6683827-1962_06_01.jpg
Digital In Arbeit

„...wenn es nur will“

Werbung
Werbung
Werbung

Der bevorstehende Besuch des Bundeskanzlers Dr. Gorbach in der Schweiz, dem sich Staatsbesuche in Washington und Moskau anschließen werden, wird hell beleuchtet in seiner Bedeutung für Österreich heute durch den Bericht der Parlamentskorrespondenz vom 31. Jänner über die jüngste außenpolitische Debatte. Es ist merkwürdig und stimmt nachdenklich: die Abwertung des Parlaments in der Öffentlichen Meinung hängt auch damit zusammen, daß aus Mangel an Platz und Interesse und aus einigen

anderen Umständen selbst wichtigste, lebenswichtige Auseinandersetzungen im Hohen Haus in unserer Presse nur in Fragmenten und Trümmern die österreichische Öffentlichkeit' erreichen.

Um es kurz anzusagen: Österreichs Selbstbehauptung in den bevorstehenden langjährigen Kämpfen um die Bildung eines wirklich freien, föderativen Europa wird in entscheidenden Momenten davon abhängen, ob wir uns selbst behaupten wollen. Das ist keine Binsenweisheit, sondern eine sehr heikle, oft vernebelte Tatsache. Kanzler Gorbachs Wort vom Semmering: „Neutral sein wollen heißt stark sein müssen“, verdient auch folgende Interpretation: stark sein im Selbstvertrauen und nüchtern im Blick auf harte Tatsachen.

Eben von diesen wurde in der Parlamentsdebatte ausführlich gesprochen: vor allem von den beiden Hauptrednern der beiden Regierungsparteien, Toncic und Czernetz.

Der Abgeordnete Toncic sprach gleich eingangs über einige sehr ungünstige, abfällige Äußerungen prominenter Politiker Westeuropas, über die Schweizer und über die österreichische Neutralität, und bemerkte dazu: „Seltsam, daß gewisse Meinungen westlicher Politiker mit bestimmten Tendenzen des Ostens durchaus übereinstimmen. Mit dieser Negierung der Neutralität als Rechtsinstrument und ihrer Überleitung in fluktuierende politische Situationen ist weder der Schweiz noch uns ein Dienst geleistet

worden.“ Toncic erörterte hier die bekannte Äußerung Hallsteins, „die Möglichkeit, daß die Menschheit in Zukunft von Kriegen' befreit sein werde, würde dazu berechtigen, daß die neutralen Staaten schon heute ihre Neutralität aufgeben. Auf diese Möglichkeit kann man sich aber unter gar keinen Umständen verlassen“.

Im Gegensatz zu Hallstein erklärte Erhard: „Neutral zu sein, ist weder eine Schuld noch eine Schande; die Neutralität darf deshalb auch nicht bestraft werden.“

Hier wird der Achsenpunkt erreicht: einige prominente Sprecher der EWG denunzieren die Neutralität der Schweiz, Österreichs und Schwedens schlankweg und fordern von diesen Staaten Buße: Aufgabe der Neutralität oder eine solche Erweichung, daß ihr Begriff, Rechtsinhalt und ihre politische Bedeutung im Ernstfall hinfällig werden. Dieser Preis für eine Assoziierung zur EWG ist zu hoch!

Nach dem Abgeordneten Toncic ergriff Czernetz das Wort und sagte unter anderem: „Man klassifiziert die europäischen Neutralen als .gute' und .schlechte', und unterscheidet zwischen .braven' und .schlimmen' Neutralen. Glaubt man aber, uns Österreichern zu helfen, wenn man uns mildtätig als .Zwangsneutrale' erklärt? Die Neutralitätserklärung Österreichs war der Preis für die Freiheit und den Staatsvertrag. Aber wir haben ihn freiwillig und gern bezahlt, und niemand hat uns dazu gezwungen.

Wenn man nun den Schweden und den Schweizern sagt, ihre Neutralität sei längst hinfällig geworden, sie hätten kein Recht, neutral zu sein, und sie zum Beitritt in die NATO und damit in die EWG auffordert, dann haben wir Österreicher allen dund,

darüber große Sorgen zu empfinden. Wenn man auf der anderen Seite uns Österreichern gegenüber erklärt, wir sollten uns um die anderen nicht kümmern und die gute mildtätige Stimmung für Österreich ausnützen, dann ist diese Zumutung beschämend und beleidigend. Sie ist nicht im Geiste Europas und dient nicht einer vertrauensvollen Einigung Europas.“

Schauen wir uns diesen Firmenschild Europa doch etwas näher anl Was ist das für ein Europa, das so dringend und drängend unseren Anschluß fordert? Schlicht kann jedermann auch in Österreich aus den Schlagzeilen der Tagespresse bereits dies erkennen: die drei wirtschaftlich und politisch tonangebenden Staaten des EWG-Europa befinden sich in schweren inneren Krisen. Sollte zwischen dieser ihrer schwierigen inneren Situation und dem Bedrängen, Verhöhnen und Diskriminieren, den taktlosen und gereizten Bemerkungen an die Adresse der Neutralen ein Zusammenhang bestehen?

