicke, die unser Bedauern über eine solche Lösung ausdrückten.

Etwa eine halbe Stunde später, als stärkere Geräusche von der Straße heraufdrangen, wiederholte einer der Posten die Drohung, es werde im Saal alles niedergemacht werden. Als der Höchstrangige unter den Anwesenden —• Fey war wieder einmal hinausgeführt worden — versuchte ich etwas gegen diese Drohungen zu unternehmen und sagte: „Das ist ja Wahnsinn, was Sie da treiben. Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber lassen Sie die Beamten hier in Ruhe." Da weder darauf noch auf meine Frage: „Wissen Sie, wer ich bin?", eine Antwort erfolgte, schrieb ich auf eine Visitenkarte: „Muß ‘Sie dringend sprechen" oder Aehnliches und gab sie einem Posten, damit er sie Rintelen bringe, den ich im Hause vermutete und zum Einschreiten veranlassen wollte. Diese Karte wurde später auf ungeklärte Weise dem Verteidiger Rintelens in die Hände gespielt, der erfolglos versuchte, sie zur Entlastung seines Klienten zu verwerten.

Es war etwa 18 Uhr, als in der Haltung der Wachtposten und anderer den Saal dann und

DIE ÖSTERREICHISCHE

F U R C HE

wann durcheilender Aufrührer eine auffallende Aenderung eintrat. Ich gewann den Eindruck, daß sie ihr Spiel verloren gaben und nur noch auf ihre eigene Rettung bedacht waren. Wir konnten unsere Plätze verlassen und miteinander sprechen. Beschämend war das Bild, das Feys Adjutant bot, der sich mit den Aufrührern in Gespräche einließ und ihnen Zigaretten anbot. Fey selbst war lange Zeit nicht im Saale. Ueber die verschiedenen telephonischen und schriftlichen Mitteilungen, die von ihm — nach seiner Angabe durch Drohungen der Putschisten erzwungen — nach außen gelangten, ist mir aus eigener Wahrnehmung nichts bekannt.

Wir hatten bereits ungefähr eine halbe Stunde lang eine gewisse Bewegungsfreiheit genossen, als plötzlich zwei der Aufrührer uns befahlen, uns alle mit dem Gesicht gegen die Längswand des Saales zu aufzustellen. Es schien, als ob wir noch in letzter Stunde das Opfer der Rachegelüste einzelner Terroristen werden sollten, die ihr Unternehmen gescheitert sahen. „Meine arme Frau", flüsterte Chavanne, der neben mich zu stehen gekommen war, mir zu. Als ich über die Schulter zurückblickte, sah ich, wie die beiden Putschisten gerade ihre Pistolen zielend in Anschlag brachten. In diesem Augenblick stürzte aus dem Kanzlerzimmer einer der Anführer mit dem Rufe: „Weg mit den Pistolen!" auf die beiden Schützen zu und schlug ihnen mit einem Hieb des Unterarmes beide Pistolen herab.

Bald nach dieser Szene erschien Fey mit einigen Putschisten und forderte mich auf, mitzukommen, da die Putschisten verlangten, wir sollten beide Zeugen eines Telephongespräches sein, das sie mit dem deutschen Gesandten Dr. Rieth führen wollten. Wir begaben uns in die Hauszentrale im dritten Stock, wo allein das Telephon funktionierte. Aus dem Gespräch, das nun Holzweber, der unter dem Namen „Hauptmann Friedrich" einer der Köpfe des hochverräterischen Unternehmens war, tatsächlich mit dem Gesandten führte, war zu entnehmen, daß die im Landesverteidigungsministerium unter Führung Schuschniggs zu einem Ministerrat zusammengetretenen übrigen Regierungsmitglieder über Auftrag des Bundespräsidenten — Miklas, der in Kärnten zur Erholung weilte, wäre bekanntlich dort beinahe selbst das Opfer eines Anschlages, der auf seine Entführung abzielte, geworden — den Rebellen ein Ultimatum zur Räumung des Gebäudes gestellt und ihnen freien Abzug über die deutsche Grenze zugesichert hätten. Wie ich später erfuhr, war diese Zusicherung unter der ausdrücklichen Bedingung erfolgt, daß kein Menschenleben auf Seite der ihrer Freiheit beraubten Regierungsmitglieder zu beklagen sei. Holzweber verlangte vom Gesandten dessen Intervention, damit die Durchführung des freien Abzuges verbürgt werde. Ueberdies sollte er den Aufrührern die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft zusichem und sich sofort zu einer Besprechung mit den Putschisten in das Gebäude auf dem Ballhausplatz begeben.

