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„Warum müssen wir jeden Tag solche Mordsbilder anschauen?"

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Nicht nur in Krimis, sondern auch in TV-Nachrichtensendungen werden uns täglich zum Abendessen Gewaltszenen serviert Wer denkt schon daran, daß Kinder darauf mit Angst und Ekel reagieren?

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Nicht nur in Krimis, sondern auch in TV-Nachrichtensendungen werden uns täglich zum Abendessen Gewaltszenen serviert Wer denkt schon daran, daß Kinder darauf mit Angst und Ekel reagieren?

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Kinder, die Informationssendungen im Fernsehen anschauen, kritisieren vor allem drei Dinge:

■ Es werden Grausamkeiten zu oft und viel zu deutlich gezeigt („Informationsgehalt gleich null", sagen die Kinder selbst. „Information ist, daß man weiß, worum es geht und nicht, daß man da Leute sieht, denen Arme und Beine abgehackt wurden");

■ der Umgang mit grausamen Bildern ist häufig unwürdig („Die sich das anschauen, die sitzen im Lehnstuhl und haben's warm und essen dabei noch, das ist ja irgendwie abartig");

■ Gewaltdarstellungen mit Anspruch auf Realitätsbezug lösen primär Angst und Ekel aus. Wird hingegen über Leiden nur berichtet, ohne drastische Bilddarstellungen, überwiegt das Mitleid.

Das sind die drei wichtigsten Ergebnisse einer Studie, die in Hamburg und in München durchgeführt wurde. Es sollte geklärt werden, wie Kinder mit realen Gewaltdarstellungen in TV-Nachrichten und Reality-TV umgehen. Die Untersuchung wurde nun als Buch publiziert: „,Mordsbil-der': Kinder und Fernsehinformation" (Vistas Verlag, Berlin 1995).

Der Titel „Mordsbilder" ist die Erfindung eines Achtjährigen. Die Autoren Helga Theunert und Bernd Schorb schreiben im Vorwort: „Als ,Mordsbilder' bezeichnet er, was ihn in den Nachrichten schreckt: Die Bilder des Krieges, Tote, Verletzte, Wunden und Blutlachen, eben Bilder von Mord.

,Mordsbilder' bieten die Informationsangebote des Fernsehens den Kindern aber noch in einem anderen Sinn, nämlich als faszinierende Bilder: Die aufregenden, weil außergewöhnlichen Aufnahmen von Katastrophen und Unglücksfällen oder die spektakulären Darstellungen von Verbrechen, die im Infotainment und in fiktionaler Inszenierung im Reali-ty-TV gezeigt werden. ,Mordsbilder' steht schließlich für das Element der Fernsehinformation, das alle Kinder der von uns untersuchten Altersgruppen tangiert: Drastische Darstellungen sind für sie unverdaulich, in jedem Kontext und in jeder Sendung."

101 Kinder wurden von den Wissenschaftern des Instituts „Jugend Film Fernsehen" befragt. Ihr Alter lag zwischen acht und 13 Jahren.

Das Studiendesign ist interessant: Es versucht, wissenschaftlichen und kindlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Man spielte den Kindern zehn TV-Sequenzen vor, die unterschiedlich stark ausgeprägte Gewaltszenen zeigten. Anschließend konnten die Kinder ihre jeweilige Bewertung abgeben, und zwar in Form von kleinen Kärtchen, auf denen eine Comic-Figur (Calvin) in verschiedenen Gemütszuständen zu sehen war: Spannung, Ekel, Angst und Mitleid. Dazu kamen Tiefeninterviews mit ausgewählten Kindern und Eltern.

Wesentlich ist bei dieser Untersuchung, daß es den Forschern um die Beaktion auf Gewalt in Informationssendungen ging. Nämlich

■ Nachrichten: Das sind aktuelle, sachliche und umfassende Informationen über Tatsachen, Ereignisse und Meinungen, die neu und von allgemeiner Bedeutung sind. In Osterreich wäre das die ZIB.

