6583068-1951_29_02.jpg
Digital In Arbeit

Wacht auf, Verdammte dieser Erde...“

Werbung
Werbung
Werbung

Wie fast alle zu einer gewissen Reife gelangten Bewegungen, hat auch der Sozialismus ein Janusantlitz gezeigt. Die 1864 in London gegründete, 1889 in Paris neubegründete „Internationale“ wurde am 30. Juni 1951 in Frankfurt als Sozialistische Internationale wiedererrichtet. Wenn zu Beginn und Ende des viertägigen Kongresses das alte Lied der Internationale: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“ gesungen wurde, wenn in manchen Reden, besonders denen des SPD-Vorsitzenden Doktor Kurt Schumacher, scharf gegen bürgerlich-konservative und „christlich firmierte“ Parteien polemisiert wurde, wenn behauptet wurde, daß man weder Politbüro noch Heiliges Offizium (welch bösartige Zusammenstellung!) nachahmen wolle, und daß die Arbeiterbewegung auf eine erkenntnisstarke Theorie angewiesen sei, die „Gegner“ jedoch „lediglich das Eigentum verteidigen“, dann zeigt sich das rückwärtsgewandte Janusantlitz recht deutlich. Wenn gesagt wurde, daß man, um den Kommunismus zu überwinden, dessen „unsozialen Verhältnissen“ nur „soziale Verhältnisse“ entgegenzustellen brauche (welcher Aufgabe die Parteien rechts vom Sozialismus nicht gewachsen seien), dann wird man über diesem naiv materialistischen Vokabular einigermaßen besorgt, auch wenn man nicht der — wie Dr. Schu-

macher es nennt — „schwachsinnigen

Formel des Antimarxisraus“ anhängt. Möglicherweise macht sich hier die Uberalterung und zeitweise Ausschaltung des deutschen Sozialismus geltend, denn es fällt auf, daß belgische, niederländische, englische Delegierte eine wirklichkeitsnähere und modernere Sprache führen.

In der vom gesamten Kongreß ausgearbeiteten Erklärung über „Ziele und Aufgaben des demokratischen Sozialismus“ wird denn auch etwas vom Zukunftsantlitz der Bewegung sichtbar. Ziele und Aufgaben auf dem Gebiete der I. politischen, II. wirtschaftlichen, III. sozialen und IV. internationalen Demokratie werden definiert als ein Kampf um Freiheit, Gemeinschaftsinteresse (Planwirtschaft, Überwindung des Kapitalismus), soziale Grundrechte des Individuums (Recht auf Arbeit, Gesundheitsschutz, Erholung, wirtschaftliche Sicherheit, Jugendschutz, Schulbildung, Wohnung) und Uberwindung der uneingeschränkten nationalen Souveränität zugunsten einer internationalen Rechtsordnung und des Weltfriedens. Mit den programmatischen Erklärungen begann sich auch gleich die Wirklichkeit zu messen, als der Vorsitzende des Außenpolitischen Komitees der Sozialistischen Partei Indiens, Dr. Lohia, darauf hinwies, daß es neben dem atlantischen und dem sowjet-

russischen System noch die „zurückgebliebenen Völker“ gebe, deren Rechte er anmelde. Auch kam ein Gruß von den illegalen ostzonalen Sozialdemokraten, durch den an die Sozialisten und „andere freiheitlich gesinnte Menschen“ erinnert werden sollte, die dem Terror der kommunistischen Diktatur zum Opfer fallen. Morituri te salutantl

Der Sozialismus, durch Kampf, Selbstzucht und Leistung zum mitbestimmenden Faktor in der nationalen und internationalen Politik geworden, „aus der Phase der Werbung in die Phase der Verwirklichung eingetreten“, wie die Frankfurter Deklaration sagt, hat den ehemaligen vierten Stand zum soziologisch starken und führenden Stand erhoben. Schon aber gibt es einen „fünften Stand“, neue „Verdammte“: die Millionen Vertriebener und Entrechteter, die Opfer rechter und linker Diktaturen, dazu die neue — im Zeitalter der „Manager“, der zunehmenden Bedeutung der Wissenschaft im Existenzkampf der Menschheit —, rapid zunehmende, politisch und soziologisch bisher jedoch völlig übersehene Klasse der geistigen Arbeiter. Auch sie wollen die Grundrechte des Individuums für sich in Anspruch nehmen, Grundrechte, die für sie allerdings nicht nur im materiellen, sondern auch im ideellen Bereich liegen.

Verdammte von 1864 sitzen heute am Tisch der Gemeinschaft. In Kerkern und Zwangslagern, in Baracken und Ruinen, in den Hütten afrikanischer und asiatischer Hungergebiete, aber auch Tür an Tür neben uns, unbezahlt, unterbezahlt, ungeschützt, sammeln sich die neuen Verdammten. Noch haben sie kaum eine Stimme, keine Kongresse, keine entwickelten sozialen Kampfmethoden. „Erwacht“ sind sie jedoch bereits, es gibt Anzeichen dafür. Die alten Schlagworte von „rechts“ und „links“ hallen an ihren Sorgen vorbei.

Das eigentliche Zukunftsproblem scheint die soziale Zusammenordnung und Zusammenarbeit aller Menschen zu sein. Und die Sozialistische Internationale müßte, im eigenen Interesse, so fortschrittlich werden, sich mit allen anderen Gruppen, die den Dienst am Menschen höher stellen, als die Macht über den Menschen, zu einer wahren Gemeinschaft, einer „Internationale des guten Willens“, zusammenschließen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung