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Was wird aus Berlin?

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Seit dem Siege John F. Kennedys über Richard Nixon hat sich der bundesrepublikanischen Politiker und Diplomaten eine von Woche zu Woche steigende Nervosität bemächtigt. Unter der Prominenz hat anscheinend ein einziger Mann die Ruhe bewahrt: der 8 5jährige Bundeskanzler, der überlegen und kaltblütig seine Fäden spinnt und dabei nur eines über sieht: daß man im Massenzeitalter zwar zur Geheimdiplomatie zurückkehren kann, nicht aber darauf verzichten darf, sich für seine Außenpolitik der Zustimmung eines nennenswerten Teiles der Nation jederzeit zu versichern, und daß man dafür sorgen muß, daß die eigene Diplomatie wenigstens stillhält und nicht wie Penelope, was tagsüber gewebt wurde, nachts wieder auftrennt. Die Frage, die in der Öffentlichkeit am lebhaftesten diskutiert wird, ist die nach der Zukunft Berlins. Jedes Wort Kennedys wird hin und her gedreht, noch mehr aber wird sein Schweigen in besorgten Kommentaren interpretiert. Der Präsident hat in der Botschaft an den Kongreß kein Wort über Berlin und die deutsche Frage gesagt; er hat in der Pressekonferenz auf Anfrage versichert, daß sich an der Haltung der USA nichts geändert habe und daß man keinem Versuch kommunistischer Gewaltanwendung weichen werde. Er soll zu Gaitskell, dem ein

Unter der Erde von Ost nach West

zigen europäischen Politiker, den er bisher empfangen hat, davon gesprochen haben, daß die Lage in Berlin nicht immer so bleiben könne, wie sie bisher war.

Gerade die von Gaitskell kolportierte Wendung hat in Deutschland besorgte und kritische Äußerungen ausgelöst. Dabei spricht sie doch nur eine Binsenwahrheit aus. Niemand, der von Politik und geschichtlicher Entwicklung eine einigermaßen zulängliche Vorstellung hat, wird annehmen können, eine aus zahlreichen Zufällen, zielbewußten Aktionen, leichtsinnigen Versäumnissen und zeitbedingten Umständen geschaffene Situation könne versteinert und verewigt werden. Wollen denn die Deutschen, daß in Berlin alles bleibt, wie es ist? Gerade von der Bundesrepublik her ist das Provisorische des gegenwärtigen Berlin- Status dauernd betont worden, nicht nur in Worten, und zwar oft in recht unüberlegten, pathetischen und unpassenden Reden, sondern auch durch Taten und deutliche Gesten. Die kostspieligen und demonstrativen Tagungen von Bundestag und Bundesrat, die Einberufung der Bundesversammlung nach Berlin, die häufigen Besuche von Bundesministern und des Bundespräsidenten, die jedesmal betonen, daß Berlin untrennbar mit der Bundesrepublik verbunden sei, daß es die „Reichshauptstadt“ bleibe und daß man in Bonn nur auf Wartegebühr sitze, bis die Übersiedlung nach Berlin möglich sein werde, all diese Demonstrationen laufen doch darauf hinaus, daß eine neue Lösung gefunden werden müsse. Bekanntlich fallen solche neuen Lösungen oft ganz anders aus, als ihre Urheber wünschten. Jedenfalls dürften die deutschen Politiker nicht

annehmen, daß Chruschtschow stillhalten werde, wenn sie an dem Status quo in Berlin rütteln. Pläne wie der, man solle das Reichstagsgebäude wiederaufbauen (mit „Dringlichkeitsstufe 1“!), in Berlin einen gesamtdeutschen Sender errichten, zentrale Behörden und Bundesministerien nach Berlin verlegen oder gar den Bundespräsidenten einen Großteil des Jahres im Schloß Bellevue in West-Berlin residieren lassen, mußten einen so temperamentvollen und phantasiebegabten Staatsmann wie Nikita Sergejewitsch anregen, zu der Diskussion über die Neuordnung in Berlin auch seinen Beitrag zu leisten. Wenn man ihm jede Woche unter die Nase rieb, daß Berlin ein Symbol, eine Prestigefrage und daß ės für ihn tabu sei, reizte man ihn, aus der Abstellung dieses Zustandes ebenfalls einen Prestigefall zu machen.

