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„Wem die Stunde schlägt“

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Radio Wien brachte vor kurzem in seinem Nachrichtendienst die Mitteilung vom Wiener Katholikentag und seinem Motto: „Ihr alle aber seid Brüder!“

Radio Wien gehört heute zu jenen Stationen, die in Mähren, in Böhmen, in der Slowakei, in Ungarn, ja in Polen, und via Graz in Kroatien und Slowenien weit gehört werden. Das gleiche gilt von den Televisionssendungen, die natürlich nicht in derartigem Umkreis empfangen werden können, aber dort, wo es gelingt, wie in der Slowakei und Südmähren, von der Bevölkerung gegenüber den einheimischen Fernsehsendungen so bevorzugt werden, daß in der tschechischen Presse schon Stimmen dagegen laut, wurden.

Diese Beliebtheit des Wiener Senders hat viele Ursachen: zunächst rein technische. Er wird nicht gestört, sondern ist gut zu hören. Radio Vatikan, das zu hören gewiß unendlich wichtig wäre, wurde bis vor kurzem infolge seiner schwachen Welle kaum gehört. Die neue Wellenlänge ist zwar besser zu hören.(wenn sie nicht gestört wird), aber Radio Vatikan sendet nicht unterbrochen wie Radio Wien, und wenn, dann meist kirchliche Nächrichten. Radio „Free Europe“ in München wird meist gestört, dazu kommt noch, daß dieser Sender an Ansehen viel verloren hat, denn nur zu oft haben sich seine Mitteilungen als unstichhaltig erwiesen. Er ist ja schließlich auch ein reiner Propagandasender.

Radio Wien aber ist kein Propagandasender, das wissen die Menschen, die zwischen Rußland und dem freien Westen in einem seltsamen -„Zwischenreich“ leben.

Die Völker in diesem „Zwischenreich“ wissen, daß Oesterreich nichts von ihnen will, daß sie sich vor Oesterreich nicht fürchten müssen, daß Oesterreich keine militärischen Ambitionen hat, daß für dieses Oesterreich die Völker des „Zwischenreiches“ nicht Schachfiguren sind. Oesterreich,' von dem die alten Leute noch heute mit einem Glänzen in den Augen sprechen, hat heute ein neues und großes Ansehen bei den Völkern des „Zwischenreiches“ gewonnen. Der Wunsch aller dieser Völker, der Polen, Tschechen, Madjaren, Slowaken, Kroaten, Slowenen, Rumänen usw. geht heute dahin, „österreichisch“ zu werden, das heißt: in einem eigenen Staat zu leben, der ebenso unabhängig und neutral wie der österreichische ist. Spontan zeigte sich dies zum Beispiel in der ungarischen Revolution von 1956, als dieser Wunsch von Ministerpräsident Nagy ausgesprochen wurde.

Rußland, das - nicht zum reinen Vergnügen der westlichen Mächte — 1955 plötzlich die Neutralität Oesterreichs wünschte, hatte dies mit einer ganz bestimmten Absicht getan: es hoffte, daß sich der Neutralität Oesterreichs andere Staaten anschließen würden — insbesondere Deutschland (Finnland hat sie ja bereits erklärt) — und sich dadurch den Satellitenstaaten, die wie ein Festungsgürtel Rußland umgaben und schützen, ein weiteres Festungsvorfeld durch einen Kranz neutraler Staaten zugesellen würde. Oesterreichs Ansehen und Strahlungskraft im Osten bewirkten es aber, daß sich die Bevölkerung der Satellitenstaaten heute nach diesem „österreichischen“ Zustand sehnt, wenn sie nicht, wie in Slowenien, starke „Heim-ins-(Oester)Reich“-Gelüste hat, die leider nur immer wieder durch das unkluge Verhalten Kärntner Deutschnationaler (oder wie sie heute heißen mögen) gestört werden.

