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Wahlschatten über Westminster

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Wieder einmal fuhr König Georg VI. in ! der irischen Staatskarosse und von den windsorgrauen Schimmeln gezogen über den „Parliament Square", wieder einmal ritt die „Household Cavalry“ mit wehenden Federbüschen von Buckingham Palace nach Westminster. Es galt die Sondersitzung des Parlaments zu eröffnen, eine Tagung, in der die Regierung Attlee von dem kurzgewordenen Mantel der Lords noch ein Stückchen abzuschneiden gedachte.

Kann ein konstitutionelles Detail wie die Vetogewalt des Oberhauses, um die es geht, in einem, mit weltgeschichtlichen Spannungen so überladenen Augenblick wirklich das vordringlichste Problem sein? Mr. Oliver Stanley, der glänzende Taktiker Seiner Majestät Opposition, verlieh solchem Staunen ironischen Ausdruck, in dem er von „solch zweitklassigen Sorgen" sprach „wie etwa die Lage in Berlin, Indien, Palästina und Malaya".

Nun weiß allerdings jedermann in England, daß die Revision des Parlamentsakts vom Jahre 1911 nur der Mantel ist, hinter dem sich die Auseinandersetzung um die Sozialisierung der Stahlindustrie verbirgt, und daß sich daher die Sondersitzung doch mit einer Schicksalsfrage befaßte. Denn nur dann, wenn es der englischen Labourregie- rung gelingt, die gesetzliche Obstruktionsdauer, die dem Oberhaus gegen die eingebrachten Gesetze zur Verfügung steht, termingemäß so zu kürzen, daß innerhalb ihrer Regierungsperiode — die mit nächstem November abläuft — sie auch das Veto der Lords noch überstimmen kann, nur dann sind ihre weitreichenden’ Ver- staatlichungspläne auf dem Stahlsektor durchführbar. Der „Parliament Act 1911“ den die Regierung revidiert sehen möchte, verringerte die Lebensdauer des Unterhauses von sieben auf fünf Jahre, während die Ablehnung einer Gesetzesvorlage durch das Oberhaus, auf den neuen Zyklus abgestimmt, zwei Jahre unanfechtbar gültig bleiben sollte.

Als die Regierung Attlee in den Tagen von Potsdam ans Ruder kam und sich mit bewundernswertem Elan an den Aufbau einer sozialistischen Friedenswirtschaft machte, erschien die Nationalisierung von Kohle, Transport und eines Teiles der Energiewirtschaft die wichtigste Aufgabe. Unter der Last einer administrativen Bürde, wie wenige englische Regierungen sie zu tragen hatten,: wurden die umfangreichen Gesetzesentwürfe durchgepeitscht. Aber trotz dem äußerst forcierten Arbeitstempo, das die Gründlichkeit der parlamentarischen Arbeit manchmal- in Frage zu stellen schien, war es unmöglich, auch noch das Problem der Stahlindustrie vor der Parlamentssession 194849 anzuschneiden. Da der Widerstand der Lords schon beim „Transport Bill" ein sehr fühlbarer war, kann mit Sicherheit angenommen werden, daß er sich bei einer so einschneidenden Maßnahme wie der Nationalisierung der Stahlindustrie — selbst fünf Mitglieder des Regiervngsausschusses für Eisen und Stahl sind vor kurzem aus prinzipiellen Bedenken zurückgetreten — zu einem Veto versteifen wird. Würde dies das Inkrafttreten des Gesetzes um zwei Jahre hinausschieben, könnte ein neugewähltes Abgeordnetenhaus den Beschltfß widerrufen, bei der von der Regierung angestrebten Verkürzung der Vetofrist auf ein Jahr, aber würde die Frage noch von der gegenwärtigen Administration entschieden werden. Dieser Wettlauf mit der Zeit besitzt weittragende Bedeutung. Die Labouristen sind der Ansicht, daß, wenn es noch gelingen sollte, die mächtige und weitverzweigte Eisen- und Stahlindustrie aus dem Gefüge der englischen Privatwirtschaft herauszubrechen, eine Rückkehr zu alten Wirtschaftsformen unmöglich gemacht worden wäre. Man hätte das Elektorat gewissermaßen vor ein fait accompli gestellt und den Sozialismus den Zufälligkeiten der Wahlergebnisse entzogen. Dafür, so argumentierte man im Transport House, lohnt es sich immerhin, von dem altehrwürdigen Grundsatz, Fragen der Tagespolitik nicht mit konstitutionellen Belangen zu verknüpfen, abzuweichen.

