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Was ist Demokratie?

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WESEN UND WANDLUNG DER DIKTATUREN. Von Julius Deutsch. Humboldt-Verlag, München-Inning. 2. Auflage, 1963. 285 Seiten. Preis 17.80 DM.

Der bald achtzigjährige sozialdemokratische Politiker Julius Deutsch, dessen Publikationen einen maßgebenden Anteil am sozialistischen Schrifttum haben, gehört zu den konsequenten Vertretern seiner Partei. Er begann als Austromarxist und blieb es bis heute; er schwenkte nie zu den Kommunisten ab und gab auch den Nationalsozialisten kein „freudiges Ja“. Die Betonung liegt bei ihm auf dem Demokraten, und die Machtergreifung durch die Sozialisten wäre ihm auf dem demokratischen Wege sicher erwünscht gewesen. Das hinderte ihn aber nicht, auf den Barrikaden zu stehen, wenn es zum offenen Kampf kam, und er fragte nicht viel nach den Begleitumständen.

Die Erfahrungen eines halben Jahrhunderts befähigen den Autor zu umfangreichen politischen Betrachtungen von hoher Warte; im vorliegenden Buch werden die Diktaturen der Faschisten, Kommunisten und Nationalsozialisten in allen Erdteilen unter die Lupe genommen. In sehr lesenswerten Ausführungen wird mit Recht hervorgehoben, daß die Diktaturen einander keineswegs gleichen, denn „hinter fast jedem größeren politischen Ereignis in einem Land wirken politische Kräfte anderer Länder mit“. Deshalb ist vom „Wandel“ die Rede, der auch den Kommunismus erfaßt hat.

Deutsch greift bis auf den Diktator Tiberius Sempronius Gracchus (133 n. Chr.) zurück; er hätte natürlich auch bis 5000 vor Christi Geburt zurückgehen können. Nach der klaren politischen Einstellung des Verfassers ist es wohl begreiflich, daß alle Diktatoren, auch Cäsar, Cromwell, Napoleon, Franco und Salazar, eine schlechte Note erhalten und daß alle Methoden der Diktaturen gegeißelt werden, obwohl manche dieser Methoden auch bei anderen Systemen aufscheinen. Übermäßig viele Splitter werden in den Augen der Diktatoren gesehen, doch bleibt dies unerheblich, wenn es der Leser mit Wilhelm Bauer hält: „Hauptsache dabei ist, daß wir von Anbeginn über die Weltanschauung des Verfassers nicht im Zweifel gelassen werden.“

Wenn auch der Verfasser zugesteht, daß es unter den Diktaturen sehr wesentliche Unterschiede gibt, wird es doch überraschen, den Bundesstaat Österreich von 1934 bis 1938 unter den schlecht charakterisierten Diktaturen zu finden. Gewiß ist es in der Ersten Republik, auch vor 1933, nicht immer sehr demokratisch zugegangen; schon 1920 wurde die Regie-rung durch einen sozialdemokratischen Staatssekretär gesprengt, der auf gesetzwidrigem Wege eine Dienstvorschrift erlassen hatte, und am Ende stand der Rücktritt der Nationalratspräsidenten unter Führung des Dr. Renner, am 4. März 1933, der einen verfassungslosen Zustand mit allen seinen Folgen herbeigeführt hat. Auch das war nicht demokratisch. Dazwischen lag der im Buch nicht vermerkte, mehr als undemokratische 15. Juli 1927. Der Ständestaat von 1934 bis 1938 war jedenfalls keine Diktatur im Sinne des Sprachgebrauchs, das heißt terroristisch, blutrünstig, gewissenlos; er machte schlecht und recht gut, was die drei Nationalratspräsidenten angerichtet hatten.

Für Deutsch ist die Geschichte der Ersten Republik die Geschichte der bösen Heimwehr. Zugegeben, dieselbe bestand nicht nur aus frommen Lämmchen, doch ihr gegenüber stand von 1920 bis 1933 die alle Regierungen ungemein aggresiv bekämpfende sozialdemokratische Opposition. „Es ist müßig, in solchen Fällen zu sagen, die oder jene Partei trage die Schuld.“ (S. 102) Wir fügen bei, daß man die Geschichte der Ersten Republik noch sehr lange nicht wird hieb- und stichfest schreiben können.

Sehr vermißt der Leser eine Erklärung für das Entstehen der europäischen Diktaturen im 20. Jarhundert. Es ist kaum zu bestreiten, daß gewöhnlich dort Diktaturen errichtet wurden, wo eine entartete Demokratie ein politisches und wirtschaftliches Trümmerfeld geschaffen hatte. Es wird doch niemand glauben, daß in einem wohlgeordneten Staat, wo Gesetz Gesetz und Urteil Urteil bleiben, Stimmzettelmassen für die Diktatur eintreten oder revolutionäre Gruppen einen Staatsstreich unternehmen. Indirekt kommt diese Auffassung auch beim Autor zum Ausdruck, der den guten Rat gibt, man pflege die echte Demokratie, sonst schlägt diese ins Böse um… Deutsch zeigt gerade in dieser Hinsicht ein großartiges Einfühlungsvermögen, und vielleicht zum wertvollsten Teil seines Buches gehört der Exkurs — unter Anlehnung an die Schriften von F. Klenner, J. Braunthal und E. Glaser — über die Entdemokratisierung der Gewerkschaften und Kammern. Seine Parteigenossen werden darüber nicht erbaut sein; wir wollen unsererseits ‘ikh ießlfchen Mut anerkennen, das Kind bei pinem, blamen zu nennen: „Es ist aussichtslos, vom Staat Demokratie zu fordern, wenn man sie nicht in den eigenen Reihen übt… Gerade die Besten unter den Mitgliedern betrachten mit Sorge das Entstehen un- demokratischer Keime… Tendenzen dieser Art entwickeln sich auch innerhalb der Demokratie und in ihren verstaatlichten Betrieben .. . Der bürokratische Apparat der Arbeiterbewegung entfremdet sich den Mitgliedern . .. Die Funktionäre und ihre Familien nehmen eine Sonderstellung ein… Sachkunde kommt erst in zweiter Linie… Die Opposition wird an die Wand gedrückt… Natürlich ist der .Apparat’ durchaus nicht abgeneigt, Warnungen zu beherzigen; er wird sie entweder entrüstet zurückweisen oder — was wahrscheinlicher ist — totschweigen…

Wer mit diesem in Konflikt kommt, dem wird der Lebensfaden abgeschnitten… Die Arbeiterbewegung kann ihre historische Aufgabe der Abwehr jeder Gewaltherrschaft nur erfüllen, wenn sie selbst in ihrem Kern demokratisch ist, das heißt, wenn sie die Unabhängigkeit und Freiheit des einzelnen als höchstes Gut wertet.“ Mehrere dieser Erkenntnisse reichen in die Vergangenheit der eigenen Partei, andere sehen in die unmittelbare Gegenwart. Mögen sie nicht bloß Worte bleiben!

Das Buch endet mit dem konventionellen Bekenntnis zum Weltstaat als Heilmittel gegen eine Weltkatastrophe. Viel mehr interessiert aber den Leser das Bekenntnis zur Demokratie. Der Autor stellt die Diktatur zur Demokratie wie Unkultur zur Kultur, sagt aber, mit Ausnahme der Kritik des Apparates, nicht überall ausdrücklich, was die wirkliche Demokratie eigentlich ist. Darauf muß sich der Leser die Antwort aus einzelnen Hinweisen konstruieren. Deutsch beruft sich unter anderem auf Kant: „Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik dem Recht angepaßt werden.“ Das wäre bereits ein wesentlicher Grundsatz der Demokratie.

Von den Rüstungen wird gesagt: „Die faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen haben zum zweiten Weltkrieg geführt… Diktatur ist Kriegsgefahr; Demokratie ist Sicherung des Friedens.“ Der Historiker sieht diesen Fall allerdings anders, daß nämlich die Demokratie sowohl im ersten wie auch im zweiten Weltkrieg (England und Amerika) infolge Vernachlässigung ihrer Friedensrüstung zu Kriegsbeginn militärisch gelähmt waren, daß sie erst während des Krieges sehr mühsam aufrüsten mußten und dadurch die lange und verlustreiche Kriegsdauer verschuldet haben. Eine ungerüstete Demokratie bleibt eine Gefahr für den Frieden und ein Hindernis, entstehende Kriege rasch zu beenden. Es wäre noch vieles anzuführen, was in aller Welt für eine reine Demokratie als unentbehrlich gilt: Man sehe weniger auf Wahlmanöver als auf produktive Arbeit; man gehe nicht Kompromisse ein um den Preis der eigenen geistigen Substanz; man achte die Majorität auch dann, wenn sie bloß 51 Prozent beträgt; man übe keine verschleierte Zensur aus; man schaffe keine Ausnahmegesetze; man vermeide den Kampf auf religiösem Gebiet und schütze Familie und Jugend in moralischer Beziehung und das Publikum vor lebensgefährlichen Streiks; man huldige nicht der Wohlfahrt auf Kosten der Landesverteidigung; man wende das „Totschweigen“ nicht auf die vaterländische Überlieferung an; man betrachte schließlich den eigenen Staat nicht bloß als Durchhaus zu einer den Staat aufhebenden Veränderung.

So führt das Buch des Julius Deutsch, je weiter man sich mit seinem Inhalt vertraut macht, vom Thema der Diktatur zur Frage, was ist Demokratie, nebenbei auch, wer ist heute „Arbeiter“?. In unseren Tagen muß die Nomenklatur in vielen Fällen völlig geändert werden, sonst spricht man aneinander vorbei und verwirrt die Dinge noch mehr als sie es schon sind. Man findet zwar in „Wesen und Wandlung der Diktaturen“ nicht auf alles die wünschenswerte Antwort, doch sehr verdienstvolle Wege zur Klärung von entscheidenden Grundfragen unseres Lebens.

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