Aber Oesterreichs Ansehen hat noch aus einem anderen Grund in dem „Zwischenreich“ einen guten Klang: Oesterreich hat noch eine Sprache, die für viele Menschen hinter dem Eisernen Vorhang verständlich ist. Leider leben sich ja die Völker des freien Westens und die Völker hinter dem Eisernen Vorhang immer mehr auseinander. Das ist begreiflich. Die vielen Jahre, die die Menschen des „Zwischenreiches“ schon unter den neuen Lebensformen ausharren müssen, sind auch auf die antikommunistischen Elemente nicht ohne Einfluß geblieben. Auch diese werden nie mehr die Prägung dieser Jahre verleugnen können. Manche Westeuropäer würden staunen, wie sich zum Beispiel, die Umgangsformen in diesen Ländern in diesen Jahren geändert haben. Am stärksten zeigt sich das vielleicht in Ungarn, dem einstmals klassischen Land feudaler Lebensformen. Die Jugend dieses Landes kennt sie kaum mehr; und mancher Mensch des freien Westens würde das Auftreten eines Angehörigen des „Zwischenreiches“ als „proletarisch“ bezeichnen, selbst dann, wenn er wüßte, daß sein Gegenüber ein Opfer des Kommunismus ist. Aber auch die Sprachen der Völker des „Zwischenreiches“ ändern sich, und das Tschechisch, das Ungarisch, das aus den Sendern des freien Westens tönt, ist sehr oft schon recht verschieden von dem Tschechisch, dem Ungarisch, das zu Hause gesprochen wird.

Oft haben wir, die Völker des „Zwischenreiches“, die Angst, daß einmal der Tag kommt, da der Westen uns und wir den Westen nicht mehr verstehen werden. Nicht nur, weil der freie Westen immer weniger unsere Sprachen kennen wird, sondern vor allem, weil der freie Westen sich immer weniger um uns zu kümmern scheint. Je weniger er sich um unsere Vergangenheit kümmert, um so weniger wird er sich um unsere Zukunft kümmern. Eines Tages wird der freie Westen nichts mehr von uns wissen, von unseren Sprachen, von unserer Kultur, von unserer Geschichte, von unserer Mentalität. Eines Tages wird Europa durch dieses sein Verhalten — das ist unsere Furcht — von sich aus einen Eisernen Vorhang aufgerichtet haben, so daß nicht mehr w i r hinter dem Eisernen Vorhang leben, sondern Europa, das freie Europa. Und dieser Vorhang wird dann vielleicht stärker sein als jener, den die Russen 1948 errichteten.

Unsere einzige Hoffnung, daß dies nicht gelingen wird, ist Wien. Denn Wien, das für die Völker des „Zwischenreiches“ noch immer so etwas wie eine heimliche Hauptstadt ist, ihre ,URBS“, dieses Wien, so hoffen wir, wird uns immer verstehen. Es wird nicht nur unsere Sprachen sprechen, es wird vor allem von unserer Mentalität immer etwas wissen.

Ein Beweis dafür ist die Parole des Wiener Katholikentages: „Ihr alle aber seid Brüder.“ Gewiß, dieser Katholikentag gilt ja nur für den Bereich der Erzdiözese. Aber diese grenzt doch an die böhmischen Länder, an die Slowakei, somit an den Osten. Der Aufruf zur Brüderlichkeit ist eine Parole, die zutiefst das Unterbewußtsein der Völker des Ostens ergreift. Denn das Sehen, das Denken der Völker des Ostens, vor allem aber auch der Völker des „Zwischenreiches“, geht danach, unter Brüdern zu leben, in einem brüderlichen Verband zu stehen. Tausende und aber Tausende von Jahren der Gewaltherrschaften, der Tyrannen, der „Herren“ sind über uns hinweggerollt und rollen über uns hinweg, haben uns gequält, haben uns erniedrigt, haben uns entmachtet. „Unter Brüdern“ gibt es keine Gewaltherrschaft, denn Brüder sind immer gleichberechtigt. Wir Tschechen haben dafür einen besonderen Ausdruck. Wir sagen „Ja jsem pan a ty jsi pan“, ich bin Herr und du bist Herr.

Palacky hat einmal gesagt — und es war das ein Wort, das er wie so oft in Stellvertretung für die Völker des heutigen „Zwischenreiches“ sprach: „Unsere Augen richten sich nach Wien, denn von dort kommt Heil und Sicherheit.“

Wieder schlägt eine der großen Stunden Wiens — ihm vielleicht unbewußt —, da es seine Rolle als „URBS“ zu spielen hat, da es die Botschaft der Brüderlichkeit verkündet, die uns Menschen des „Zwischenreiches“ zutiefst ergreift und uns die Hoffnung gibt, daß wir nicht zu den Abgeschriebenen gehören, sondern daß irgendwo in der Welt noch jemand unsere Sprache spricht, unsere Hoffnung versteht, unsere Sehnsüchte kennt.

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