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Wallfahrtsbericht eines Rußlandpilgers

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Rußland heute. Von Paul Distelbarth. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 237 Seiten.

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Rußland heute. Von Paul Distelbarth. Rowohlt-Verlag, Hamburg. 237 Seiten.

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Distelbarths Buch ist gut gemeint, doch wegen seiner scheinbaren Unparteilichkeit doppelt gefährlich. Prüfstein für die mangelnde Urteilskraft des Rußlandfahrers aus der deutschen Bundesrepublik ist zunächst, daß er die Lage der Kirchen in der UdSSR lobt, weil sie erstens „allen Streit um Bekenntnisse und Lehrsätze, alle theologischen Haarspaltereien als Scholastik“ abgetan hätten, von „niemandem verlangt, daß er an bestimmte Dogmen glauben müsse“, zweitens, weil „den Kirchen“ der ganze große Apparat christlicher Liebestätigkeit aus der Hand genommen ist. Dagegen hat Distelbarth gar nicht erkannt, daß jenes Zerrbild, das er von den Kirchen im allgemeinen und des Westens im besonderen entwirft, gerade und völlig auf die der Sowjetunion paßt und daß es, ginge es nach dem Wunsche der heutigen kommunistischen Staatslenker, auch auf die der Satellitenstaaten passen würde. Denn wenn heute der Kreml dem Moskauer Patriarchen einen neuen Palast baut, wenn das „Journal“ des Moskauer Patriarchats erscheinen kann und wenn es den noch vorhandenen Gläubigen gestattet ist, Gotteshäuser und Geistliche, ob auch kümmerlich, zu erhalten, so nur deshalb, weil dafür Hierarchie, Klerus und Laien der Orthodoxen Kirche mithelfen, daß dem Volk dessen erbärmliche Lage als herrlich gepriesen wird und daß es sich mit der

Verheißung überschwenglicher Belohnung in einem künftigen Diesseits begnügt. Wenn in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei die „patriotischen“ Priester und die kollaborierenden Laien aus der Intelligenz Orden und Geldzuwendungen bekommen, wenn Bücher und Zeitschriften, Zeitungen in sich katholisch nennenden Verlagen erscheinen dürfen, so nur deshalb, weil diese wie Fettaugen auf einer Suppe obenauf schwimmenden „poissons rouges dans un bénitier , diese roten Goldfische im Weihwasserkessel den marxistischen Inhalt in eine Weihrauchwolke täuschender Frömmigkeit einhüllen und weil die Kirchen, der Klerus dazu beitrggen sollen, daß gearbeitet, tüchtig geerntet und abgejiefert, daß den volksdemokratischen Behörden gehorcht werde. Auch gegen sexuelle Ausschweifungen und gegen Trunksucht ist die Hilfe der Geistlichkeit willkommen. Doch es ist sonnenklar, daß Kirchen, Priester, gläubige Laien von Ansehen, gemäß der Meinung der kommunistischen Machthaber, einzig die Rolle von Hilfsgendarmen besitzen. Es kann ja nicht anders sein; denn der ehrliche Marxist empfindet ja jede Religion als Schwindel und als Torheit.

Im Kapitel über die Lage der Kirchen steht übrigens bei Distelbarth noch ein köstlicher Satz, der wiederum für die Naivität des Verfassers — oder für die von ihm vorausgesetzte seiner Leser — zeugt: „Wir hätten die Möglichkeit, nach Belieben mit Vertretern der Kirche zusammenzutreffen und uns mit ihnen zu unterhalten, ja wir wurden aufgefordert, unsere Wünsche zu äußern. Aus Mangel an Zeit mußte ich darauf verzichten.“ Statt dessen begnügte er sich, den „tiefen Eindruck“ zu erfahren, den auf einen Reisegenossen die „echte Frömmigkeit“ russischer Baptisten gemacht hatte. Der Autor urteilt mithin über ein wesentliches, ja das wesentlichste Kennzeichen des Sowjetreiches, ohne an Ort und Stelle nach Informationen getrachtet zu haben. Hätte er aber auch ein Zusammentreffen mit Vertretern der Kirche gesucht, so wäre ihm von deren erprobten Verbindungsleuten zum Ausland, wie dem Metropoliten Nikolaji von Kruticy oder ähnlichen Säulen des Sowjetregimes kaum etwas anderes denn eitles Lob für das kommunistische Regime geboten worden. Und wäre er zu einigen Andersdenkenden vorge- diungen, sie hätten sich, ohne diese Anekdote zu kennen, an die Lehre der Geschichte aus der Hitler-Zeit gehalten. Eine jüdische Familie antwortet Freunden im Westen, die besorgt um das Schicksal der im Dritten Reich Gebliebenen fragten: Uns geht es ausgezeichnet, Onkel Moriz war anderer Ansicht und hat das Besuchern gesagt, gestern haben wir ihn begraben.