■Aktuelle Informationsmagazine: Sie thematisieren politisch relevantes Geschehen und allgemein interessierende gesellschaftliche Fragen, bieten aber weitergehende Information als die Nachrichten sowie auch kontroverse Meinungen. Österreichisches Modell: Beport.

■ Reality-TV: Hier geht es um nachgestellte oder dokumentierte Realereignisse, meist ohne relevanten gesellschaftlichen Bezug. Häufig werden gewalthafte Einzelschicksale präsentiert. Beispiele sind RTL: „Notruf", ZDF: „Aktenzeichen XY", SAT 1: „Wahre Wunder".

Es handelt sich also um Gewaltdarstellungen, die - bildlich gesprochen - den genuinen Blutgeschmack des Wirklichen haben. Gerade dieser „Blutgeschmack" aber ist es, der die fernsehenden Kinder verschreckt. Er macht ihnen Angst, die sich als „Ekel" äußert. Es gibt, laut dieser Untersuchung, für Kinder im Fernsehen nichts Abstoßenderes als das Zeigen von Blut.

„Kinder werden von Gewaltdarstellungen in der Fernsehinformation in erster Linie emotional angerührt", schreiben die Forscher. „Das Gefühl von Ekel überlagert die gesamte Wahrnehmung. Drastische blutige Bilder sind für Kinder unserer Altersgruppe absolut unverdaulich - in jedem Kontext, in jedem Genre und oft über lange Zeit hinweg."

Dieser Zusammenhang ist ein fataler Faktor für den seelischen Umgang mit dem Gesehenen, für die spontane „Herzensreaktion". Denn während die natürlichste Beaktion von Kindern auf das Zeigen von Gewalt - und das heißt natürlich auch von Opfern - Mitleid ist, wird diese Regung des Mitgefühls brutal überlagert durch die ebenso spontane, aber im Augenblick viel stärkere Empfindung von Ekel und Angst.

Was eine solche Koppelung (Psychologen würden vielleicht von „Konditionierung" sprechen) von Mitleid und Ekel für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen bedeutet, ist zweifellos individuell stark unterschiedlich. Man geht aber sicher nicht fehl anzunehmen, daß der Jugendliche und der Erwachsene mit dieser früh „erlernten" Verbindung zweier starker Gefühle meistens seine Probleme haben wird.

Die Autoren der Studie bestätigen das allerdings bereits für die Reaktionen der von ihnen untersuchten Kinder: „Auffällig ist, daß beim Reality-TV das Mitgefühl der Kinder insgesamt in den Hintergrund tritt. Die Art und Weise, wie in diesem Genre die Leiden der Opfer präsentiert werden, setzt die kindliche Empathie offenbar weitgehend außer Kraft."

Das heißt also: Sensationsberichte und das Verletzen .von Tabus und Intimschranken in Informationssendungen des Fernsehens stellen keine Bereicherung des Wissens dar. Auch keine unabdingbare Ergänzung der Berichterstattung im Dienste des Sehers. Sie sind vielmehr eine seelische Belastung, die kaum verkraftet werden kann und ausgerechnet jenes Gefühl überlagert, das laut vielen TV-Programmverantwortlichen primär angesprochen werden soll: Das Mitleid - das gilt wenigstens für Kinder als TV-Konsumenten...

Eine weitere zentrale Aussage der Studie - und zugleich die bedeutendste aus den erhobenen Fakten abzuleitende Forderung - ist: Wie Kinder Fernsehinformation verkraften, hängt ganz entscheidend vom Elternhaus ab. „Bei keinem anderen Fernsehgenre ist die Bedeutung der Familie so deutlich und wichtig", betonen die Wissenschafter.

Der Einfluß des Elternhauses auf die Wahl des Fernseh- und Videoprogramms der Kinder ist je nach Genre unterschiedlich stark: Von kaum existent bis bestimmend.

Bei den fiktionalen Genres, also bei Spielfilmen oder Kinderserien, üben die Eltern kaum Einfluß aus. Diese Art von TV-Produktionen wird von Eltern und Kindern unterschiedlich stark und intensiv genutzt, für die Kinder bildet sich so etwas wie eine geschützte Programmier- oder TV-Konsumnische heraus, wo sie mehr oder weniger selbst bestimmen, was sie sehen.

