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Weicht der Volkstod zurck?

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Die jährliche Bevölkerungszunahme in Oesterreich betrug in der Zeit von 1869 bis zum eisten Weltkrieg rund ein Prozent. Hoher, bis zur Jahrhundertwende ständig steigender Geburtenüberschuß, Zuwanderung aus allen Teilen der Monarchie. Fortschritte auf allen Sektoren des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens sowie eine nahezu ein halbes Jahrhundert währende friedliche Entwicklung haben die Bevölkerungsgeschichte des österreichischen Kernlandes im ausgehenden 19. und bis in das erste Dezennium des 20. Jahrhunderts hinein gestaltet. Mit der Jahrhundertwende tritt Oesterreich in eine neue Phase der demographischen Entwicklung ein, Geburtenhäufigkeit und Geburtenüberschuß sinken. Das Jahr 1902 ist als Wendepunkt in der Geburtenentwicklung zu bezeichnen. Bis zu diesem Jahre waren die absoluten Geburtenzahlen bei leicht fallender relativer Häufigkeit im Steigen begriffen, nach 1902 wiesen auch die absoluten Zahlen eine fallende Tendenz auf, wodurch die rückläufige Entwicklung der Relativzahlen verschärft wurde.

Dieser Rückgang der Geburtenhäufigkeit ist zunächst durchaus als Anpassung der Gesellschaft an die Verminderung der Sterblichkeit grundlegend veränderte Lage, also als Aende-rung in der generativen Verhaltensweise der Bevölkerung zu werten. Die weitere Entwicklung Oesterreichs wird durch den ersten Weltkrieg mit allen seinen Folgen weitgehend bestimmt. Es sind nicht nur die Kriegsverluste (zirka 180.000 bis 190.000 Männer), die Mehrsterblichkeit der Zivilbevölkerung von rund 45.000 Personen und der durch den Krieg bewirkte Geburtenausfall, welcher von Herrn Professor Dr. Winkler1 mit 280.000 veranschlagt wurde, sondern auch der tiefgreifende Wandel in den Lebensbedingungen unseres Staates, welcher die weitere demographische Entwicklung beeinflußte. Bis zur Zerschlagung der Donaumonarchie war Oesterreich Kernland eines 50-Millionen-Reiches, und die historisch gewachsene Schicksalsgemeinschaft des Donauraumes bot gewaltige wirtschaftliche und kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten. Die Abschneidung der hochentwickelten gewerblichen Wirtschaft von seinen bisherigen inländischen Rohstoffquellen und Absatzmärkten führte zwangsläufig zu zahlreichen Störungen in der österreichischen Nachkriegswirtschaft.

Nach dem eisten Weltkrieg kam es zu Beginn Jer zwanziger fahre zu einer kurzfristigen Steigerung der Geburtenzahl — wie es nach Kriegen die Regel ist —, doch wurde das Vorkriegsniveau nicht mehr erreicht. Die bald wieder aufgenommene Abwärtsbewegung wurde durch die Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre noch verschärft und in den Jahren 1935 bis 1938 überschritt die Zahl der Gestorbenen jene der Geborenen. Die steigende Arbeitslosigkeit und die Verarmung des Mittelstandes begünstigten die Auswanderung; so sind zwischen 1920 und 1534 um 33.000 Personen mehr aus- als eingewandert. Die Okkupation Oesterreichs durch das Deutsche Reich und die daraufhin einsetzende nationalsozialistische Bevölkerungspolitik brachten einen radikalen Umschwung, der vorwiegend in dem Nachholen vieler, unter dem Druck der Wirtschaftskrise aufgeschobener Ehen und dem dadurch bedingten Ansteigen der Erstgeborenen wurzelte.

