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War Paris eine Reise wert?

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Was ist das Endergebnis dieser mit so viel Spektakel angekündigten und auch durchgeführten Reise des „roten Zaren“ durch Frankreich? In der „großen Politik“ wird sie keine Folgen von Belang haben: weder an der französischen noch an der russischen Politik wird sich etwas Wesentliches ändern. Das wurde spätestens an dem Tag sichtbar, als der Dickschädel de Gaulle die antideutsche Brandrede des Dickschädels Chruschtschow in Reims auf seine Weise beantwortete — nämlich mit einem Angebot von Basen und Depots an die Bundeswehr. Man hatte es aber schon vorher daran erkennen können, daß der russische Gast seinen Gastgebern recht rüde empfahl, keine A-Bombe mehr explodieren zu lassen — Eisenhower war immerhin so taktvoll, die gleiche Empfehlung durch die wenigstens nominelle Erhebung Frankreichs zu einer „Atommacht“ zu versüßen. Noch bevor die Rundreise zu Ende war, wurde am Horizont der Weltpolitik eine angelsächsisch-russische Einheitsfront in der Atomfrage sichtbar, die in erster Linie gegen zwei Mächte gerichtet ist: gegen Frankreich und

— vergessen wir das nicht I — Rotchina. De Gaulies Reaktion war typisch: noch während des Aufenthaltes von Chruschtschow auf französischem Boden ließ er zum Trotz die zweite französische A-Bombe explodieren. Kein Wunder, daß das diplomatische Ergebnis der Reise nur die üblichen Abkommen über Unwesentlichkeiten sein konnten...

Aber die Außenpolitik ist nicht alles. Welches sind die Ergebnisse außerhalb ihrer hohen und etwas dünnen Sphäre? Beginnen wir bei dem Gast. Es ist sehr bald sichtbar geworden, daß es Chruschtschow auf dieser Reise weniger darauf ankam, de Gaulle für sich zu gewinnen

— es war das französische Volk, das er gewinnen wollte. Es sollte sehen, daß der Herrscher Sowjetrußlands keinen Pferdefuß und keine Teu-felshörner hat, sondern „ein Mensch wie wir“ ist. Chruschtschows Berater hatten jedoch übersehen, daß eine solche Demonstration in Frankreich IgärrPJPnTt Jötig ist DiüSaBzoskche [Bürger mag zwar den Kommunismus nicht. Aber im Gegensatz zu den USA, wo es nie eine nennenswerte Kommunistische Partei gegeben hat, ist er den Anblick von „Cocos“ gewohnt (der direkte und indirekte Einflußbereich der französischen KP erstreckt sich immerhin auf etwa 6 Millionen Franzosen) und kommt also nicht in Versuchung, sie zu dämonisieren. Chruschtschow wird aber auch deshalb nicht sonderlich Terrain gewonnen haben, weil seine etwas klobige Jovialität (samt den nicht immer witzigen Sprichwörtern) wohl besser zur amerikanischen Mentalität paßt als zum feiner organisierten Franzosen. Und da die Franzosen ein stolzes Volk sind, dürfte ihnen auch das ständige Auftrumpfen Chruschtschows etwas auf die Nerven gegangen sein, der fast vor jedem französischen Produkt, das man ihm vorführte, einen Lobgesang auf das noch viel bessere russische Parallelprodukt anstimmte. Kurzum: wenn man von den beiden aktiven Minderheiten, der kommunistischen und der antikommunistischen, absieht, schlug der Besuch beim französischen Volk wohl kaum so ein, wie Chruschtschow es sich erhofft hatte. Die überwiegende Mehrheit der Franzosen verhielt sich reserviert — eine Reserviertheit notabene, innerhalb deren es alle Abstufungen gab, von höflicher Interessiertheit bis zu jener totalen Gleichgültigkeit gegenüber aller Politik, die dem ausländischen Beobachter immer wieder an den französischen Massen als bedrohliches Symptom auffällt.

Gehören die französischen Kommunisten zu den Gewinnern? Für die überzeugten Parteimitglieder wird der Besuch ihres obersten Chefs natürlich ein unvergeßliches Erlebnis sein (solange Chruschtschow nicht durch eine Wendung der Geschichte aus den kommunistischen Annalen gestrichen wird). Ein Schlag für die Partei war jedoch, daß der Besuch Chruschtschows sichtbar machte, wie klein dieser Kern der „Überzeugten“ ist. Gewiß, einige Tausend auf einem Platz zusammengedrängte Kommunisten, die rote Fähnchen schwenken und ihre Parolen skandieren, machen Eindruck. Wenn aber schon die Nachbarstraßen leer sind, so merkt man, in welchem Mißverhältnis dieser kleine Kern zu den Millionen steht, die bei Wahlen bloß aus Protest kommunistisch wählen.

Wie hat sich das gaullistische Regime aus der Affäre gezogen? Für dieses Regime stehen Aktiv- und Passivposten einander gegenüber. Zu den ersteren gehört zunächst einmal, daß das französische Volk als Ganzes sich keineswegs dem Erlöser aus dem Osten in die Arme geworfen hat, und dann war für die Regierung ja auch ein besonderer Vorzug der Reise der mit ihr verbundene innenpolitische Waffenstillstand, der einige unangenehme Probleme, insbesondere den Algerienkrieg und die Gärung in der Bauernschaft, für ein paar Tage aus dem Bewußtsein rückte. Vor allem aber hat Chruschtschows Besuch de Gaulle einen ganz konkreten Prestigegewinn eingebracht, der sich für Frankreich bei den kommenden internationalen Verhandlungen bezahlt machen kann. Nicht nur hat einer der drei mächtigsten Männer der Welt de Gaulle seine Aufwartung gemacht. Es konnte auch den ärgsten Kritiker de Gaulies nicht unbeeindruckt lassen, mit welcher Gelassenheit de Gaulle sich auch nicht um ein Jota von seiner Linie abbringen ließ.

Als Negativposten für das gaullistische Regime muß vor allem verzeichnet werden, daß die Organisation des Besuches zu einer Art Generalprobe eines Polizeistaates wurde, wie ihn auch das superzentralistische Frankreich mit all seiner Verwaltungswillkür und seinem Mangel an solider bürgerlicher Freiheitstradition etwa im angelsächsisch - skandinavischen Sinne bisher, Gott sei Dank, noch nicht gekannt hat. Daß die Verschickung der Ostflüchtlinge nach Korsika in ihrer Durchführung im Gegensatz zur freiheitlichen Tradition Frankeichs war, kann man von vielen Franzosen hören. Und zu welchen Einbrüchen in bisher gewahrte Rechte der Franzosen selbst die übertriebenen Sicherheitsvorkehrungen geführt haben, ist bekannt. Besonders erschreckend war auch, mit welcher Leichtigkeit der Polizeiapparat umschalten konnte und zum Beschützer einer Bürgerkriegsfraktion wurde, die er morgen wieder verfolgen wird. Es ist anzunehmen, daß dieses erstaunliche Schauspiel die anarchische Abwehrstellung des Durchschnittsfranzosen gegen alles“'w£s“ „Staat“ heißt, nur noch verstärken wird.

Immerhin, für die diesmaligen Opfer des Polizeiapparats, die aktivistischen Antikommunisten auf der äußersten Rechten, kam diese Machtentfaltung der Sicherheitsorgane vielleicht gar nicht so ungelegen: die Chruschtschow-Reise konnte so für sie nicht wie für die Kommunisten zur „Stunde der Wahrheit“ werden. Niemand kann genau abschätzen, wie stark zur Zeit dieser Rechtsextremismus ist, da seine Kader zu einem erheblichen Teil in Untersuchungshaft oder in Sicherheitsverwahrung saßen und im übrigen alle Demonstrationsversuche von dieser Seite durch das größte Polizeiaufgebot der französischen Geschichte im Keime erstickt wurden.

Die Armee, zur Zeit mehr denn je die stärkste Macht in Frankreich, hat sich trotz des sie beherrschenden Antikommunismus weise zurückgehalten und so ihre Schiedsrichterstellung noch verstärkt. Innerhalb des katholischen Lagers gab es aber eine „Kurzschlußlösung“. Die Ausgangsstellung der katholischen Kirche war stark: sie hatte dem Klerus wie auch den Gläubigen empfohlen, an keinen Feierlichkeiten für den Gast teilzunehmen, sich aber auch auf keine Demonstration einzulassen. Ein Teil der Hierarchie — teils in Frankreich, teils außerhalb — ließ sich jedoch zu den bekannten ungeschickten Maßnahmen gegen den Kanonikus Kir verleiten, den doch gewiß niemand mit dem Klerus als ganzen identifiziert hätte. Das wird noch seine innenpolitischen Folgen haben. Einen Vorgeschmack davon bekam man schon in der Stadt Dijon, deren Bürgermeister Kir ist: nach Urteil der meisten, die die ganze Reise Chruschtschows mitmachten, wurde der russische Gast in keiner anderen französischen Stadt von der Bevölkerung so gefeiert wie in dem sonst als durch und durch katholisch und sogar als „reaktionär“ geltenden Dijon. Die Hierarchie hätte wissen sollen, wie sauer auch der gutkatholische Franzose reagiert, wenn er — ob zu Recht oder zu Unrecht — glaubt, daß „Rom“ sich in die französische Politik einmische. Der „gallikanische“ Affekt ist keineswegs ausgestorben.

Schließen wir diese Revue mit einem anderen „Staat im Staate“, der sich weit mehr noch als die übrigen für Fankreich in persona hält: dem sogenannten „T o u t - P a r i s“. Mit diesem Namen bezeichnet man jene „Creme“ von Paris, etwa zwei- bis dreitausend Köpfe stark, die überall „dabei“ ist, wo man „dabei sein muß“, und die von Ausländern zu oft mit dem wirklichen Frankreich verwechselt wird. Diese stark international durchsetzte Gesellschaft ist ständig auf der Suche nach einem neuen Spielzeug, um ihrer Langeweile Herr zu werden. Nun, diese Gesellschaft konnte sich nicht genug tun darin, Nikita und Nina nachzulaufen, und wir können uns den grimmigen Spott Chruschtschows bei diesem Schauspiel gut vorstellen. Vielleicht hat ihn der Anblick dieser in den neuesten Dior-Modellen sich herandrängenden Damen zu dem stolzen Spruch provoziert, er und die Seinen seien die „legitimen Kinder der Geschichte“. Leider hat er zum „Tout-Paris“ keines seiner beliebten Sprichwörter von sich gegeben. Wir möchten eines vorschlagen: „Der letzte Reiz ist der Hustenreiz!“

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