Das Gesetz über die Stahlindustrie wird , also zum Kernstück der kommenden Parlamentsarbeit werden. Nur eine Dramatisierung der außenpolitischen Lage könnte Attlee noch dazu bewegen, die Tagesordnung zu verändern, obwohl selbst in den eigenen Reihen Stimmen laut geworden sind, die den Eingriff in den hochentwickelten Industrieorganismus, der, im Gegensatz zu den Kohlengruben, nicht mit dem Odium sozialer Rückständigkeit belastet ist, zu diesem Zeitpunkt als waghalsig bezeichnen.

Um dieses Kernstück herum aber dürften die verschiedenen anderen Fragen gruppiert werden, die sich in dieser oder jener Form auf das Zentralproblem der Reorganisation des britischen Produktionsapparates und auf die Forderung nach einer Erhöhung der britischen Produktionskraft zurückführen lassen. Es beginnt mit der Kohlenerzeugung! Alle Fertigwaren, die die britischen Inseln verlassen, basieren auf dem schwarzen Diamanten, ift jeder Preiskalkulation scheinen die Kosten für die geförderte Tonne auf. Angesichts des Wunsches der Regierung, weitere Industrien zu sozialisieren, ist es natürlich von Interesse, sich mit den Erfahrungen in den bisher verstaatlichten Betrieben, vor allem den Bergwerken, vertraut zu machen.

Aber die bisherige Zeit der Erprobung läßt ein abgewogenes Urteil keinesfalls zu und die „Erfolgsmeldungen“ des „National Coal Boards" haben ebenso bedingten Charakter wie die Klagen der Torypresse über Mißwirtschaft. Bereits das Studium des „Reid-Berichtes“, dessen Schlußfolgerungen der Nationalisierung zugrunde lagen, läßt erkennen, daß die getroffenen Beschlüsse erst nach einer viel längeren Periode und nur an Hand eines Vergleichsmaterials aus anderen Industriestaaten objektiver Wertung unterzogen werden können. Denn weder die absoluten Produktionsziffern noch die kaufmännische Rentabilität allein — während die erste Bilanz des Coal Boards mit einem Defizit abschloß,-wurde im zweiten Wirtschaftsjahr ein Aktivum erzielt — sind entscheidend. In den Jahren 1925 bis 1935 stieg ja auch in den britischen Gruben der Ausstoß pro Mann und Schicht um 30 Prozent, und doch war man hinter dem in die Höhe schnellen der Erzeugung am Kontinent zurückgeblieben! Wenn man aber den rapiden Wandel der Förderungsmethoden heranzieht, der nach dem ersten Weltkrieg in der Ruhr einsetzte, so darf man wieder nicht übersehen, daß damals die Inflation die deutschen Gruben vom Zinsendienst befreite, womit die finanziellen Gegebenheiten andere waren.

Man wird also gut daran tun, im Augenblick nur die bereits sichtbaren Resultate zur Kenntnis zu nehmen. Von 1946 au£ 1947 ist die Erzeugung pro Mann und Schicht wieder um 4 Prozent ahgestiegen, wobei jedoch hinzugefügt werden muß, daß die zwischen 1935 und 1938 erzielte Leistung weder in der Erzeugung noch in der Arbeitsdisziplin erreicht wurde. Die Basis der englischen Produktion scheint sich also nur sehr allmählich zu verbreitern. Während die Sorge um die Kohlenförderung immer im Hintergrund spürbar bleiben muß, hat sich doch in der letzten Zeit das Interesse komplizierteren industriellen Vorgängen zugewandt. Ausgelöst wurde dies durch eine, vor allem von amerikanischer Seite vorgetragene Kritik, der man sich angesichts der finanzpolitischen Abhängigkeit natürlich nicht ohne weiteres verschließen konnte. Daß nur eine entschlossene Anstrengung den Lebensstandard auf ‘ die Dauer sichern könnte, hat die Labourregie- rung frühzeitig erkannt. Wieder verfuhr sie aber bei der Popularisierung dieser Weisheit ohne besonderes Fingerspitzengefühl, und das seither längst verschwundene Plakat „Arbeite mehr, oder hungere“ — bekanntlich hat es eine ähnliche Alternative sogar in Zeiten des Kapitalismus gegeben —, illustrierte deutlich, daß man die Dinge nur bis zu einem gewissen Grad vereinfachen kann. Inzwischen hat sich Sir Staf- ford Cripps bemüht, andere Wege zu weisen, und es ist ihm auch gelungen, das brutale „Entweder-Oder“ des obenerwähnten Plakats insofern zu mildern, als er statt dem Begriff der Mehrarbeit den Begriff der Mehrleistung setzte. In der Tat ist ja der fundamentale Unterschied zwischen der amerikanischen und englischen Produktion nicht darin gelegen, daß der amerikanische Arbeiter schneller, oder besser arbeitet, sondern, daß er in kürzerer Zeit mehr hervorbringt.