Anders im Informationsbereich. Hier prägt die Weltsicht der Eltern, deren Vorlieben, Meinungen und Urteile die Kinder in ganz besonderem Maß. Daher wird die Verarbeitungsfähigkeit von belastenden Bildern und Szenen hier auch stark von den Eltern und ihrem Verhalten mitbeeinflußt.

Wesentlich sind zwei Faktoren: Das intellektuelle Anregungsmilieu in der Familie sowie die Zuwendung der Eltern zu ihren Kindern.

■ Eltern, die Fernsehinformation reflektiert aufnehmen, die nicht unkritisch zusehen, sondern eine Auswahl treffen und das Gesehene auch kommentieren, helfen ihren Kindern dabei, selbst eine kritische, distanzierte Haltung zum Informationsangebot einzunehmen. Solche Kinder kritisieren plakativ gewalttätige Darstellungen, vor allem Infotainment im Sinne von „Betroffenheits-Shows" und Beality-TV, also plakative Darstellungen von realen Alltags-Dramen.

■ Eltern, die Information via TV-Schirm eher unreflektiert ansehen, Gewaltdarstellungen aber ablehnen (häufiges Argument: „Dafür sind die Kinder noch nicht reif!"), schotten die Kinder ab, ohne ihnen eine psychische und geistige Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt im TV zu ermöglichen. Sie verstärken bei ihnen daher eine ängstliche Weltsicht.

■Eltern, die TV-Information generell unkritisch aufnehmen und auch die Darstellung von Gewalt im Fernsehen gleichgültig hinnehmen, verstärken den Glauben der Kinder, alles auf dem TV-Schirm Abgebildete sei real. Diese Kinder stehen der Fernsehinformation, aber auch der realen Welt, gleichermaßen hilflos gegenüber.

In der Studie heißt es über solche Eltern: „Sie nehmen die angebotenen Pseudoinformationen an und erliegen dem Schein, das Infotainment und das Reality-TV bildeten die reale Welt ab. Diese Haltung geben sie an ihre Kinder weiter, was diesen die Möglichkeit versperrt, die Realität mit einem weiteren Blick zu erfassen und deren mediale Vermittlung zu diskriminieren. Ihr Gesichtsfeld wird eingeengt auf Bedrohungen und Gefahren. Die in unserer Altersgruppe ohnehin vorhandenen Unsicherheiten und Ängste gegenüber einer undurchschaubaren Wirklichkeit werden bei diesen Kindern - vermittelt durch ihre Eltern - über das Fernsehen zusätzlich verstärkt."

Wobei noch dazukommt, daß TV-Nachrichten typischerweise „unverständlich sind und durch ihre Bilder schrecken". Das heißt, auch sprachlich wird wenig dazugetan, das Gesehene besser verarbeiten zu helfen. Die Nachrichtensprache ist meist für Kinder unverständlich. Typisch für die Wirkung von Infotainment und Reality-TV wiederum ist, daß sie „faszinieren, erschrecken und desinformie-ren". Durch dramaturgische Aufbereitung wird überdies Spannung erzeugt, eine Art TV-Digestiv: Seelisch eigentlich Unverdauliches wird verlockend und konsumierbar.

Die Autoren leiten aus ihren Erkenntnissen einige Forderungen ab:

■ Gerade im Bereich der Information besteht eine große Verpflichtung zu mehr Sorgfalt.

■ Für Kinder hat man eine besondere Verantwortung zu tragen. Information sollte verständlich aufbereitet sein. Außerdem sollten auch die Sendungen, die sich hauptsächlich an Erwachsene wenden (und die aber trotzdem oft von Kindern gesehen werden, weil in vielen Familien das Ansehen von Informationssendungen zum Ritual gehört) Qualitäts-Standards einhalten.

Das sind in erster Linie ethische Richtlinien, wie etwa die Achtung vor der Würde des Menschen, auf die die Opfer von Gewalt ebenso ein Recht haben wie das Publikum.

Der Autor ist

freier Journalist

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