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Was von den sechziger Jahren übrigbleibt

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Wenige Epochen haben so umfangreiche Schlagwörterverzeichnisse, politische Katechismen und Phrasen hinterlassen wie die eben zu Ende gegangenen sechziger Jahre. Die „Neue Linke“ und die Reformatoren in der Kirche mußten ganze Lexika herausbringen, um die „neue Sprache“ einer „neuen Wahrheit“ verständlich zu machen. In den Hochwässern der Phrasen schwimmt eine, die ihre fatale Bedeutung behalten wird: Eskalation, was so viel bedeutet wie Ubersteigerung, Verschärfung, Forcierung, Ausweitung. Eskalation des Krieges in Vietnam und Palästina, Eskalation der Phrasen und Programme, Eskalation der Ideen eines beschleunigten Fortschritts usw.

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Wenige Epochen haben so umfangreiche Schlagwörterverzeichnisse, politische Katechismen und Phrasen hinterlassen wie die eben zu Ende gegangenen sechziger Jahre. Die „Neue Linke“ und die Reformatoren in der Kirche mußten ganze Lexika herausbringen, um die „neue Sprache“ einer „neuen Wahrheit“ verständlich zu machen. In den Hochwässern der Phrasen schwimmt eine, die ihre fatale Bedeutung behalten wird: Eskalation, was so viel bedeutet wie Ubersteigerung, Verschärfung, Forcierung, Ausweitung. Eskalation des Krieges in Vietnam und Palästina, Eskalation der Phrasen und Programme, Eskalation der Ideen eines beschleunigten Fortschritts usw.

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Wer erinnert sich noch der Inauguration des „Jahrzehnts der Jugend“, damals 1960, als die Wahl des 43jäh-rigen John Fitzgerald Kennedy die unübersehbare Startlinie des Marsches an den Rand der Revolution markierte? Zum erstenmal in der Geschichte der USA wurde ein so junger Kandidat in das höchste Amt der Weltmacht Nr. 1 gewählt Was Kennedy als Ruf voranging, das bestand weniger aus intellektuellen Leistungen, politischen Taten, originellen Programmen und dergleichen; am Ende der Epoche der great old men aus der Zeit vor 1918, Edsen-hower, Churchill, Adenauer, brachte Kennedy einen Befähigungsnachweis mit, der gefragt war: Er war jung.

Das Jahrzehnt der Jugend

Sonderbar: Dieses „Jahrzehnt der Vernunft“ hatte einen Auftakt, der sich nicht an die Vernunft wandte, sondern an die Vorstellungskraft der Menschen. Als Kennedy im Kollo-seum von Los Angeles vor 80.000 Menschen die Annahme seiner Nominierung bekanntgab, sprach er nicht vom Fortschritt der Technik, der Wirtschaft und der Politik, sondern von einer neuen Grenze; vor der Sicherheit, Bequemlichkeit und „manchmal sogar das Leben“ zurückbleiben würden und hinter der sich die sechziger Jahre, ihre unbekannten Möglichkeiten und Wege, ihre Hoffnungen und Drohungen erhoben. Norman Mailer (Jahrgang 1923), nachher einer der ersten Enttäuschten der Kennedy-Ära, spürte in dieser Stunde die Frage in sich, ob die amerikanische Nation „mutig genug sein wird, den romantischen Traum ihrer selbst zu akzeptieren und für... dieses Spiegelbild ihres Unbewußten zu stimmen“. Er sollte recht bekommen; allerdings ging der Traum in einer unvorstellbaren Weise in Erfüllung. Hinter dem neuen Typ, den Kennedy in so sympathischer Manier repräsentierte, tauchten die Scharen der Hippies und Gammler, der Provos und Kommunarden auf und überschwemmten mit ihrem Neo-Nihilismus und -Anarchismus die Szene. Der Konflikt des Beatniks mit dem Spießer, Albtraum Kennedys, wurde Wirklichkeit.

Kennedy selbst hat noch zu seinen Lebzeiten aus dem „Jahrzehnt der Jugend“ ein „Jahrzehnt des beschleunigten Fortschritts“ gemacht.

Nicht im Sinne der Erwartungen Norman Mailers, sondern nach den Programmen der Technokraten. Als die Neue Linke und andere Vorhuten der Revolution bereits neue Ideologien prägten, wollte Kennedy noch seine Nation und die Welt aus dem Mahlstrom der Ideologien und Streitigkeiten der Vergangenheiten reißen. Bei der Rochade von der Vergangenheit in die Zukunft fiel die Gegenwart glatt durch; die Zukunftserwartung übersteigerte sich in einen „visionären Szientismus“, in einen Eroberungszug in die Zukunft, die für viele schon begonnen hatte. Noch einmal tauchte das Risiko des Wagnisses an einer neuen Grenze auf: Das Industriesystem, das nicht auf austauschbaren Ideologien, sondern auf allgemein gülti-

gen Daten der mathematisierenden Wissenschaften beruhen soll, schien in der UdSSR ebenso anwendbar wie in den USA. Und in der Tat: De Gaulle alliierte sich mit den Technokraten; ebenso Franco und Tito, und in der CSSR begannen Technokraten, die sich Kommunisten und Sozialisten, das Experiment des Industriesystems unter dem atemlosen Staunen des Restes der Welt zu exemplifizieren. Aber das war schon lange nach dem Tode Kennedys und der Verabschiedung Chruschtschows; in der CSSR siegte etwas, was der österreichische Kommunist Ernst Fischer „Panzerkommunismus“

nannte.