Traum der Bismarckianer

Das vielleicht Dümmste, was man sich westlich des Eisernen Vorhangs leistete, war jedoch der Trugschluß, man könne offiziell den Status quo fordern und die Hilfe der Verbündeten, vor allem natürlich der USA, dafür in Anspruch nehmen, zugleich aber im Salamischnittverfahren und ohne die Verbündeten zu fragen, den Status Berlins mehr und mehr in den

eines zur Bundesrepublik gehörenden Landes umwandeln — etwa, indem man den Berliner Hospitanten im Bundestag das volle Stimmrecht gab, wie es bei der Wahl des Bundespräsidenten dann tatsächlich geschehen ist. Damit verärgerte man die Bundesgenossen, lieferte man Chruschtschow willkommene Argumente und vertiefte die Kluft zwischen West- und Ost- Berlin. Das nächste Ziel hätte doch sein müssen, die drei Westsektoren mit dem Ostsektor wieder zu vereinigen oder die beiden politisch getrennten, strukturell nicht voneinander zu trennenden Stadtteile einander wenigstens näher zu bringen. Gewiß hat man auch Vorschläge in dieser Richtung gemacht und wiederholt von West-Berlin aus Verhandlungen angeboten. Aber man hat hier, wie in der Politik der Bonner Regierung, keine Linie verfolgt, kein großes politisches Konzept gehabt. Nur vereinzelt und an weder maßgebender noch überhaupt beachteter Stelle tauchte gelegentlich in der Presse der Gedanke auf, man solle doch zunächst die „Wiedervereinigung“ Berlins fordern, sie zum Probefall und Muster der „Wiedervereinigung“ Deutschlands machen, die sowjetischen Vorschläge einer Konföderation der „beiden Deutschland“ damit parieren, daß man die Erprobung der Methode in Berlin fordere, und solle auf diese Weise versuchen: erstens das Los der Ost-Berliner zu mildem, zweitens die Anomalie der Teilung einer soziologisch und historisch einheitlichen Großstadt nach Möglichkeit zu beheben und drittens für Berlin eine größere, auf neue Verträge und neue Garantien gegründete Sicherheit zu schaffen, die nicht durch jeden Kurs-

wechsel der amerikanischen Politik oder jede Repressalie des Ostens gefährdet werden könne. Bis zum September 1958 hätten die Bundesrepublik und ihre Verbündeten die Chance gehabt, von sich aus eine Neuordnung im Raum Groß-Berlin vorzuschlagen, Chruschtschow das Gesetz des Handelns zu entreißen und damit zu verhindern, daß er ihnen seine Marschroute aufzwinge. Nichts dergleichen geschah. Die deutsche Opposition forderte unermüdlich und laut- hdls eine „aktive Wiedervereinigungspolitik“, sträubte sich aber mit Händen und Füßen dagegen, daß man an jener Stelle anfange, wo einzig und allein noch eine „offene Lage“ und damit Raum zum Manövrieren vorhanden war. Die Mehrheit des Bundestages erging sich in feierlichen Schwüren, alles tun zu wollen, um Berlin wieder zur Reichshauptstadt zu machen, aber sie tat nichts, den Status quo zu ändern, der sich ohne Unterbrechung im Zustand des labilen Gleichgewichtes befand. Um weiterzukommen, hätte man natürlich nicht nur etwas fordern, sondern auch etwas anbieten müssen. Forderte man die Wiederherstellung Groß-Berlins und internationale, auch von der UdSSR anzuerkennende und zu leistende Garantien, dann mußte man die staatsrechtliche Trennung West-Berlins von Bonn anbieten, grundsätzlich den Status der Freien Stadt akzeptieren und zu Verhandlungen über die Ablösung der amerikanisch-britisch-französischen Besatzung durch eine internationale Truppe bereit sein. Als Chruschtschow im Herbst 1958 ultimativ die Umwandlung West-Berlins in eine Freie Stadt forderte, wäre der letzte Moment gewesen, rasch und mit Klarheit einen Gegenvorschlag in dem skizzierten Sinne zu machen. Statt dessen ließ man sich auf Verschleppungstaktik ein, weigerte sich konstant, die auch von den Bundesgenossen gewünschten „konstruktiven Gegenvorschläge“ zu machen und erreichte damit, daß zwar „Qhrusctschgws .Ultjpjqpp ÄmlK von Anfang an nicht ganz ernst gemeint haben konnte, weil Ultimaten nicht auf sechs Monate befristet werden) einfror, die Genfer Außenministerkonferenz jedoch mit starken Einbußen für die Bundesrepublik endete, deren Beobachter mit denen Pankows am gleichen Tisch saßen, wenn auch, nach einer Verhandlungskomödie, an den abgebogenen „Flügeln“ des Tisches.

Daß Berlin, solange es eine Inselstadt ist, nicht die Hauptstadt der Bundesrepublik sein kann, hätten auch die hartnäckigsten Konservatoren des Bismarckschen Reichsgedankens merken müssen. Könnte die Bundesrepublik von einer Enklave aus regiert werden? Daß die Verlegung von Ämtern und womöglich des Parlaments mit der Regierung in diese Enklave nur damit enden könnte, daß Chruschtschow und Ulbricht eines Tages in einer „volksecht durchgespielten“ Aktion — die natürlich ein „spontaner Aufstand“ sein würde — Bundestag und Bundesregierung ausheben und nach Pankow entführen, um sie entweder als Geiseln zu behalten oder als blamierte Opfer des Husarenstreiches wieder zurückzusenden, lag auf der Hand. Ernsthafte Politiker, vor allem Adenauer selbst, haben denn auch gebremst, wenn der nationalliberale Nachtrab der Paulskirche und des Bismarck-Reiches, der von Ollenhauer über Dehler und Mende bis zu Gersten- maier reicht - die Übersiedlung in die Mausefalle allzu eifrig propagierten.

Freie Stadt Groß-Berlin

Für Amerika ist Berlin zweifellos eine Prestigefrage, ein neuralgischer Punkt, von dem aus, wenn er verwundet würde, Ansehen, Macht und Selbstbewußtsein der Supermacht USA im Augenblick wie eine angebrochene Glasträne in Staub zerfallen könnten. Berlin ist der östlichste Vorposten amerikanischer Macht. Die Freiheit der drei Millionen Berliner zu opfern, sie der Ulbrichtschen Tyrannei auszuliefern, das hieße, das Vertrauen von 800 Millionen Menschen in die Vertragstreue, die Freiheitsliebe und die Macht der Vereinigten Staaten zerstören. Berlin ist aber auch eine stete Verlegenheit für Amerika. Man weiß dort besser als in Bonn, daß sich aus

dem ewigen Provisorium, aus der Fixierung einer doch allen Beteiligten unerquicklichen Lage und einer gefährlichen Situation, aus der jederzeit der dritte Weltkrieg hervorgehen kann, eine unterträgliche Belastung der amerikanischen Weltpolitik ergibt. Mit der Drohung, Berlin das Wasser, das Gas, den Strom abzusperren, kann Chruschtschow immer von neuem Erpressungen ins Werk setzen. Jede An

irohung einer Blockade, jede vorübergehende Verschärfung der Grenzkontrolle, jede Stauung am Übergang von Helmstedt, jeder Zwischenfall an der Sektorengrenze beschwört eine akute Gefahr für den Frieden herauf. Und wenn man stets nur gerade die Erhaltung des Status quo durchsetzt, wenn man durch Monate und Jahre alle politische Energie lediglich zur Verhinderung eine Katastrophe in Berlin einsetzen muß, wird man in der übrigen Welt manövrierunfähig. Chruschtschow aber, der bisher zwar immer wieder nachgegeben hat, tut dies doch gewiß nicht nur aus Schwäche oder Vorsicht, sondern weil er sehr gut weiß, daß sich aus der Zitrone Berlin, wenn man sie nicht völlig ausdrückt, loch durch lange Zeit Saft gewinnen äßt. Wenn also Kennedy Bewegungsfreiheit gewinnen will — Spielraum für ene Politik der Stärke, die auf Kompromisse ausgeht und die offensichtlich seine Methode ist, dann muß :r versuchen, aus dem Provisorium

Berlin eine Definitivum — soweit es in der Politik Definitiva gibt —, aus der bloßen Waffenruhe einen auf zehn oder mehr Jahre befristeten Waffenstillstand zu machen und einen Teil der Last von den USA auf die UN oder die europäischen Gemeinschaften abzuwälzen.

Das will den Kleindeutschen, die einst das großdeutsch-bündische Mitteleuropa zerstört haben, um nachher einen preußisch-großdeutschen Einheitsstaat errichten zu wollen, nicht einleuchten. Das schwerste Hindernis für eine vernünftige Lösung des Problems Berlin und für eine größere Sicherheit der Viersektorenstadt sind die sentimentalen und ausgesprochen unpolitischen, aber auch unhistorischen Reichskomplexe, die in allen drei deutschen Parteien noch vorhanden sind, am mächtigsten in der FDP, am schwächsten wohl im bayrischen Sektor der Union. Hinter der Notwendigkeit, für Berlin eine neue Lösung zu finden, steckt ja mehr als eine augenblickliche Zwangslage. Sie ist vielmehr das Ergebnis der verfehlten Politik, die das deutsche Volk seit 1866 bejaht und getrieben hat. Sie ist das Resultat zweier verlorener Kriege, der leichtsinnig heraufbeschworenen Zerstörung der Donaumonarchie, der nationalsozialistischen Revolution und der Verschiebung der Grenzräume zwischen Ost- und Mitteleuropa. Nur in einem völlig neu konstruierten Mitteleuropa kann Berlin Sicherheit finden. Diese Lösung führt, wie gerade Kennedy zu wissen scheint und angedeutet hat, eher über die Befreiung Polens und die Preisgabe des Status quo von Berlin als über die Spielerei mit dem preußischen und 48er-Reichsgedanken. Es wird keine Reichshauptstadt Berlin mehr geben, aber es könnte eine Freie, der ganzen Welt gehörende und den Angelpunkt der Verträge bildende Stadt Groß-Berlin geben — wenn Bonn aus seinen Träumen rechtzeitig erwacht.

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