Der zweite Weltkrieg hat den durch den eisten Weltkrieg bewirkten Eingriff in die biologische und wirtschaftliche Substanz unseres Volkes noch vertieft. Die Zahl der Militärsterbefälle ist mit rund 247.000 zu veranschlagen; zählt man die 24.000 ums Leben gekommenen Zivilpersonen dazu, so belaufen sich die Blutopfer, die Oesterreich im zweiten Weltkrieg zu bringen hatte, auf 271.000 oder vier Prozent der Bevölkerung des Jahres 1939. Weitere 114.000 Oesterieicher mußten ihre Gesundheit opfern2 (Kriegsbeschädigte) 178.000 Personen wurde der Ernährer genommen (Hinterbliebene), wobei zu beachten ist. daß in dieser Zahl jene Fälle nicht inbegriffen sind, bei denen der Ernährer noch nominell vermißt ist.

Die stärksten Verluste erlitten die Geburtsjahrgänge 1913 bis 1923 Der Geburtsjahrgang 1920 erlitt einen Ausfall von 18 Prozent! Der durch den Männerausfall bewirkte Frauenüberschuß wird als soziales, wirtschaftliches und menschliches Problem noch lange Zeit nachwirken.

461.000 Tote, mehr als 280.000 Kriegsbeschädigte, tiefe Einkerbungen im Altersaufbau unseres Volkes, Männermangel in den biologisch wichtigen Altersgruppen und Tausende von Frauen der Möglichkeit beraubt, in der Gründung einer eigenen Familie Sinn und Inhalt ihres Lebens zu finden, das ist die volksbiologi-sebe Bilanz der zwei großen weltweiten Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts für unser Volk.

Wenn nun die Bevölkerungszahlen in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg jene der Vorkriegszeit überschritten, so ist dies darauf zurückzuführen, daß Hunderttausende von Flüchtlingen aus dem Ausland in Oesterreich Asyl gefunden haben. Dieser Flüchtlingszustrom hat auch die infolge der Verfolgung der Juden und politischen Gegner durch die Nationalsozialisten herbeigeführte passive Wanderungsbilanz, zu der auch das Abströmen von Oesterreichern in das Deutsche Reich beigetragen hat, in eine aktive Bilanz verwandelt.

Die nach Kriegsende einsetzende Rückführung der Kriegsgefangenen führte zur Wiedervereinigung zahlreicher Familien und zu einem Ansteigen der Zahl der Eheschließungen. Es dürften hierbei zwei Momente zusammengewirkt haben; einmal werden viele durch die Kriegsereignisse aufgeschobene Heiratspläne verwirklicht worden sein, also ein „Nachholen“ stattgefunden haben, ein andermal werden die besonderen Nachkriegsverhältnisse — Wohnungsmangel, Rationalisierung der Lebensmittel usw. — alleinstehende Männer zu einer Eheschließung rascher als unter normalen Verhältnissen bewogen haben, es sich also teilweise auch um eine „Vorwegnahme“ handeln.

Die Geburtenbewegung im Nachkriegsöster-reich erreichte im Jahre 1947 ihren GipfeF und betrug in diesem Jahre nahezu 130.000; die auf 1000 Einwohner berechnete Geburtenziffer be-Iief sich auf 18,6 (in Wien 13,9). Dieses hohe Niveau blieb freilich nicht erhalten und die Geburtenzahlen verliefen bis 1950 einschließlich stark rückläufig und blieben In den Jahren 1951 bis 1953 auf einer Höhe von etwas über 100.000 (dies entspricht einer Geburtenziffer von 14,8 pro 1000 Einwohner) konstant. Soweit aus den Ergebnissen zweier Jahre Schlüsse gezogen werden können, scheint das Jahr 1 9 5 4 einen Wendepunkt in der Entwicklung darzustellen, indem die Geburtenziffer in diesem Jahr auf 14,9 pro 1000 Einwohner und nach den vorläufigen Ergebnissen für das Jahr 1955 auf 15,4 angestiegen ist. Besonders bemerkenswert ist hierbei, daß die Erhöhung der Geburtenzahlen in Wien ihren Ausgangspunkt hatte, während sich die übrigen Bundesländer erst im Jahre 1955 dieser steigenden Tendenz angeschlossen haben.