Eine in den Vereinigten Staaten erschienene Publikation des Machinery and Allied Products Institute hat sich eingehend mit diesem Phänomen beschäftigt. Ihr zufolge würde sich die Leistung der Radioindustrie in den USA zu der großbritannischen wie 597 :100, in der Automobilerzeügung wie 518 : 100 und in der Stahlindustrie wie 495 :100 verhalten, mit anderen Worten: in diesen Industriezweigen, die in England als modern und gutgeführt angesehen werden, scheint das englische Produkt mit fünfmal soviel Arbeitsst u fr- den belastet als in der USA, was auch die traditionelle britische Qualität nicht ausgleichen kann. Demgegenüber macht man nun in London geltend, daß diese Diskrepanz nicht sosehr der Fortschrittlichkeit der einzelnen Industrien in den USA zuzuschreiben ist als der wirtschaftlich-industriellen Gesamtsituation Englands, die nur sehr allmählich verändert werden kann. Dieses Argument wirkt um so überzeugender, als amerikanische Firmen, die mit eigenen Leuten und Methoden in Großbritannien Niederlassungen gründeten, kaum besser abschnitten als die englischen Betriebe; in vielen Fällen wurden schließlich sogar britische Fachleute herangezogen. Trotzdem können von der USA-Industrie-, wahrscheinlich viele Anregungen ausgehen und der Vorschlag, anglo-amerikanische Produktionsausschüsse einzurichten, mit dem sich das Parlament vor der Vertagung und nicht m bester Laune befaßte, wird wieder aufgegriffen werden müssen. Es wird dabei inter-. essant sein, festzustellen, ob die seltsame Angriffskoalition, Gallacher auf der äußersten Linken und die- Beaverbrook-Könsr- vativen am, rechten Flügel, wieder gegen die bessere Einsicht Sir Staffords anfennen wird.

Viele Beobachter erwarten, .daß gerade die Sozialisten sich in den kommenden Monaten einer gewissen Mäßigung befleißigen werden, um nicht noch mehr die entscheidenden Mittelständsstimmen zu verlieren. In Wirklichkeit verringert sich aber der Mittelstand, wie die Aufschlüsselung des Nationaleinkommens, vor allem das Anwachsen des Lohnkontos von 3,1 auf 3,5 sowie das gleichzeitige Absinken der Gehälter von 1,7 auf 1,6 Millionen Pfund, andeuten, noch immer numerisch. Und die restlose Ausschöpfung der Arbeiterstimmen — man darf auch nicht vergessen, daß in den Slums von West Hartlepool, von Grangetown in Cardiff und Htll- field in Coventry eine Torywählersdjaft zu Hause ist — würde ausreichen, der Labourregierung fünf weitere Jahre zu sichern.

Wird die Labour Party den Wahlsieg durch eine Radikalisierung der Massen und eine Auflösung der letzten Bande patriarchalischer und traditioneller Anhänglichkeit zu gewinnen trachten? Während die bescheidene Noblesse Attlees und die kluge, immer warmherzige Art Bevins, dem Mittektänd einen Sozialismus ohne Ranküne zu verkörpern scheinen, an dem man, ohne Preisgabe der eigenen Vergangenheit teilnehmen könnte, gehen Aneurin Bevan, Shinwell und merkwürdigerweise manchmal auch der rechtsstehende Morrison den Weg der Radikalisierung, der die Herabsetzung aller Werte des Gegners voraussetzt.

Wenn für Aneurin Bevan die Konservativen einfach „Ungeziefer“ sind, so liegt dies auf der Linie des persönlichen Angriffes, den Morrison gegen Churchill vortrug; er warf ihm vor, den Gehalt eines Oppositionsführers zu beziehen, ohne „Entsprechendes" zu leisten. Eine Behauptung, die durch die „Finance Accounts of the United Kingdom, 47,48", die man für einen Schilling 3 Pennies überall erhalt, peinlich widerlegt wird, da Churchill weder den Ruhegehalt eines Ministerpräsidenten, noch die dem Oppositionsführer zustehende Entlohnung von 2000 Pfund bezogen hat. Summen, die, des Interesses halber, mit dem 8500 Pfund Gehalt Viscounts Hyndleys oder Lord Citri- nes, der sozialistischen Großveziere von Kohle und Elektrizität, verglichen seien.

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