Als wir nach Verlassen der Telephonzeotrale am Fuß der Treppe angelangt waren, machte Fey mir jetzt erst die furchtbare Mitteilung, daß der Kanzlet tot sei. Gleich darauf trennten uns die Aufrührer. Mir erklärten sie, sie würden die im Hause befindlichen Gefangenen nicht eher freilassen, als bis sie mit dem deutschen Gesandten persönlich gesprochen hätten. Nachdem ich diese Mitteilung durch ein Parterrefenster in der Löwelstraße an einen höheren Polizeioffizier des das Gebäude zerniert haltenden Aufgebotes mit dem Bemerken weitergegeben hatte, der Gesandte würde beim rückwärtigen Tor in der Metastasiogasse Einlaß finden, wurde ich zu diesem Tor geführt. Um nach dem Gesandten Ausschau zu halten, öffneten die Putschisten einen Spalt des Tores. Dies benützte ich, um rasch ins Freie zu treten. Völlig im Banne der furchtbaren Nachricht vom Tode des Kanzlers, konnte ich der wiedergewonnenen Freiheit nicht froh werden.

An der Ecke der Löwelstraße stieß ich auf den vom Ballhausplatz her kommenden Gesandten Dr. Rieth. Ich führte ihn zum Tor in der Metastasiogasse. Seine Aufforderung, ihn in das Gebäude zu begleiten, lehnte ich ab und wartete vor dem Tor. Als sich seine Unterredung mit den Aufrührern in die Länge zog, klopfte ich mit meinem Stock an das Tor und rief: „Exzellenz, wir müssen die Sache endlich beenden!" Rieth kam daraufhin sofort heraus und wandte sich mit mir der Löwelstraße zu. Nach einigen Schritten sagte er: „Tolle Sache das!" Empört über diese Art der Stellungnahme erwiderte ich: „Exzellenz, ich finde es äußerst merkwürdig, daß Sie für dieses furchtbare Ereignis keine anderen Worte finden! Die Blutschuld an dem, was geschehen ist, lastet jenseits unserer Grenzen." Ohne mich zu verabschieden, ließ ich ihn allein weitergehen.

Als ich auf dem Ballhausplatz anlangte, wurde eben das Tor des Bundeskanzleramtes geöffnet, die Aufrührer, 134 an der Zahl, ergaben sieh den bereitsteh’enden Polizeikräften, wurden festgenommen und in Gewahrsam gebracht. Von freiem Geleit konnte keine Rede mehr sein, war doch das kostbare Leben des Kanzlers feigem Mord zum Opfer gefallen.

Noch einmal betrat ich an diesem Abend das Haus am Ballhausplatz, um an der Bahre des Kanzlers zu beten und Abschied zu nehmen. Abschied von Engelbert ‘Dollfuß, dem großen Patrioten und Staatsmann, Abschied aber auch von dem Freunde, dem mit Ueber- zeugung und Liebe zu dienen, ich bereit gewesen war, wie keinem zuvor und keinem nach ihm im neuen Oesterreich.

In mein Amt zurückgekehrt, übernahm ich wieder die Führung meiner Geschäfte, deren sich während meiner Gefangenhaltung der Justizminister Baron Berger-Waldenegg angenommen hatte. Es galt in den folgenden- Tagen der Aufstandsbewegung Herr zu werden, die, in Wien wohl niedergeschlagen, in einzelnen Bundçslândern erst aufflammte. Vom Bundespräsidenten mit der Fortführung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufstandes auch nach der Bildung der neuen Regierung Schuschnigg, der ich als Staatssekretär für Justiz angehörte, betraut, konnte ich am 1. August die restlose Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung im ganzen Bundesgebiet melden.

