6663213-1960_19_05.jpg
Digital In Arbeit

Warnung aus der Schweiz

Werbung
Werbung
Werbung

Es spricht sich auch in Österreich langsam herum: Die EWG ist ein politisches Objekt ersten Ranges, mit ihr geht es um eine sehr bestimmte „Neuordnung Europas“, die von vielen Betroffenen mit Sorge betrachtet wird. Wenn die EWG den vorliegenden Plänen gemäß Wirklichkeit würde, würde Europa eine zentralistische Zwangsordnung auferlegt. Die Ausführungen des bedeutenden Berner Staatsrechtlers Prof. Z b i n d e n in der bekannt deutschfreundlichen „Neuen Züricher Zeitung“, verdienen deshalb in Österreich besondere Beachtung.

„Die Furche“

Je mehr sich der Konflikt zwischen EWG und EFTA, den Sechs und den Sieben, zuspitzt und die Fronten sich vertiefen, je bedrohlicher eine unheilvolle Spaltung Westeuropas infolgedessen als Möglichkeit erscheint, um so besorgter fragen sich viele, ob und warum diese unglückselige Spaltung nicht vermieden werden konnte. Es fehlt auch bei uns nicht an vereinzelten Stimmen, die bedauern, daß sich unser Land von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fernhielt, und die fragen, weshalb wir uns nicht schon früher bei der Schaffung des Gemeinsamen Marktes der EWG einschalteten, statt abseits zu stehen und nun zusammen mit England, den skandinavischen Staaten und Österreich eine Art von Schutzbündnis und Konkurrenzunternehmen zu schaffen. Und schnell sind manche bereit, uns erneut einen sturen Isolationismus vorzuwerfen, der sich hinter Schlagworten wie „Neutralität“ und „Solidarität“ recht inkonsequent zu verschanzen suche.

Wer so überlegt, hat wohl in den meisten Fällen allzu einseitig nur die Wirtschaftsaspekte und Nützlichkeitserwägungen im Auge. Er übersieht, daß ganz andere Gründe uns nahelegten und nahelegen mußten, der Frage einer Verbindung mit der Gemeinschaft der Sechs mit Vorsicht und Zurückhaltung zu begegnen. Handelte es sich allein um wirtschaftliche und zollpolitische Fragen, so wäre ein Anschluß an die EWG vielleicht unter gewissen Voraussetzungen möglich und in manchem vorteilhaft gewesen. Wer aber die Hintergründe und Fernziele des Integrationsexperiments der EWG näher kennt, war und ist sich klar darüber, daß es hier letztlich um ganz anderes und um weit mehr geht. Und gerade dieses „Mehr“ mußte uns stutzig machen und vorsichtig stimmen, am meisten diejenigen, die eine europäische Integration allein auf föderalistischer Grundlage für richtig und dem Wesen unseres Kontinents entsprechend halten.

Denn in der EWG kristallisiert sich eine Konzeption, der ganz andere Ziele und Vorstellungen und eine andere Mentalität zugrunde liegen, als mit einem echten Föderalismus vereinbar und ihm dienlich ist. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die meisten in der EWG vereinigten Länder, Frankreich voran, ausgesprochen zentralistisch verwaltete Staaten sind. Die Befürchtungen, die der Schreibende schon vor mehr als 15 Jahren in der Diskussion um Europa aussprach: daß nämlich eine europäische Einigung, die von zentralistisch gerichteten Staaten getragen werde, trotz aller Beteuerung föderalistischer Ziele Gefahr laufe, in Wirklichkeit in einem ausgesprochen zen-tralistischen, wenn nicht gar dirigistischen Sinne aufgebaut zu werden, haben sich nur als allzu begründet erwiesen. Um so notwendiger erschien und erscheint deshalb das Gegengewicht jener Staaten, deren Struktur sich von unten her, aus der Gemeindefreiheit und Autonomie der Teilglieder, gestaltet. Daß sie sich nicht innerhalb einer gemeinsamen Organisation betätigen und auswirken konnten, wie es europäischem Denken entsprochen hätte, ist das Verhängnis. Denn die in der EWG zutage tretende Richtung fußt auf Gedanken, die nicht nur dem föderalistischen Ideal der Schweiz widersprechen, sondern — was weit entscheidender ist — die auch die Idee der europäischen Föderation in eine unerwünschte Bahn zu treiben drohen. Schon die kaum verhüllten Hegemonieansprüche Frankreichs, die in der EWG eine treibende und fast dominierende Kraft darstellen und die auch Partnern in der EWG wie Deutschland nicht wenig zu schaffen machen, stellen ein Wiederaufleben von Denkweisen dar, die sich mit einer europäischen Föderation schlechterdings nicht vereinbaren lassen und die man gerne als endgültig überholt betrachtet hätte. Hier treten Anschauungen und Strebungen zutage, die nichts weniger bedeuten als einen bedauerlichen Rückfall in nationale Prestigevorstellungen, die sich ein bedrängtes und in seiner Ganzheit bedrohtes Europa heute nicht mehr leisten kann, und die sich wie ein Giftkeim in den Kern der europäischen Gemeinschaft einzunisten beginnen. Der Geistesart des Präsidenten der EWG-Kommission scheint echtes föderalistisches Empfinden eher fernzuliegen; sein betont formalistisches Juristendenken scheint nur die zu schaffende Einheit Europas zu sehen, von ihr bis zur starren

Intransigenz besessen zu sein, weshalb ihm die Fähigkeit abgeht, den inneren, psychologischen und historischen Gesetzmäßigkeiten europäischen Wachstums gebührend Rechnung zu tragen. Die Theorie vergewaltigt dabei in fataler Weise die Realität und die natürlichen Entwicklungsgrundlagen Europas.

So wird hier ein Europa geplant, das ungeachtet aller Betonung des Föderalismus im staatsrechtlichen Aufbau in Wirklichkeit zen-tralistische und dirigistische Züge trägt und eine Dynamik entfesseln möchte, die Europa von dem wegführt, was seinem Wesen und seiner Struktur angemessen ist. Daß die Amerikaner für diese Voraussetzungen nicht übermäßig viel Verständnis haben, ist begreiflich und verzeihlich, obwohl gerade ihre Geschichte sie über die vitale Bedeutung der föderalistischen Grundlagen für die Demokratie belehren könnte. Die Vereinigten Staaten sehen nur das politisch-wirtschaftliche Ziel einer wünschbaren Überwindung des europäischen Partikularismus und Nationalismus, einer Großraumplanung für Produktion und Handel, wobei sie sich gewiß in Übereinstimmung mit vielen Befürwortern der europäischen Einigung befinden. Aber es kommt hier nicht nur auf das Ziel, es kommt auch auf den Weg, auf das Wie an, auf die Form, in der die Realisierung erfolgt. Daß es just ein Wiederaufleben eines stark nationalistisch gefärbten Geistes ist, das vor allem in Frankreich der EWG zu Gevatter steht, und daß die Amerikaner diese Tendenz durch ihre Zustimmung stützen helfen, entbehrt freilich nicht der Ironie. Denn eben dieses Erbe aus dem 19. Jahrhundert möchten die Amerikaner gern und mit Recht ausgetilgt sehen.

Dieser Geist zentralaistischen Organisierens verbunden mit nationalen Hegemoniegedanken, ist uns und den andern heute in der EFTA zusammengeschlossenen Staaten fremd. Wir müßten eines der Grundprinzipien unseres Staates aufgeben, wollten wir uns an dieser Integration beteiligen, nur um damit wirtschaftliche Vorteile zu erringen. Es wäre eine kurzsichtige Politik, und dies nicht bloß mit Rücksicht auf unsere Neutralität, sondern vor allem auch im Hinblick auf unsere Solidarität mit einem werdenden föderalistischen Europa, somit um dessen Verwirklichung selbst willen. Nicht also unsertwegen in erster Linie, sondern um eines sich treu bleibenden, lebensstarken Europa willen können wir den Zielen der EWG nicht folgen. Weder England noch die Schweiz noch auch die skandinavischen Staaten, in denen trotz den zentralistischen Neigungen der sozialistischen Regierungen immer noch ein starker Geist alter Gemeindetradition und autonomer Gemeindefreiheiten fortlebt, können sich einer europäischen Integration anschließen, die letztlich einem Überstaat mit entsprechender Verwaltung von oben her zustrebt. Die Warnungen, die Alexis de Tocqueville schon vor 130 Jahren aussprach, als er die Gefahren der Zentralisierung, der Schwächung der autonomen kleinen Zellen und der Gemeindefreiheit aufzeigte, haben nichts an Geltung verloren; sie erhalten vielmehr in der heutigen Situation auf europäischer Ebene eine erhöhte, unheimliche Aktualität. Aber Tocqueville ist in Frankreich wohl berühmt und vielbewundert, aber um so weniger beherzigt worden. (Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sein Werk, das seit mehr als sechzig Jahren vergriffen gewesen war, heute mit amerikanischer Unterstützung in Paris in einer Gesamtausgabe neu zu erscheinen begonnen hat. Und anscheinend haben auch die Politiker in den Vereinigten Staaten die Lehren des großen Deuters Amerikas vergessen.)

