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Wagner als Schlafmittel

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Die Memoirenflut um Hitler ist in den letzten Jahren rieht abgeflaut, hat aber in vielen Werken an Wert verloren. Durchaus positiv aber müssen die Aufzeichnungen von Hitlers ehemaligem Auslandspressechef, Dr. Ernst Hanfstaengl, bewertet werden, da hier ein wirklicher Augenzeuge nicht unter dem Blickwinkel des Kammerdieners oder des nur zeitweise anwesenden Ordonnanzoffiziers schreibt.

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Die Memoirenflut um Hitler ist in den letzten Jahren rieht abgeflaut, hat aber in vielen Werken an Wert verloren. Durchaus positiv aber müssen die Aufzeichnungen von Hitlers ehemaligem Auslandspressechef, Dr. Ernst Hanfstaengl, bewertet werden, da hier ein wirklicher Augenzeuge nicht unter dem Blickwinkel des Kammerdieners oder des nur zeitweise anwesenden Ordonnanzoffiziers schreibt.

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Dr. Hanfstaengl, Sproß der berühmten Münchner Kunsthändlerfamilie, Absolvent der Harvard University und Freund des späteren amerikanischen Präsidenten Roosevelt, schloß sich Hitler in der Frühzeit an und gehört zu jenem Kreis aus dem bürgerlichen Lager stammender Förderer, die Hitler in die bayrische Politik nicht nur einschleusten, sondern ihn auch gesellschaftsfähig machten. Die besondere Bindung Hanfstaengls an Hitler bestand in der Bewunderung der Rednergabe Hitlers durch den reichen Kunsthändlersohn, während umgekehrt Hitler dessen Klavierspiel schätzte und vor allem Hanfstaengls Wagner-Begeisterung nicht nur teilte, sondern seine virtuosen Künste oft in kritischen Situationen zur Beruhigung in diversen Nervenkrisen geradezu brauchte. Bezeichnenderweise gibt eine zeitgenössische Photographie aus einem der Bildbände des Hoffmann-Verlages Hanfstaengl wieder und zeigt ihn, im engsten Kreis vor Hitler Wagner-Melodien spielend. Aus ausgezeichneter Milieukenntnis kann der Verfasser die ganze Atmosphäre vor und nach dem November-Putsch 1923 zeichnen und erweisen, wie stark die bürgerlichen und reaktionären Kreise Bayerns schon damals mit Hitler rechneten und bei dem oft geplanten „Marsch nach Berlin“ durchaus bereit waren, ihn und seine Bewegung einzusetzen. Der Kreis der ersten Mitkämpfer, vor allem die Bedeutung der oft verzeichneten Persönlichkeit des späteren Stabschefs Ernst Röhm — dessen Lebenstragödie zum spannendsten Abschnitt des Buches gehört —, die ganze Atmosphäre der Parteiführung der zwanziger Jahre, dies alles wird bei Hanfstaengl nicht nur lebendig, sondern auch für den Historiker äußerst fündig geschildert. Besonders wichtig erweist sich aber jener Abschnitt der Erinnerungen, der fern von billiger und jetzt so moderner Analyse des sexuellen Bereichs sich mit Hitler als Mann beschäftigt. Hier kommt Dr. Hanfstaengl auf Grund seiner eigenen Eindrücke, aber auch von Mitteilungen aus der engsten Umgebung Hitlers — wie etwa des Reichsschatzmeisters Schwarz — zu dem Schluß, daß die Beziehung Hitlers zu seiner Nichte Geli Raubal die eigentliche Wende in seinem Leben darstellte. Nicht nur daß die äußerst lebenslustige Geli Hitlers schon frühzeitig vorhandenen seelischen Erstarrungsprozeß mit ersten Ansätzen zu Grausamkeiten und Größenwahn zu lockern verstand — zweifellos war sie ihm auch, zumindest zeitweise, die einzige adäquate Frau, da Hitler nach der Ansicht Hanfstaengls an schweren sexuellen Verirrungen, die wahrscheinlich körperlich bedingt waren, litt. Nach dem bis heute ungeklärten Tod seiner Nichte, der Verfasser deutet die Möglichkeit eines Mordes an, konnte keine der vielen Frauen um Hitler — wobei Eva Braun die wahrscheinlich unbedeutendste war — auf sein innerstes Wesen so Einfluß nehmen wie Geli Raubal.

Ein weiterer sehr wichtiger, allerdings in den bisherigen Quellenausgaben, wie etwa den „Tischgesprächen“, hervortretender Faktor in Hitlers Umgebung wird bei Hanfstaengl besonders deutlich gezeichnet: jene merkwürdige Clique des „ständigen Begleitkommandos“, das sich zum Teil aus geistig völlig bedeutungslosen Haudegen wie Schaub, Dietrich und anderen Adjutantengrößen zusammensetzte, denen Hanf-steangl den bezeichnenden Namen „Chauffeureska“ gibt und zu der auch der spätere allmächtige Martin Bormann gehörte. Diese Gruppe verhinderte, namentlich nach 1933, in zunehmendem Maße Aussprachen unter vier Augen mit dem Reichskanzler, wenn der entsprechende Gesprächspartner der Clique nicht gelegen war.

Hanfstaengls zunehmende Warnungen, vor allem vor der Fehleinschätzung der amerikanischen Politik, brachten ihn allmählich in Ungnade, ebenso wie seine vielfältigen Versuche, gegen die dauernde Radikalisierung mit den Argumenten der Stimmung im Ausland aufzutreten. Der Bruch mit Hitler erfolgte unter dramatischen Umständen, und Hanfstaengl konnte in der Internierung in Großbritannien beziehungsweise in den USA das Ende Hitlers und der von diesem herbeigeführten Katastrophe erleben. Präsident Roosevelt, sein ehemaliger Harvard-Kommilitone, versuchte ihn als Berater einzusetzen, wobei allerdings das weltweite Geschehen des Krieges längst das deutsche Problem zu einem zweitrangigen Faktor in der Sicht der Amerikaner hatte werden lassen.

ZWISCHEN WEISSEM UND BRAUNEM HAUS. Von Ernst Hanfstaengl. Erinnerungen eines politischen Außenseiters. R. Piper & Co. Verlag, München 1970. 402 Seiten, DM 28.—.

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