Italien: Das Tauziehen und das Ringen um eine „Öffnung nach links“, um die „apertura a sinistra“, bedeutet auf lange Sicht das größte Wagnis, das Italien seit dem Absprung von Hitler unternommen hat. Wenn es gelingt, dann wird in Italien übermorgen sehr vieles sehr anders aussehen als heute und morgen. Nicht zuletzt möglicherweise in bezug auf die italienische Südtirolpolitik, die verschlampt und so zu einer schwärenden Wunde für Italien. Südtirol und Österreich gemacht wurde. Wir sagen präzis: Übermorgen. Das ist ein langer, schwieriger Weg, auf dem schwere Belastungen von fünfzehn und mehr Jahren bewältigt, auf dem nicht zuletzt der Faschismus und seine Erbmasse überwunden werden müssen. Das ist ja die wahre Situation in diesem Lande mit der größten kommunistischen Partei Europas. Wenn sich die Demo-cristiani nicht innerlich freikämpfen, wenn es nicht zu einer demokratischen konstruktiven Regierung kommen kann, dann werden Rechtsextremisten und Linksextremisten ihr Rennen machen. Mit Hilfe von Trabanten und Mitspielern in anderen Lagern, die treuherzig gar nicht eben dies meinen...

Frankreich: Dieses Land steht nach 23 Jahren Krieg — welche Nation der Welt würde eine solche Zerreißprobe bestehen? — am Rande eines Bürgerkriegs und mitten in der schwersten Krise seit Menschengedenken. Wenn der Ausgleich in Algerien nicht gelingt, sind die Folgen unabsehbar.

Die Bundesrepublik Deutschland, unser starker Nachbar, ist in der letzten, endgültig letzten Regierung Adenauer im Inneren und Äußeren nicht kleinen Belastungsproben ausgesetzt: Berlin und die „Mauer“, die DDR gegenüber, dazu die kaum verhüllten Gegensätze gerade hinsichtlich der künftigen Außenpolitik zwischen FDP- und CDU-Kreisen, Lohnkämpfe und Streikdrohungen sagen genug. Für Österreich ist wichtig die Feststellung und Erfahrung, daß gerade hinsichtlich der künftigen Gestaltung der EWG und der EWG-Politik eefite Gegensätze zwischen deutschen EWG-Bürokraten in Brüssel um Hallstein, die nur ein Einscheren auf ihre Jin-b..hn kennen wollen, und freiheitlicher und im Kern europäischer denkenden Wirtschaftspolitikern und Wirtschaftern bestehen.

Um keinerlei Mißdeutung aufkommen zu lasse i: Österreich kann nicht mit Schadenfreude oder Scheelsucht auf Jie großen Schwierigkeiten in Italien, Frankreich, der Bundesrepublik

blicken: die echte innere und äußere Stabilisierung der europäischen und weltpolitischen Verhältnisse dieser drei Staaten geht auch uns an. Im gleichen Atemzug und Blick müssen wir aber festhalten: wir dürfen uns nicht zu einem Büttel, Sündenbock oder „armen Verwandten“, zu einem halbschuldigen, minderschuldigen Nach-Europäer, Nachzügler und Mitläufer, der gerade noch geduldet wird, degradieren und denunzieren lassen: Uns nicht, in Österreich, und auch nicht unseren Nachbar, die Schweiz, und auch nicht den dritten im Bunde, Schweden.

Der Staatsbesuch des österreichischen Kanzlers in der Schweiz gilt in diesem kritischen Moment also der Begegnung und Aussprache mit einem Nachbar und Partner, der sich bei aller Besonderheit seiner geschichtlichen Entwicklung und teilweise andersartigen Konstruktion seiner Neutralität gerade heute und morgen in einer sehr ähnlichen Lage befindet. Bestimmte Neu-Europäer in Brüssel wollen uns allen, den Schweizern, den Schweden und den Österreichern, die Neutralität wegoperieren: bestenfalls wie einen Blinddarm, den wir im befriedeten, unifizierten Neu-Europa, in und um das es keine Kriege mehr geben wird, wie Hallstein meint, nicht nötig haben. Schlechternfalls — und etliche Reden im Westen haben dies

sehr deutlich ausgesprochen — wie eine Beule, ein Furunkel, das den Blutkreislauf der Großraumwirtschaft im NATO-EWG-Block behindert.

Wir, in Österreich, in der Schweiz, und in Schweden, wir brauchen keine Operationen, sondern Konstruktionen: konstruktive Vorschläge und Auseinandersetzungen, um beides möglich zu machen: die Erhaltung unserer Neutralität, und die wirtschaftliche Zusammenarbeit. In einem wirklich freiheitlichen und föderativen Europa.

Bis dahin ist es noch weit. Einige Schwierigkeiten auf diesem Wege zu erkunden und aller Welt, es sei auch wer es sei, mutig und offen den Selbstbehauptungswillen Österreichs zu erklären — darin sehen wir wichtigste Funktionen der bevorstehenden Staatsbesuche Dr. Gorbachs. Die erste Station, Bern, kann uns bereits willkommenen Einblick in den, festen, unerbittlichen Selbstbehauptungswillen unseres „kleinsten“ Nachbars, der Schweiz, bieten; des Schweizer Volkes, der Schweizer Regierung, des Schweizer föderativen Staatswesens: die, in der Fülle ihrer inneren Gegensätze, als eine Nation in vier Sprachgemeinschaften, in diesem Sinne ein gutes Vorbild darstellen für jeden, der Europa und sich selbst frei sehen und frei mitgestalten möchte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung