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Weltgeschichte — ein Weltgericht

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VIII. Ein Wahrheitssager tritt auf — 1953 Revision des Saloniki-Prozesses — Das Gesetz der Schuld Wann fällt die Archivsperre für 1903 bis 1914 in Belgrad?

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VIII. Ein Wahrheitssager tritt auf — 1953 Revision des Saloniki-Prozesses — Das Gesetz der Schuld Wann fällt die Archivsperre für 1903 bis 1914 in Belgrad?

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World Copyright 1954 by „Die Oesterreichische Furche"

Kaum ein Menschenalter lang lebte der nach dem ersten Weltkrieg erstandene Staat der Serben, Kroaten und Slowenen in seinen verschiedenen verfassungsrechtlichen Wandlungen vom Föderativ- zum zentralen Einheitsstaat. Glühende nationale Hoffnungen hatten ihn mit Begier erwartet. Doch die großserbische Idee versagte als staatenbildende Kraft, denn ihr fehlten die fundamentalen Bauelemente, der Sinn und der Wille für Ordnung und Recht. Das junge Staatswesen war umwittert von dem Geschehnis in Sarajewo.

Sie konnte nicht verstummen, die zermürbende Frage: Wer trug die Blutschuld? Der Prozeß von Saloniki hatte 1917 die Frage zum Teil, aber nicht befriedigend beantwortet. Er hatte das Treiben der „Schwarzen Hand" und ihrer Dirigenten dargetan, doch offenbar war dieser Prozeß mehr dem Verlangen der Regierung nach einem vorteilhaften Platz in den erwarteten Friedensverhandlungen als dem Verlangen nach restloser objektiver Wahrheit entsprungen gewesen. Der Bund „Vereinigung oder Tod" hatte sich ganz der Unterminierung der staatlichen Nachbarschaft Serbiens hingegeben und dafür den Kampf „mit allen Mitteln" begonnen. Gerade diese Einstellung der „Schwarzen Hand" hatte die serbische Regierung in dem Prozeß von Saloniki zu verheimlichen gesucht. In einer am 27. März 1917 an das in Saloniki versammelte Militärgericht gegebenen Weisung hatte Ministerpräsident Pasic die unmißverständliche Weisung gegeben, der Gerichtspräsident solle jene furchtbaren Bestimmungen in den Satzungen der Organisation für die Angelegenheiten und Leute jenseits der Grenze „soviel wie möglich entkräften"; es sei zu befürchten, daß die Aussagen der Angeklagten, sie seien „für die Verübung von Verbrechen außerhalb des Staates organisiert gewesen", uns schaden würden. Der Gerichtspräsident .hatte damals den Regierungschef beruhigt, die Verhandlungsieitung habe schon für das Notwendige gesorgt. In der Tat war es der Regierung Pasic gelungen, bei den Friedensverhandlungen in Paris im weißen Unschuldskleide gut zu präsentieren. Die Sieger hatten damals keine Zeit gehabt, den serbischen Partner auf Herz und Nieren zu prüfen.

Die Wahrheit ließ sich aber doch nicht dauernd verdunkeln. Es schreckte doch ein Gewissen auf und machte einen Wissenden gesprächig. Der einstige serbische Unterrichtsminister Ljuba Jovanovic brach 1924 sein Schweigen. In einer in der Belgrader Druckerei Radenkovic erschienenen Druckschrift „Krv Slovenska" „Slawisches Blut" erzählte er: Ende Mai oder Anfang Juni 1914, also wochenlang vor dem Attentat von Sarajewo, hätten Pasic und durch ihn seine Ministerkollegen von dem vorbereiteten Anschlag erfahren, aber die behördliche Anordnung, die aus Belgrad kommenden Verschwörer am Uebergang über die Drina zu verhindern, sei an dem Verhalten der eigenen serbischen Grenzbehörden, die mit der „Schwarzen Hand" konspirierten, gescheitert; Jovanovic schilderte dann, wie er die Nachricht von dem Attentat empfing: „Obwohl ich gewußt hatte, was sich dort vorbereitete, war mir doch, als ich den Hörer hielt, als ob mir jemand einen Schlag versetzt hätte. Und mich begannen schwere Sorgen zu quälen."

Die Aussage des alten Mannes zerstörte die friedliche Idylle, die bisher Pasic mit staunenswerter Geschicklichkeit um die Rolle des offiziellen Belgrad bei dem Fürstenmord von Sarajewo zu weben verstanden hatte. Der . Eindruck, daß eine Enthüllung geschehen war, wurde noch stärker, als Minister Tovanovic nach verschiedenen Versuchen, seine Tadler zu besänftigen, in einer Pressediskussion am 17. April 1925 das Geständnis wiederholte, die Regierung habe von der Vorbereitun’ des Attentats gewußt. Pasic hat es auf eine ernste Auseinandersetzung mit seinem Kotigen, dieser indiskreten Plaudertasche, nicht ankommen 1 Vgl. „Die Furche" Nrn. 25 bis 31.

lassen. Er hielt es für genügend, den alten Weggenossen aus der Radikalen Partei hinauszuwerfen.

Als dann der jugoslawische Staat verschwunden war, untergegangen in einem Meer von Blut und Tränen, dem entsetzlichen Gemetzel zwischen Kroaten und Serben mit seinen Hekatomben von Menschenopfern, da hatte die nachfolgende kommunistische Regierung ihr vergnügtes Interesse daran, um den Menschen in Serbien das bisherige politische Regime bis aufs Letzte zu verekeln. Und sie nützte diese Gelegenheit gut. Sie brauchte nur die Wahrheit über das verwichene System herauszuholen. Sie war ganz bei der Sache, als es im Juni 1953 galt, mit einer Revision des Saloniki-Prozesses von 1917 die finsteren Stellen der serbischen Geschichte in grelles Rampenlicht zu rücken. „Im Interesse der Menschlichkeit, der Rechtsprechung und des Rechtes" unterrichtete man nun die Oeffentlichkeit über die Mängel des Verfahrens von Saloniki, in dem die Merkmale eines unabhängigen Richteramtes fehlten. Es wurde dafür gesorgt, daß Mitbeteiligte und Augenzeugen über das Treiben der „Schwarzen Hand" und ihre Machenschaften gegen die Türkei und Oesterreich- Ungarn berichteten. Im Mittelpunkt des Revisionsprozesses standen, sozusagen aus den Gräbern geholt, die Führergestalten des Bundes „Vereinigung oder Tod", Dragotin Dimitri- jevic, der vor 36 Jahren in Saloniki erschossen worden war — ob der optischen Wirkung für das Ausland: am Jahrestag des Verbrechens von Sarajewo.

Die zweistündige Rede des für den Toten bestellten Anwaltes Dr. Prvoslav Vasil- j e v i c am neunten Tage des Revisionsverfahrens in der Verhandlung vom 12. Juli 1953, veröffentlicht am nächsten Tag in der Belgrader „Politika", widmete einen breiten Raum der „Crna Ruka". Dieses Plädoyer eines serbischen Juristen, der sich Mühe gab, in die Tiefe der hereinspielenden verwickelten Problematik, auch der Schuldfrage, zu dringen, sprach Erkenntnisse aus, die einer unbefangenen Geschichtsschreibung fortan nicht mehr entgehen können.

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