Die Geburtenziffer für Wien im Jahre 195 5 betrug nach den vorläufigen Ergebnissen 7,5, für das übrige Oesterteich 17,8 pro 1000 Einwohner.

Von besonderem Interesse ist die Entwicklung der Kinderzahlen in den Familien. Durch die Aufgliederung der Lebendgeborenen nach den Eheschließungsjahrgängen der Eltern können nun die Entwicklungen der ehelichen Geburtenhäufigkeit durch die gesamte Ehedauer verfolgt und langfristige Veränderungen in der ehelichen Fruchtbarkeit identifiziert werden. Schwankungen in den jährlichen Geburtenzahlen, Wie sie im Verlaufe der letzten Jahrzehnte wiederholt aulgetreten sind, weiden durch diese „Längsschnittbetrachtung“ ihres ephemeren Charakters entkleidet und in die richtige Perspektive gesetzt. Die für Oesterreich seit dem Jahre 1951 vorliegenden Unterlagen sind in der folgenden Liebersicht dargestellt.

Eheschließunjs- Lebendgcborene auf 1000 ihejchliefiimsen nach jjbjganj cjner durchschnittlichen Ehedauer von . . . vollendeten Jahren

1951 181 277 177 1'8

1952 178 285 185

1953 185 291

1954 191

Die gleiche steigende Tendenz läßt sich auch für Wien und das übrige Oesterreich beobachten. Der im allgemeinen kontinuierliche Anstieg der Geburtenhäufigkeit dürfte vorwiegend auf die konsolidierten wirtschaftlichen Verhältnisse bei Fortdauer eines relativ hohen Beschäftigungsniveaus zurückzuführen sein, jedoch wird erst die weitere Verfolgung zeigen, ob es sich hierbei nur um eine Vorverlegung gewünschter Geburten unter dem Eindruck der gegenwärtigen Hochkonjunktur oder um eine echte Steigerung der ehelichen Fruchtbarkeit handeit.

Jede Untersuchung der bevölkerungspolitischen Lage muß schließlich in der Frage gipfeln, ob die gegenwärtige Geburtenzahl auf Grund der gegebenen Geburten- und Sterblichkeitsverhältnisse den Fortbestand des Volkes gewährleistet. Der Geburtenüberschuß betrug in Oesterreich im letzten Jahre zirka 20.000 oder 2,8 pro 1000 der Bevölkerung. Diese Zahlen geben jedoch keine befriedigende Antwort auf die oben aufgeworfene Frage, da sowohl die Zahl der Geborenen als auch der Gestorbenen vom Altersaufbau der Bevölkerung abhängig ist. Der Statistiker verwendet daher zur Beantwortung dieser Frage die von den Amerikanern Dublin und Lotka entwickelte „wahre Wachstumsziffer“, die den Gegebenheiten des Altersaufbaues Rechnung trägt. Diese Ziffer beträgt — 1,7 pro 1000 Einwohner und zeigt damit, daß bei Andauern der gegenwärtigen Fruchtbarkeits-und Sterblichkeitsverhältnisse der Bestand des österreichischen Volkes noch nicht gesichert ist! Diese „Verminderungsrate“ weist aber auch darauf hin, daß sich die Verhältnisse gegenüber den dreißiger Jahren bedeutend verbessert haben, betrug sie doch damals - 10.8 pro 1000 der Bevölkerung3!

Die vorangegangenen Ausführungen haben also gezeigt, daß die „wahre“ Bilanz der natürlichen Bevölkerungsbewegung immer noch negativ ist. Das relativ geringe Ausmaß und die geschilderte Umkehrtendenz lassen jedoch für die Zukunft eine Stabilisierung auf einer Höhe erhoffen, die den Bestand des österreichischen Volkes sichert.

1 Die Bevölkerungslage Oesterreichs, Wien 1931. ' Siehe „Statistische Nachrichten“, X. Jahrgang, N. F., 1955.

3 Winkler: Grundriß der Statistik, Wien 1947, Teil II, p. 122.

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