Distelbarth mag sich hundertmal als Nichtparteimann bezeichnen und behaupten, die goldene Mittelstraße zwischen amerikanischer Hetzpropaganda und kommunistischer Panegyrik zu beschreiten, sein Buch, die Eindrücke von einer mehrwöchigen Rußlandreise, die er auf Einladung von sowjetischer Seite im Frühjahr 1953 zusammen mit anderen westdeutschen lind ein paar ostdeutschen Gästen unternommen hat, ist vom günstigen Vorurteil für ein Regime getragen, dessen weltanschauliche und politische Grundansichten er innerlich zumeist bejaht, obgleich er wider einige Methoden des organisierten Kommunismus .Einwände verspürt. Und derlei Sympathie, dann die tiefe Ueberzeugung, von der Möglichkeit, von der Notwendigkeit eines guten Verhältnisses zur Sowjetunion verzerren in diesem Bericht die Dimensionen, so daß die — von keinem Vernünftigen bestrittenen — großartigen Leistungen der Sowjetunion auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet zu sehr gegenüber dem Preis in den Hintergrund treten, den die Russen und den die Welt dafür bezahlen müssen.

Wir erfahren nichts von den Konzentrationslagern, nichts von der tyrannischen Herrschaft der Parteigewaltigen. Die faktische Aufhebung der Freizügigkeit wird von Distelbarth zu Unrecht bestritten, die Unmöglichkeit von Auslandreisen, außer in offi ziellem Auftrag, das Verhindern jeder nicht mit den offiziellen Ansichten konformen Meinungsäußerung werden als Bagatellen abgetan. Die angebliche Sittenreinheit wird durch die eigenen Feldzüge der sowjetischen Presse gegen die Verwahrlosung der Heranwachsenden ad absurdum geführt. Und Lenin hätte es als Beleidigung abgelehnt, „ein reiner Idealist von hoher Geistigkeit“ gerühmt zu werden. Besonders peinlich wirkt es, wie Distelbarth über die den Theorien zum Trotz und im Einklang mit unverrückbaren soziologischen Gesetzen geschehende neue Klassenbildung hinwegvoltigiert; wie er die „Ungleichheit“ in der UdSSR rechtfertigt, von deren Einzelheiten er mit keinem Sterbenswörtchen Näheres erzählt. Natürlich werden auch die furchtbaren Machtkämpfe verschwiegen, die sich ununterbrochen abspielen. Auf die außenpolitischen und weltpolitischen Darlegungen des Verfassers erübrigt es sich, eingehend zu antworten. Sie sind von entwaffnender Kindhaftigkeit.

Trotzdem enthalten sie. einen richtigen Kern: daß man die Sowjetunion als Tatsache hinnehmen und sich mit ihr abfinden muß; daß ein Krieg nur Zerstörung und Unheil brächte und daß alle Anzeichen dafür sprechen, die Sowjetunion werde von sich aus keinen Angriff unternehmen. Nicht aus edler Friedensliebe, wie Distelbarth behauptet, sondern weil sie den Klassenkampf vorzieht. Wertvoll sind eine Fülle Einzelbeobachtungen, die der Autor im sowjetischen Alltag anstellt. Freilich wirken diese nicht immer in dem Sinne, den Distelbarth erstrebt.

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