Zerstörung des Vorhandenen

Für.die Prager Studenten waren die Nachwirkungen der Revolution von 1917 nicht mehr revolutionär genug; und noch weniger war in den Vorstellungen der amerikanischen Campus-Jugend die amerikanische Revolution des 18. Jahrhunderts eine Revolution ein für allemal. In den Schwärmen der Beat-Generation tauchen die Revolutionäre auf Lebenszeit auf, die Berufsrevolutionäre, die ungeniert die Revenuen der Wohlstandsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat beziehen. Sie genießen und denunzieren 2 zugleich dieses „Leben in Arbeit, Hetze und zer-

streuendem Genuß“ als unnatürlich und sinnlos. Anders als die genußtüchtigen Tatzeugen der primitiven Managergesellschaft der fünfziger Jahre verharrt dieser Typ aber nicht in ängstlicher Erwartung des Infarkts; ihn interessiert auch nicht die „Planung der Zukunft“, die angeblich schon begonnen hat; er plant überhaupt nicht, denn Nihilisten beginnen zuerst einmal mit der Zerstörung des Vorhandenen; wer damit beschäftigt ist, hat keine Zeit, eine Theorie für die Zukunft auszudenken (Cohn-Bendit). Die Philosophie Jean-Paul Sartres, Praxis anstatt Theorie, erfährt eine bisher unvorstellbare und mörderische Ausweitung. Über einer 1945 bis auf die Fundamente zerstörten europäischen Landschaft, in der Millionen Tote der letzten Kriege und Bürgerkriege noch kein Grab fanden, gellt der Schrei „Revolution“ gegen die Hochbauten des Wiederaufbaues.

Sprung nach vorne

Geläufige und lehrmeinungsmäßige Begriffe und Methoden der Revolution reichen vielen nicht mehr aus. Katholische Theologen, die über eine „Theologie der Revolution“ und über eine „Revolutionäre Theologie“ meditieren wie weiland andere über Nation und Sozialismus, geraten in die Nachbarschaft derer, die von

„Christentum ohne Religion“ sprechen oder von der „Explosion der Kirche“, das heißt von ihrer Zerstörung.

Wenn Mao Tse-tung alle Zeitlang einen „Sprung nach vorne“ versucht, leiden es die europäischen Adepten des Neo-Marxismus nicht, darauf zu verzichten, aus der Gegenwart auszubrechen und das „Gegebene unaufhörlich im Interesse der Zukunft zu wandeln“. Das aber ist ein Muster, das auch kleinkariert zu haben ist: Es schadet einem Kommunalpolitiker von heute nicht allzuviel, wenn er in seinem Ressort mit dem Verkehrschaos der Großstadt schlecht fertig wird; indes wäre sein politisches Image ruiniert, wüßte er in endlosen Forumsdiskussionen nicht vom Fleck weg die Daten der Verkehrssituation des Jahres 2000 zu nennen.

Changez les dames

Das Ende des Jahrzehnts erlebt eine Polonaise mit Changez les dames. Der demokratische Sozialismus wechselt mit Erfolg in die traditionellen Weidegründe des Kleinbürgertums und denunziert da und dort das klassische Modell der parlamentarischen Demokratie; die Kirche sieht sich unversehens in einer Avantgarde von gestern, die ihr drängend nahelegt, den Nachholunterricht in Demokratisierung und sozialem Progreß eiligst hinter sich zu bringen. Zu oft aber sind zu wenige da, die sich hinreichend Zeit und Muße nehmen, um mit den Aufgaben der Gegenwart hic et nunc fertig zu werden. Schon brechen neuerdings gewisse Typen „nach vorne durch“; sie wollen im Sprunggalopp über die siebziger Jahre hinwegkommen, die ihnen offenbar nicht das bringen, was sie sich in ihrer Zukunftsorientiertheit erwartet haben. Und die Spießer, ehrlich erschreckt von derben Provokationen und ungemütlichen Experimenten mit der Macht, schicken sich an, in die Bunker der Reaktion abzurücken. Es sind viele Reaktionäre unterwegs, die sich als „konservativ“ ausweisen, und nicht wenige Revolutionäre, die nur schrecklich aufgeregt sind.

Die sechziger Jahre haben zwischen Revolution und Reaktion dem konservativen Prinzip wenig Raum gelassen. Für den Neo-Marxismus ist Stalin konservativ gewesen und ebenso der Papst. Die Neue Linke, die Enthusiasten für Mao und Che Guevara, die linksradikalen Studentenbünde und andere brachten es nicht fertig, die etablierte Ordnung ernst zu nehmen; aber anscheinend haben auch die Wächter, die die Wächter zu bewachen hätten, die Revolution am Rande nicht ernstgenommen.

Das Vakuum zwischen Revolution und Reaktion, diese Verlassenschaft der sechziger Jahre, ist eine Herausforderung des konservativen Prinzips; man wird diese Verlassenschaft redressieren müssen, um ein Wort aus der alten Reserve zu gebrauchen.

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