In Wien nahmen die amtlichen Erhebungen über die Ereignisse dès 25. Juli ihren Lauf. Als ich am 27. Juli einen gewissen Ueberblick gewonnen hatte und sich die Rolle Feys abzuzeichnen begann, suchte ich Schuschnigg, der inzwischen provisorisch die Regierungsgeschäfte führte, auf. Ich traf ihn in Gesellschaft des hach Wien zurückgekehrten Vizekanzlers Starhemberg. Beiden berichtete ich, daß sich nach den mir vorliegenden Berichten der Polizeidirektion die Notwendigkeit ergeben habe, Feys Adjutanten, Gendarmeriemajor Wrabel, iä Haft zu nehmen. Diese Maßnahme allein hätte mich hoch nicht zu einem persönlichen Bericht an den Regierungschef veranlaßt, doch hatte ich den Eindruck, daß in Kürze ein derartiges Vorgehen gegen Fey selbst nicht zu vermeiden sein werde. Zunächst, stimmten, beidè, Starhemberg in seiner impulsiven Art, aber auch der bedächtigere Schuschnigg, den ins Auge gefaßten Maßnahmen, sowohl gegen Wrabel wie gegen Fey, zu. Nachdem wir noch eine Weile das vorliegende Erhebungsmaterial geprüft hatten, besann sich Starhemberg eines anderen und führte aus, daß er seine Ansicht revidieren müsse. Man könne es dem Heimatschutz schwerlich zumuten, daß zur selben Zeit, wo er, Starhemberg, entgegen dem Verlangen des Heimätschutzes, nicht Kanzler werde •— Starhemberg hatte sich bekanntlich loyalerweise selbst bereit erklärt, hinter Schuschnigg zurückzutreten— der zweite Mann in der Hierarchie des Heimatschutzes, Fey, in so gravierender Weise bloßgesfellt werde. Es sei fraglich, ob es ihm in diesem Falle gelingen würde, das Verbleiben des Heimatschutzes im Regierungslager zu gewährleisten. Er sei daher dafür, mit den besprochenen Maßnahmen noch zuzuwarten. Schuschnigg trag diesen Bedenken Rechnung, und ich erhielt die Weisung, vorläufig weder gegen den Adjutanten Feys noch gegen ihn selbst vorzugehen.

Als Staatssekretär war ich an eine Weisung des Regierungschefs gebunden. Aber davon abgesehen, konnte ich mir nicht verhehlen, daß Gründe der Staatsräson für diese Weisung sprachen. Zu einer Zeit, da sich die Sozialisten nach den Ereignissen des Februar 1934 grollend abseits hielten und die österreichischen Nationalsozialisten, wenn auch eben geschlagen, doch dank der unentwegten Unterstützung aus dem Dritten Reich vermutlich bald wieder ihr Haupt erheben würden, sollte es nicht zu einem Bruch zwischen Staatsführung und einer Bewegung kommen, die, ungeachtet der Verfehlungen einzelner, der Sache Oesterreichs und seiner Freiheit unter Opfern gedient hatte.

Wohl oder übel mußte dieser Weisung auch bei der Abfassung des Braunbuches Rechnung getragen werden. So zuverlässig seine Angaben bei Schilderung der Vorgeschichte und des Geschehens nach dem 25. Juli sind, so lassen sie überall dort an Klarheit zu wünschen übrig, wo die Redaktion bemüht sein mußte, die Ereignisse jenes Tages so darzustellen, daß eine direkte Belastung Feys vermieden wurde. Der Bundeskommissär für Heimatdienst, mein zu früh verstorbener Freund Oberst- Adam, dessen geradem Wesen diese undankbare Aufgabe zuwiderlief, hat mir gegenüber nach mancher Redaktionsbesprechung über das Braunbuch, aber auch später, während unseres langen Zusammenseins in Dachau, darüber geklagt.

So schien die Schuld Feys ungesühnt zu bleiben. War es aber letzten Endes nicht so, als ob ein höherer Richter sich diese Sühne Vorbehalten hätte, der es geschehen ließ, daß Fey, seine Frau und sein Sohn in den Tagen des Einmarsches’ der Nationalsozialisten in Oesterreich ein Ende von grauenvoller Tragik fanden?

Aber nicht mit einem so düsteren Bild möchte ich an diesem Tag des Erihncrns schließen.

Meine Gedanken wenden sich in inniger Verbundenheit jenen zu, die heute vor zwanzig Jahren ihr Teuerstes, den Gatten und Vater, fürs Vaterland hingeben mußten. Mögen ihnen, die noch immer fern der Heimat weilen, die unzähligen Blumen, die in diesen Tagen das Grab am Hietzinger Friedhof schmücken, Kunde geben davon, daß Engelbert Dollfuß in den Herzen der Oester- reicher unvergessen ist.

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