Nur aus einem echten föderalistischen Geiste heraus, niemals von zentralistischen Planungsund Lenkungsideen her, kann ein widerstandskräftiges und zukunftsstarkes Europa erstehen. Das ist der Hauptgrund, weshalb unser Land, mit England und den übrigen der Sieben zusammen, sich mit der heute der EWG zugrunde liegenden und von ihr verfolgten Konzeption nicht befreunden kann. Gerade weil es nicht nur um wirtschaftliche, sondern um wesentlichere, um fundamentale Werte geht, die für Europalebens-entscheidend sind, kann unser Land nicht in den Schnellzug der EWG einsteigen. Daß bei England überdies die Bindung ans Commonwealth mitspielt, ist natürlich, rechtfertigt aber nicht den erneut erhobenen Vorwurf, es hintertreibe die europäische Einigung. Man sollte den Realismus und die Weitsicht der Briten nicht unterschätzen. Wer etwa an den politischwirtschaftlichen Gesprächen von Wilton Park, an denen Vertreter unseres Landes seit fünfzehn Jahren regelmäßig mitwirken, teilgenommen hat, weiß, wie wenig der Vorwurf einer antieuropäischen Einstellung das heutige politische Denken maßgebender Engländer trifft. Nur wehrt sich auch England aus seiner demokratischen Struktur heraus, die unserer eigenen nahesteht, gegen jene Verwirklichung des Europagedankens, die schließlich einer Art „Nation Europa“ unter zentralistischer Verwaltung und Bürokratie zutreiben würde.

Europa ist groß und stark geworden durch die Vielfalt seiner Kräfte, durch seine reichen regionalen Traditionen der Kultur wie der Arbeit, denen es auch seinen hohen Stand der Qualitätsleistung und der feinsten Differenzierung verdankt, die jedem Großraumplanen von vornherein Grenzen setzt. Nur wenn diese Kräfte, die auch weiterhin, und fortan erst recht, die Eigenart und Stärke seiner Wirtschaft werden bestimmen müssen, erhalten bleiben, nur wenn zugleich auch alle überholten nationalen Hegemonietriebe daraus endgültig verbannt sind, kann die Einigung Europas auch eine Stärkung Europas, kulturell wie wirtschaftlich, bringen. Und mir ein solches Europa, das sein Eigenwesen bewahrt und sich nicht zur Imitation völlig anders strukturierter Kontinente verführen läßt, kann auch innerhalb der Völkergemeinschaft der Welt ein wertvolles, in vielem ergänzendes Glied bilden und fruchtbare politische, wirtschaftliche und geistige Impulse immer wieder von sich ausgehen lassen. Wie die EWG schon jetzt diese Stärke und Einheit mehr gefährdet als fördert, indem sie durch Starrheit, Unnachgiebigkeit und Übereilung vitale Lebensgesetze und Lebensformen des Kontinents mißachtet, so würde ein konsequentes, einseitiges Weiterschreiten in dieser Richtung alles andere als die Grundlagen eines gesunden und geeinten Europas sichern können. Das ist der tiefere, der eigentliche Grund, weshalb unser Land im Verein mit den anderen Mitgliedern der EFTA diesen Weg nicht mitgehen will und kann. Denn jener Weg brächte uns nicht die Integration und Einigung, die in ihrer Struktur dem Wesen des Europäischen gemäß sein könnte. Was aber wäre mit einem Gesamteuropa gewonnen, das seine eigenen Wachstums- und Lebensgesetze verleugnet und das, wenn auch in der Theorie und gar in der Verfassung föderalistisch, in der praktischen Realisierung einem gleichmacherischen Zentralismus und einer seelenlosen Mammutbürokratie anheimfiele?

Darin liegt der eigentliche Kern des Gegensatzes, der heute noch unheilvoll die EWG- und EFTA-Länder scheidet. Und weil es weit mehr als ein Gegensatz nur wirtschaftlicher oder zollpolitischer Art, weil es eine Kluft letztlich ideeller Art ist, muß die Einigung auf der Basis einer Besinnung auf das Wesen des Europäischen gesucht werden. Es ist zu hoffen, daß die Liebe zum gemeinsamen europäischen Vaterland die heute drohende Gefahren noch rechtzeitig zu bannen und zu einer Gesamtlösung zu führen vermag, die einer wirklichen Föderation und nicht ihrem Zerrbild den Weg frei macht. Weil auch unser Land ein solches Europa bejaht, hat es zusammen mit andern Ländern in der EFTA eine Integrationsform geschaffen, die der Eigenart und dem Eigenwert ihrer Glieder Rechnung trägt. Ob ein Brückenschlag zwischen EFTA und EWG gelingt, das hängt letztlich davon ab, ob allseitig die Notwendigkeit der Vermeidung einer Spaltung Europas in zwei sich auseinanderlebende Blöcke erkannt wird und diese Einsicht die Oberhand über das Denken in den Kategorien der Machtpolitik und der Führungsansprüche gewinnt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung