6697833-1963_15_06.jpg
Digital In Arbeit

Wenn Nenni kommt

Werbung
Werbung
Werbung

Die Zukunft ruht zwar in Schöße des Zeus, doch ist mit genügender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die neue italienische Regierung nach den Wahlen im kommenden Frühling zusammen mit den Sozialisten Pietro Nennis gebildet werden wird. Die christlich-demokratische Führung wird sicherlich nicht den Ansichten und Wünschen der Linkssozialisten samt und sonders Rechnung tragen, doch ist klar, daß die Präsenz Nennis in der Regierung ihren Einfluß auf die künftige Europapolitik Italiens haben wird.

Das bedeutet die definitive Ablehnung der Vorstellungen de Gaulles von einem „Europa der Vaterländer“ und des Bemühens Italiens, in einer gemeinsamen Aktion mit den linksgerichteten Gruppen in den übrigen EWG-Ländern ein „Europa democratica“ auf den Weg zu bringen. In diesem erscheint Italien die aktive politische Teilnahme Englands essentiell, denn nur die Anwesenheit Englands bietet ihm Gewähr dafür, daß die vorwiegend konservativen Kräfte in der EWG von ihrem Bestreben abgehalten werden, die anderen zu bevormunden und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen.

Es hat hier und dort überrascht, mit welchem Schwung, mit welcher Energie sich Italien für den Beitritt Englands zur EWG eingesetzt hat und mit welchem Eifer es sich für die Fortführung der Verhandlungen verwendet. Die Heftigkeit seiner Reaktionen gegen de Gaulle und für die Partnerschaft MacMillans ist nicht verständlich, wenn man die EWG nur unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftsgemeinschaft betrachtet. In diesem Fall hätte sie ihre Funktion noch geraume Zeit wie bisher ohne besondere Erschütterungen ausüben können. Tatsächlich hat es auch Italien vor der großen innerpolitischen Wende, wie sie die Einbeziehung der Linkssozialisten in die Regierungskoalition bedeutet, mit der politischen Integration nicht so eilig gehabt. Jetzt aber liegen den Sozialisten, Republikanern, Sozialdemokraten und einem großen Teil der DC die Geschicke der „Linksöffnung“ viel zu sehr am Herzen, als daß sie den historischen Versuch der Isolierung des Kommunismus durch ihre linkszentritische Politik in einem wesentlich von der Achse Bonn-Paris bestimmten Europa verkümmern lassen würden. Ohne Schatten eines Zweifels glauben sie an keine Koexistenzmöglichkeit zwischen der „Achse“ und der linksgeöffneten Politik in Italien. Das erklärt, warum die italienische Außenpolitik in letzter Zeit so ungewöhnlich lebendig geworden ist und die regierungsfreundliche Turiner „Stampa“ mit Überzeugung die Worte hinsetzt: „Nach den USA und England trägt Italien heute die größte Verantwortung.“ Für Europa nämlich.

Außenminister Attilio Piccioni hat vor dem zuständigen Parlamentsausschuß erklärt, daß Italien die Brüsseler Verhandlungen als unterbrochen, aber nicht abgeschlossen betrachtet und sein Ziel weiterhin ein wirtschaftlich und politisch integriertes Europa mit England als wirklichem und operierendem Mitglied bleibt. Und er warnte davor, die durch de Gaulles „Nein“ gegen England entstände Krise in der EWG zu unterschätzen. Was den deutschfranzösischen Pakt anbelangt, so hat Italien einigen Vertragspunkten gegenüber seine starken Reserven. Was kann aber unternommen werden, um die Einheit Europas, mit England und niemals ohne, politisch und wirtschaftlich zu stärken? Sicherlich nicht durch die Formulierung einer neuen Politik, was ein verhängnisvoller Irrtum wäre, aber auch keine Maßnahme, die den Beitritt Englands zur EWG später noch schwieriger gestalten würde. Gemeinsam mit der deutschen Bundesrepublik und den Benelux-Ländern, im engen Kontakt mit London, werden derzeit alle Möglichkeiten in dieser Richtung studiert.

Krücke und „Holzbein“

Um welche Möglichkeiten handelt es sich aber? Soweit man bisher sehen konnte um die Valorisierung und Po-tentialisierung aller internationalen Organismen, in denen England und die EWG-Länder gemeinsam vertreten sind wie im Atlantik-Rat und in der Westeuropäischen Union. Dabei betrachtet man diese tatsächlich nur als Krücken, die man im Augenblick der „Genesung“ weit von sich schleudern kann, und nicht als Holzbeine, mit denen man zeitlebens forthumpeln möchte. Die enge Solidarität mit Amerika, die Forcierung der Schaffung einer NATO-eigenen Atomstreitmacht, für die Italien zu beträchtlichen finanziellen Opfern bereit ist, soll die Bedeutung des französischen Beitrags für die kontinentale Verteidigung vermindern und zugleich de Gaulle den Vorwand nehmen, daß Europas Sicherheit nur durch seine „nationale“ Atombombe garantiert wird. Um dem General zu zeigen, daß den anderen EWG-Mitgliedern billig ist, was ihm recht erschien, wird sich Italien bis zum Beitritt Englands allen anderen Assoziierungsansuchen widersetzen, vor allem jenen der ehemals französischen Kolonialgebiete, bezüglich der de Gaulle gewisse Garantien übernommen hat. Sollte er als Patron des Beitritts Spaniens auftreten wollen, so käme als weitere Bedingung die Demokratisierung des dortigen Regimes hinzu. Die wirtschaftliche Annäherung an England und an die USA soll durch eine Verminderung der Außenzölle der EWG erreicht werden. Nicht zur offiziellen Regierungspolitik gehört die Hoffnung, daß mit dem Ausscheiden Adenauers aus der aktiven Politik auch die Chancen für die Milderung der Intransigenz de Gaulles steigen: eine Hoffnung, die etwa von dem christlich-demokratischen Minister für den italienischen Süden, Giulio Pastore, öffentlich ausgesprochen wurde. Auch hat man gewisse Erwartungen in die jüngere Generation der deutschen Bundestagsmitglieder gesetzt, daß sie die Klauseln des Paktes mit Frankreich noch revidieren.

Ein „demokratisches Europa“

Mit dem zu erwartenden Eintritt der Linkssozialisten in die Regierung wird die italienische Außenpolitik ihr Ziel mit noch größerer Entschiedenheit ansteuern. Die Wochenzeitschrift der radikalen Partei „II Mondo“ hat kürzlich eine mehrtägige Diskussion einflußreicher Publizisten und Politiker der Linksparteien über die Wege zur Einheit Europas veranstaltet. Die Radikaien haben zwar selbst keinen einzigen Vertreter im Parlament, da es sich jedoch um eine Partei von Intellektuellen handelt, besitzen sie dennoch erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung. Der Budgetminister La Malfa, selbst Republikaner, hat als Gastredner eine „demokratische Widerstandslinie“ gezogen und das aus der Resistance geborene moderne Italien den Ländern der „Achse Bonn-Paris“ gegenübergestellt; Riccardo Lombardo, Linkssozialist und vermutlicher Nachfolger Nennis, hat dem „Europa der Vaterländer“ de Gaulles das „demokratische Europa“ entgegengehalten; der Linkssozialist Vittoreiii wünscht ein taktisches Zusammengehen Italiens mit den europäischen Linksparteien und schlägt die „Hibernation“ der EWG vor, die Rückgängigmachung der jüngsten Zollerleichterungen, und der linkssozialistische Gewerkschaftsboß Santi rügte die Kommunisten, weil sie sich über die Krise in der EWG freuen, als handle es sich um eine Krise der Beziehungen zwischen bürgerlichen Staaten und nicht um den „Erfolg der reaktionärsten und nationalistischesten Kräfte des Westens“. Das starke Kolorit dieser Meinungen wird zwar in der künftigen Koalitionsregierung erheblich verdünnt werden, aber eine gewisse Einfärbung der Außenpolitik Italiens nach den Wahlen ist dennoch zu erwarten.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung