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Warum der Weltkrieg nicht im Herbst 1944 endete...

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Am 29. August 1944 war die amerikanische DritteArmee unter General George S. Patton jr. in vollem Vormarsch durch Frankreich gegen die deutsche Grenze. Ihre Spitzen standen an der Mosel. „Es war zu jener Zeit sonnenklar, daß uns kein ernsthafter Gegner gegenüberstand, es wäre denn, wir ließen uns durch imaginäre Feinde aufhalten“ — 60 charakterisiert General Patton in seinem lebendig geschriebenen und wahrhaft spannunggeladenen Erinnerungswerk „Der Krieg, wie ich ihn erlebte“ (Alfred-Scherz-Verlag, Bern), die Lage vor der Front seiner Streitkräfte. Da wurde dem Armeekommandanten plötzlich gemeldet, daß der für den 30. August vorgesehene Nachschub von 140.000 Gallonen 'Benzin nicht eingetroffen sei. Die napoleonischen Heere hätte das nicht angefochten, sie lebten vom Lande, bezogen aus ihm ihre Nahrung wie den „Treibstoff“ der Wagenkolonnen für Artillerie, Reiterei und Trainkolonnen. Der voll-motorisierte Mechanismus der Zeit kam aber wie mit einem Zauberschlag zum Erliegen. Der temperamentvolle und hochbegabte Führer der Dritten Armee verzehrte sich vor Ungeduld: aber die vorgesehenen Angriffe auf Commercy und Verdun mußten entfallen: das Oberkommando hatte den ganzen verfügbaren Nachschub an Treibstoff und Munition nach Nordfrankreich geworfen. Patton befahl einem Korps, seihe Panzer weiterfahren zu lassen, bis sie steckenblieben und dann zu Fuß weiterzumarschieren, um wenigstens die Maasübergänge in die Hand zu bekommen. „Im Abschnitt Worms konnten wir an den Rhein vorstoßen“, notiert der enttäuschte General. So blieb es bloß bei taktischen Positionsverbesserungen — der Stoß, der den Westwall von rückwärts aufgebrochen hätte, unterblieb. Was war die Ursache, daß Pattons Siegeslauf gestoppt werden mußte?

Seltsamerweise findet sich in dem Erinnerungsbuch des Generals keine Andeutung, daß ihm seine Vorgesetzten, Eisenhower und Bradley, zureichende Aufklärung gegeben hätten. Im Gegenteil! Patton tastet im dunkeln und vermutet einen Querschuß des am Nordflügel fechtenden britischen Feldmarschalls Montgomery. Er hat bis zu seinem frühen Tode diese vermeintliche Zurücksetzung nicht ganz überwunden.

Daß das alliierte Oberkommando keine Wahl hatte, weil es hier um die Gutmachung des einzigen großen Fehlers der Invasionsplanung ging, geht erst aus dem militärisch höchst aufschlußreichen Werk des bekannten englischen Militärfachmannes, General J. F. C. Füller, „Der zweite Weltkrieg“ (Humboldt-Verlag, Wien), hervor.

Am 5. August hatte Eisenhower den ursprünglichen Invasionsplan in einem Punkte ändern müssen, der sich wenige Wochen später beim Wettlauf der Alliierten durch Frankreich als entscheidendes Hindernis erwies. Die angeordnete Abkehr von den Häfen der Bretagne warf den ganzen Nachschub über den Haufen. Bs mangelte an Transportflugzeugen! Als Patton sich der Seine näherte, zeigte sich bereits, daß die Versorgung durch Lastwagen ganz unzureichend war. Es mußten, wie Füller berichtet, Flugzeuge zu Nachschubzwecken aus strategischen und taktischen Luftformationen herausgenommen werden, und der Bedarf stieg mit der zunehmenden Ausdehnung der Nachschublinien von Tag zu Tag. Als Patton Paris erreicht hatte, mußte dem linken alliierten Flügel (Montgomery) unbedingt, die Priorität „P. O. L.“ (petrol, oil, lubricants) zuerkannt werden, um ihn instand zu setzen,so rasch als möglich Antwerpen zu nehmen und die Scheidemündung aufzubrechen. Aber dieser Bereich war fest in der Hand der Deutschen, und der britische Vormarsch gewann daher nur langsam an Boden. Schon damals mußten drei amerikanische Divisionen in der Nähe von Cherbourg stillgelegt und ihre Transportmittel den Frontverbänden zugeteilt werden. Tag und Nacht rollten wohl die Lastwagenzüge über die Nachschubstraßen, doch das genügte nicht. „Mit jeder Meile des Vormarsches wurde die Versorgung kritischer“, und „schon sehr bald nach Beginn der Operationen wurde es klar, daß eine Lücke in der Brennstoffversorgung eintreten würde. In letzter Minute wurde der Plan gefaßt, weniger wichtige Dinge, wie Reservekleidungsstücke, zurückzulassen und dafür Brennstoff zu laden. Darüber hinaus wurden die Brennstofflastwagen mit 1300 Gallonen statt mit der normalen Anzahl von 650 Gallonen beladen. Diese Art von Letzter - Minute - Planung ist nicht der richtige Weg, jene lebenswichtigen administrativen Aufgaben im schnellbeweglichen Panzerkrieg zu organisieren“ (Füller).

Wie entstand aber diese Lücke? Uber der taktischen und administrativen Ausnützung der Luftmacht hatte man ihre administrativen Bedürfnisse übersehen. Man hatte nicht erkannt, daß das freibewegliche Flugzeug das ideale Nachschubmittel war. Hätte General Eisenhower über 2000 Vier-Tonnen-Tanker verfügt, schreibt Füller, so hätte- der Vormarsch westlich des Rheins nicht unterbrochen werden müssen. Entlang der ganzen anglo-amerikanischen Front wurde, mit den ölreserven der halben Welt im Hintergrund, der Brennstoffnachschub im September aus Mangel an genügenden Lufttransportmitteln für die beiden westlichen Alliierten ein beinahe ebenso entscheidender Faktor wie für die Deutschen, welche seit August auf eine immer mehr schwindende synthetische Treibstoffproduktion beschränkt waren.

Indessen fanden die zurückflutenden deutschen Heere wieder Halt, ihre Kampfmoral festigte sich, die Unterbrechung des Vormarsches durch Treibstoffmangel um einen Monat verzögerte das Kriegsende um ein halbes Jahr. Vor dem Stoß nach Mitteldeutschland kam nun das mörderische Ringen am Westwall und die letzte verzweifelte Rund-stedt-Offensive. Unzählige Opfer wären beiden kämpfenden Parteien erspart geblieben. Es kann hier aber auch nicht ganz darauf vergessen werden, daß in eben jenem halben Jahr erst auch in Wien die Oper, die Albertina, das Burgtheater und mit ihnen viele andere historische Baulichkeiten jene Bombenschäden davontrugen, die uns so schmerzlich getroffen haben. Das Nach-kriegs-Mitteleuropa hätte ein wesentlich anderes Gesicht bekommen.

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